Wie Ablehnungskulturen Rechtsextremismus befördern
Was haben Erfahrungen in der Arbeitswelt und Leistungsversprechen mit der Zustimmung zu rechtsextremen Parteien zu tun? Die Erforschung der Kultur in der Arbeitswelt gibt wichtige Hinweise zur Analyse aktueller politischer Entwicklungen.
Regelmäßig folgen auf die Erfolge rechts-autoritärer Parteien bei Wahlen Einlassungen von Politiker*innen und Kommentare in Medien, um die Ursachen hierfür zu ergründen. Demnach seien die rechten Erfolge eine Reaktion auf ein Übermaß ungewollter Zuwanderung und scheiternder Integration. Die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen sowie die Wahlen zum EU-Parlament waren keine Ausnahmen. Einmal mehr folgten viele Erklärungen den Linien, die von der extremen Rechten selbst vorgegeben werden. Schon Ende der 1980er Jahre hatte der französische Philosoph und Sozialwissenschaftler Etienne Balibar diese rhetorische Operation als „Meta-Rassismus“ oder „Rassismus zweiter Ordnung“ bezeichnet: Es handelt sich um eine Art rassistische Erklärung des Rassismus, in der behauptet wird, letzterer seine eine natürliche Reaktion einheimischer Bevölkerungen auf „Überfremdung“ und „kulturelle Durchmischung“ (Balibar 2018). Wo Politiker*innen der „Mitte“ auf die Wahlerfolge von AfD, FPÖ, Fratelli d’Italia, Rassemblement National und Co. reagieren, indem sie härtere Migrationsabwehr und mehr Abschiebungen versprechen, folgen sie exakt diesem Muster.
Hinzu kommt, dass der behauptete Zusammenhang von zunehmender Migration und Zulauf für die extreme Rechte empirisch schlicht nicht feststellbar ist. Besonders gute Wahlergebnisse erzielt die AfD dort, wo die Bevölkerung eher homogen und der Anteil von „Ausländer:innen“ gering ist (Angeli/Otteni 2022). Schließlich ist es gar nicht lange her, dass eine gegenteilige Reaktion sichtbar wurde. Als im Sommer 2015 hunderttausende Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend nach Europa kamen, reagierte die Öffentlichkeit darauf – zumindest in Teilen – mit einer bemerkenswerten Welle der Solidarität und praktischer Hilfe. Sie eignete sich einen Begriff an, der schnell zum geflügelten Wort wurde: Die „Willkommenskultur“ (Hamann/Karakayali 2016).
Der „Sommer der Migration“ war aus Perspektive der kritischen Migrations- und Rassismusforschung, „keine Flüchtlingskrise, sondern eine historische und strukturelle Niederlage des europäischen Grenzregimes“ (Hess et al. 2016: 7). Diese Niederlage wurde dem Grenzregime von zwei einander ergänzenden sozialen Kräften zugefügt: Von den Migrierenden selbst, die eigenständig und massenhaft Meer, Zäune und Lagerposten überwanden; und von der organisierten Solidarität und Unterstützung in Europa. Die Willkommenskultur erschien so als Bruch mit den etablierten diskriminierenden Praxen und rassistischen Deutungsmustern.
Eine neue Konjunktur für autoritär-populistische Parteien
Doch spätestens mit der „Silvesternacht von Köln“ war die Willkommenskultur sichtbar selbst in die Krise geraten, setzten Medien und Politik den Begriff der „Flüchtlingskrise“ an ihre Stelle und jene, die sich weiterhin solidarisch zu den Flüchtenden verhielten, unter Legitimationsdruck (Bojadžijev 2018; Dietze 2016; Jäger/Wamper 2017). Dies war der Umschwung von der „Willkommenskultur“ hin zu einer „Ablehnungskultur“, der ab 2016 wahrnehmbar wurde (Bojadžijev/Opratko 2016). Es wäre zu einfach und daher falsch, den Umschwung bloß als Rückkehr eines rassistischen Normalbetriebs zu deuten. Denn er fand in einer veränderten sozialen und kulturellen Lage statt, die neue Probleme und Widersprüche aufbrachte – kurz, in einer neuen „Konjunktur“, die autoritär-populistische Parteien für sich zu nutzen wussten.
Der Frage, unter welchen Bedingungen sich dieser „conjunctural shift“ (Grossberg 2019) vollzog und welche Faktoren für Ablehnungskulturen bedeutsam sind, widmete sich ein internationales, von der Volkswagenstiftung gefördertes Forschungsprojekt von 2019 bis 2022 in fünf Ländern, die entlang der im „Sommer der Migration“ etablierten Fluchtrouten liegen: Serbien, Kroatien, Österreich, Deutschland und Schweden. Unter dem Titel „Cultures of Rejection“ – Ablehnungskulturen“ – erforschten wir die sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen autoritär-rechte Parteien in Europa erfolgreich sind.
Ablehnungskulturen sind im Alltag verankerte Haltungen und Praxen, die primär negativ konstituiert werden. Was genau in welchem Zusammenhang abgelehnt wird, ist dabei nicht fixiert: Migration, politische und kulturelle Eliten und etablierte Medien gehören häufig zu den Objekten der Ablehnung, in der Corona-Krise zeigte sich aber, dass rasch neue hinzukommen können (Opratko 2022; Opratko et al. 2021).
Bruch in der moralischen Ökonomie
In unserer empirischen Forschung, die Interviewstudien und ethnografische Forschung kombinierte, erwiesen sich Ablehnungskulturen als gesellschaftlich weit verbreitet. Das war auch an Orten der Fall, an denen eigene Migrationserfahrungen Teil der Alltagsnormalität sind. Das zeigte sich deutlich in Teilstudien, die wir bei Logistikunternehmen und in Einzelhandelsbetrieben in Deutschland und Österreich durchführten. Unter den Interviewten stießen wir überraschend häufig auf Beschäftigte, die selbst eingewandert waren und sich zugleich in harter Ablehnung gegenüber Geflüchteten positionierten. Im Kontext der Erfahrungen in der Arbeitswelt erwies sich dabei als besonders relevant, dass die Beschäftigten subjektiv einen Bruch in der moralischen Ökonomie erlebten.
Der Begriff der moralischen Ökonomie zeigt an, dass jede Wirtschaftsordnung mit Normen und moralischen Erwartungshorizonten aufgeladen ist. Mediale Diskurse, kulturelle Artefakte und Alltagskulturen innerhalb wie außerhalb der Arbeitsorte erlauben es den Akteur*innen, ihre eigene Position im Prozess der sozialen Reproduktion zu verstehen und zu bewerten: Was gilt als gerecht und ungerecht, was darf legitimerweise erwartet werden, wenn man sich den Anforderungen des Arbeitslebens unterwirft (Palomera/Vetta 2016)?
In unseren Untersuchungen begegneten wir Arbeiter*innen, die eine individualisierte Leistungsideologie verinnerlicht hatten und diese so gut sie konnten zu leben versuchten. Sie bemühten sich, „ihren“ Teil der meritokratischen Abmachung einzuhalten, indem sie sich nicht nur der Arbeitsdisziplin unterwarfen, sondern diese Unterwerfung zugleich als selbstbestimmte und lustvolle Tätigkeit performten. Zugleich berichteten viele, dass die „andere“ Seite dieser Abmachung nicht eingehalten wurde: Die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs waren gering, die Löhne niedrig und die Angst vor Altersarmut stark präsent. Die Ablehnung von Geflüchteten ermöglichte es ihnen, diesen Bruch im Inneren der moralischen Ökonomie in einen Gegensatz zwischen „innen“ und „außen“ umzuwandeln: Sie zählten sich selbst zu einer Gemeinschaft der Fleißigen, „Flüchtlinge“ und „Asylanten“ galten ihnen dagegen als „undankbar“ und „unproduktiv“. Das Objekt der Ablehnung war um die Gruppe der undeserving others (Dhaliwal/Forkert 2015) zentriert, Menschen die vom Staat Leistungen erhielten, die ihnen nicht zustünden.
Krise der politischen Wirksamkeit
Hier wird die Erfahrung einer krisenhaften moralischen Ökonomie in einen Antagonismus übersetzt, der auf der einen Seite eine Gemeinschaft der Fleißigen konstruiert, auf der anderen Seite ein diffuses, häufig über Anekdoten und vermeintliches Alltagswissen hergestelltes Außen, das von Figuren der Faulen, Trickser und Schmarotzer bevölkert wird. Diese Haltung verbindet sich mit der Erfahrung stark eingeschränkter politischer Wirksamkeit. Häufig berichteten Beschäftigte von extrem belastenden Arbeitsverhältnissen und zu geringen Löhnen, sahen aber keine Möglichkeit, diesen Missständen etwas entgegenzusetzen. Gewerkschaften, Betriebsräte und Politik insgesamt wurden als ohnmächtig gegenüber den Eigengesetzen der Ökonomie dargestellt. Wenn „dem Staat“ Gestaltungsmacht zugeschrieben wurde, dann in der Drangsalierung der vermeintlich Minderleistenden. Oder wie es eine Beschäftigte in einem Warenlager formulierte: „Ich würde die ganzen Schmarotzer, die auf Sozialhilfe sitzen, rausschmeißen, egal wieviel Kinder die haben, egal ob da Krieg im Land ist, ob die was zu essen haben oder nicht. Es ist nicht mein Problem. Ich kämpfe für mich auch selber, ich verdiene mein Essen selber, warum muss ich für jemanden anderen arbeiten?“ (Harder/Opratko 2022)
Der Zusammenhang zwischen einem subjektiv erfahrenen Bruch in der moralischen Ökonomie, einer Krise der politischen Wirksamkeit und rassistischen Konstruktionen der „Unproduktiven“ bildet einen Kern gegenwärtiger Ablehnungskulturen. Diese Ablehnungskulturen bilden eine Grundlage für die Erfolge extrem rechter Parteien. Das bedeutet nicht, dass jede*r Einzelne die Elemente der Ablehnungskultur spontan richtig findet, immer Parteien wie die AfD wählt. Aber eine wichtige Voraussetzung für deren Wahlerfolge ist, dass Haltungen und Sprechweisen ins Feld des gesellschaftlich Akzeptablen verschoben werden. Anders gesagt: Die Themen, Fragestellungen, Problemdiagnosen und Lösungsvorschläge, die in Ablehnungskulturen verhandelt werden, bilden ein vorteilhaftes Terrain für den autoritären Populismus. Mit Stuart Hall, dem Begründer der britischen Cultural Studies gesprochen, bieten Alltagskulturen eine Reihe moralischer Bezugspunkte, die Erfahrungen in der Arbeitswelt aufgreifen und bewerten (Hall 2014: 116).
Die Verantwortung liegt nicht nur bei den Rechtsextremen
Der oben skizzierte Zusammenhang folgt keinem Automatismus. Er hat sich ausgebildet. Dafür verantwortlich waren aber nicht nur, ja nicht in erster Linie die extrem rechten Parteien selbst, sondern jene, die die ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen über Jahre und Jahrzehnte in Regierungsverantwortung gestaltet haben. Die Perspektive auf Ablehnungskulturen schließt somit an Erkenntnisse insbesondere aus der Industriesoziologie an, die die entdemokratisierenden Effekte neoliberaler Wirtschaftspolitik herausstellen: Wo Produktions- und Arbeitsverhältnisse als politisch nicht regulierbar und Verschlechterungen subjektiv als Ergebnis quasi-natürlicher Marktzwänge wahrgenommen werden, kann rechtsextreme Politik in anderen Feldern – Migration, Geschlechterpolitik, Kriminalität – politische Handlungsfähigkeit versprechen (Menz/Nies 2019; vgl. Dörre 2020; Nachtwey/Jörke 2017).
Zugleich weitet die Untersuchung von Ablehnungskulturen den Blick auf Fragen des Alltagsverstands und der Kultur als „whole way of life“ aus. Strategien gegen Rechtsextremismus und autoritären Populismus greifen aus dieser Perspektive zu kurz, wenn sie nicht die Akzeptabilitätsbedingungen für diese Form gewaltvoller Politik verstehen und verändern wollen. Notwendig wären dann Maßnahmen, die politische Wirksamkeit im eigenen Alltagsleben erfahrbar machen, indem etwa demokratische Verfahren am Arbeitsplatz und im Wohnviertel ausgeweitet, das Wirtschaftsmodell als moralische Ökonomie rekonstituiert und die vorhandenen Elemente solidarischer Praxen in der Migrationsgesellschaft gestärkt werden. Sonst laufen wir Gefahr, immer neuen Erfolgen extrem rechter Parteien mit den immer gleichen, alten Erklärungsmustern zu begegnen.
Literatur
Angeli, O. /Otteni, C. (2022): Migration und Wahlverhalten in Deutschland. In: Brinkmann, Heinz Ulrich/Reuband, Karl-Heinz (Hg.), Rechtspopulismus in Deutschland: Wahlverhalten in Zeiten politischer Polarisierung. Wiesbaden: Springer, 371–393.
Balibar, E. (2018): Gibt es einen „Neo-Rassismus“? In: Ders./Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg: Argument, 23–38.
Bojadžijev, M. (2018): Migration as Social Seismograph: an Analysis of Germany’s ‘Refugee Crisis’ Controversy. In: International Journal of Politics, Culture, and Society, 31 (4), 335-356.
Bojadžijev, M./Opratko, B. (2016): Von der Willkommens- zur Ablehnungskultur? In: Forum Migration 12/2016, 6.
Dhaliwal, S./Forkert, K. (2015): Deserving and undeserving migrants. In: Soundings, 61, 49–61.
Dietze, G. (2016): Ethnosexismus. Sex-Mob-Narrative um die Kölner Sylvesternacht. In: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies, 2 (1), 177-186.
Grossberg, L. (2019): Cultural Studies in search of a method, or looking for conjunctural analysis. In: New Formations 96/97, 38-68.
Hamann, U./Karakayali, S. (2016): Practicing Willkommenskultur: Migration and Solidarity in Germany. In: Intersections, 2 (4), 69–86.
Harder, A./Opratko, B. (2022): Cultures of Rejection at Work: Investigating the Acceptability of Authoritarian Populism. In: Ethnicities, 22 (3), 425–445.
Hess, S./Kasparek, B./Kron, S./Rodatz, M./Schwertl, M./Sontowski, S. (2016): Der lange Sommer der Migration. Krise, Rekonstitution und ungewisse Zukunft des europäischen Grenzregimes. In: Dies. (Hg.): Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III. Bielefeld: transcript, 6-24.
Jäger, M./Wamper, R. (2017): Von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung. Der Fluchtdiskurs in deutschen Medien 2015 und 2016, Duisburg: DISS.
Menz, W./Nies, S. (2019): Marktautoritarismus und bedrohte Selbstverständnisse. Impulse der arbeitssoziologischen Bewusstseinsforschung zur Erklärung des Rechtspopulismus. In: Book, Carina/Huke, Nikolai/Klauke, Sebastian/Tietje, Olaf (Hg.): Alltägliche Grenzziehungen. Das Konzept der „imperialen Lebensweise“, Externalisierung und Solidarität. Münster: Westfälisches Dampfboot, 207–227.
Opratko, B. (2022): Beyond pandemic populism: COVID-related cultures of rejection in digital environments, a case study of two Austrian online spaces. In: Patterns of Prejudice, 56 (4–5), 297–314.
Opratko, B./Bojadžijev, M./Bojanić, S. M./Fiket, I./Harder, Al./Jonsson, S./Nećak, M./Neegard, Anders/Soto, C. O./Draško, G. P./et al. (2021): Cultures of rejection in the Covid-19 crisis. In: Ethnic and Racial Studies, 44 (5), 893–905.
Palomera, J./Vetta, T. (2016): Moral Economy: Rethinking a Radical Concept. In: Anthropological Theory, 16 (4), 413–432.
Benjamin Opratko 2024, Wie Ablehnungskulturen Rechtsextremismus befördern, in: sozialpolitikblog, 12.09.2024, https://difis.org/blog/?blog=132 Zurück zur Übersicht
Dr. Benjamin Opratko hat an der Universität Wien am Institut für Politikwissenschaft promoviert. Von 2019 bis 2022 forschte er im Projekt „Cultures of Rejection“. Seit Oktober 2022 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) am Institut für Soziologie und Kulturorganisation an der Leuphana Universität Lüneburg. Er forscht zum Zusammenhang von Rassismus, Migration und autoritärer Politik. Zudem ist er Redakteur des in Wien erscheinenden Magazins „Das Tagebuch“.
Bildnachweis: Leuphana Universität Lüneburg