Wie die radikale Rechte den Wohlfahrtsstaat verändert
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Für die radikale Rechte ist der Wohlfahrtsstaat eine Erweiterung ihres fremdenfeindlichen und autoritären „Kulturkampfes“. Ihre Politik verschärft soziale Ungleichheiten nach Herkunft, Geschlecht und Erwerbsbiographie. Philip Rathgeb analysiert die wirtschafts- und sozialpolitischen Konsequenzen rechtsradikaler Regierungsbeteiligungen, auch im Hinblick auf die Ergebnisse der US-Wahl.
Das Spektrum an wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen wird seit der Französischen Revolution im Links-Rechts-Schema geordnet. Während die Linke höhere Steuern und Umverteilung befürwortet, steht die Rechte für das Gegenteil. Die heutige radikale Rechte lässt sich allerdings nicht so leicht in dieser sozioökonomisch motivierten Kategorisierung verorten. Ihre Kernideologie beruht nämlich vorwiegend aus soziokulturell aufgeladenen Positionen. Dementsprechend wird die radikale Rechte mit ihrer Ablehnung von Zuwanderung und der Restaurierung nationalkonservativer Wertvorstellungen in Verbindung gebracht. Vor diesem Hintergrund wurde ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik als „verschwommen“ (Rovny 2013) beziehungsweise als „untergeordnet“ bezeichnet (Mudde 2007). Doch meine Untersuchung der Regierungsbeteiligungen radikal rechter Parteien offenbart, wie sich ihre soziokulturellen Positionen auch in sozioökonomische Politikinhalte übersetzen (Rathgeb 2024). Die strikte Unterteilung zwischen „Kultur“ versus „Wirtschaft“ verschleiert somit die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Konfliktlinien. Für die radikale Rechte ist die Wirtschafts- und Sozialpolitik ein Mittel zum Zweck in ihrem „Kulturkampf“.
Was heißt rechtsradikal?
Nach Cas Mudde (2007, 2019) werden darunter Parteien gefasst (populist radical right), die eine Ideologie des (1) Nativismus, (2) Autoritarismus und (3) Populismus kombinieren. Die Ideologie des Nativismus ist das ideologische Kernstück der radikalen Rechten, das heißt die Forderung nach einem ethnisch und kulturell homogenem Nationalstaat. Aus dieser Position leitet sich die Ablösung der Demokratie durch eine „Ethnokratie“ als Herrschaftsform ab, derzufolge die politischen und sozialen Rechte der Bürger*innen von ihrer ethnischen Herkunft abhängen sollen. Ein weiteres ideologisches Kernelement der radikalen Rechten ist der Autoritarismus, welcher eine streng organisierte und hierarchische Gesellschaftsordnung mithilfe rigoroser Law-and-Order-Politik vorsieht. Damit geht die Vorstellung einher, der Staat müsse „hart durchgreifen“, um „traditionelle“ Wertvorstellungen und Hierarchien herzustellen. Soziale Probleme wie etwa Drogenabhängigkeit werden in dieser Lesart nicht primär auf ökonomische Benachteiligungen zurückgeführt, sondern als Ausdruck von mangelnder Strenge in der Erziehung und Rechtsprechung interpretiert. Der Bildungspolitik wird die Aufgabe zugedacht, traditionelle Familienformen wie die Ehe zwischen Mann und Frau als „normale“ Lebensform zu vermitteln sowie LGBTQ+-Rechte abzulehnen. Der Populismus ist zwar ein weiteres ideologisches Charakteristikum dieser Parteienfamilie, aber im Vergleich zum Nativismus und Autoritarismus weniger von Bedeutung in der jüngeren Generation der radikalen Rechten (Art 2022). Diese ideologischen Elemente finden sich bei Rechtsaußenparteien in Westeuropa sowie zunehmend bei Mitte-Rechtsparteien in Osteuropa (z.B.: PiS und Fidesz-KDNP) sowie den USA (Republikanische Partei unter Trump).
Nativismus und Autoritarismus in der Wirtschafts- und Sozialpolitik
Der ideologische Kern der radikalen Rechten heutiger Prägung – Nativismus und Autoritarismus – hat nicht nur inhaltliche Konsequenzen in soziokulturellen Fragen wie Migration und Diversität, sondern auch in sozioökonomischen Fragen des Wohlfahrtsstaates. Die radikale Rechte verschärft aus ihrer nativistischen Haltung nämlich nicht nur die Migrations- und Asylpolitik; sie braucht regelrecht verteilungspolitische Instrumente zur Verwirklichung nativistischer Spaltungen in der Gesellschaft. Darunter fallen etwa sozialpolitische Benachteiligungen für Ausländer*innen (Wohlfahrtschauvinismus) oder die selektive Bereitstellung von Familienleistungen zur Förderung ausschließlich einheimischer kinderreicher Familien (Pro-Natalismus). In der Wirtschaftspolitik lassen sich steuerliche und regulative Benachteiligungen für ausländische Unternehmen (Wirtschaftsnationalismus) sowie Einfuhzölle auf importierte Güter (Handelsprotektionismus) zugunsten von einheimischem Kapital anführen. Der Nativismus bedeutet also einen xenophoben Zugang im Bereich der Sozialpolitik sowie eine nationalistische Reaktion auf die Globalisierung im Bereich der Wirtschaftspolitik.
Die Betonung auf „traditionelle“ Wertvorstellungen und soziale Normen im Sinne einer autoritären Ideologie impliziert ein eng gefasstes Solidaritätsverständnis: Nur jene, die „hart arbeiten“ und konservativen Familiennormen entsprechen, sollen Anspruch auf soziale Unterstützung bekommen (deservingness). Dementsprechend setzen sich rechtsradikale Parteien eher für die Versicherungsleistungen von Rentner*innen ein, während Erwerbslose tendenziell unter Verdacht stehen, sich nicht genug anzustrengen, um einen Arbeitsplatz zu bekommen. Aber nicht nur auf Parteienebene, sondern auch auf der Ebene individueller Wähler*inneneinstellungen finden wir diese Unterscheidung zwischen mehr bzw. weniger unterstützungswürdigen sozialen Gruppen. So zeigen Busemeyer et al. (2022), dass die Wähler*innen radikal rechter Parteien relativ generöse Unterstützungsleistungen für Rentner*innen befürworten, aber nicht für Erwerbslose.
Eine Politik des Workfare – das heißt strenge Auflagen und Zumutbarkeitsbestimmungen für den Erhalt von Sozialleistungen bei Erwerbslosigkeit – erhält außerdem die stärkste Unterstützung unter Wähler*innen rechtsradikaler Parteien im Vergleich zu den Wähler*innen anderer Parteifamilien links und rechts der Mitte. Gleichzeitig weisen diese Wähler*innen die geringste Unterstützung für soziale Investitionen in die Hochschulbildung oder öffentlich bereitgestellte Kinderbetreuung auf (social investment). Diese ablehnende Haltung ist konsistent mit einer Ideologie des Autoritarismus, weil eine soziale Investitionspolitik mit progressiven Wertvorstellungen wie sozialer Mobilität sowie Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern verbunden ist.
Wie rechtsradikale Parteien ihre Ideologie national umsetzen
Obwohl sich rechtsradikale Parteien in ihrer Ideologie ähneln, setzen sie nicht zwangsläufig eine ähnliche Politik in Regierungsverantwortung um. Schließlich regieren sie in höchst unterschiedlichen Länderkontexten. In Westeuropa übersetzt sich der Nativismus vorwiegend in einen Wohlfahrtschauvinismus, weil diese Länder sowohl relativ hohe Sozialstaatsstandards als auch hohe Migrationsraten aufweisen. Dort hat die radikale Rechte somit Konflikte um den Bezieher*innenkreis in der Sozialpolitik zunehmend „kulturalisiert“ und „ethnisiert“.
In Mittel- und Osteuropa hingegen ist die Migration relativ gering, während die Sozialpolitik weniger generöse Leistungen bereithält. Allerdings waren diese Länder nach dem Zerfall der Sowjetunion stark von ausländischen Direktinvestitionen abhängig. In diesem Kontext geht die radikale Rechte also weniger gegen ausländische Sozialleistungsbezieher*innen wie in Westeuropa vor, sondern gegen ausländisches Kapital in Form eines (selektiven) Wirtschaftsnationalismus, der diese Länder wirtschaftspolitisch unabhängiger machen sollte. Steuern auf ausländische Banken und Versicherungsgesellschaften waren etwa die Folge, während einheimisches Kapital über (Re-)Verstaatlichungen und klientelistische Zuwendungen bevorzugt wurde, allen voran in Ungarn und Polen.
In den USA hingegen gibt es zwar hohe Migrationsraten, aber keinen ausgebauten Wohlfahrtsstaat nach westeuropäischem Muster. Trumps Handelsprotektionismus richtete sich auch nicht gegen ausländisches Kapital wie in Osteuropa, sondern gegen ausländische Güter, vor allem aus China. Das Credo der niedrigen Steuern war unter Trump nicht neu, aber die Einführung von hohen Einfuhrzöllen in Reaktion auf chronische Handelsbilanzdefizite bedeutete eine deutliche Abwendung von der Freihandelspolitik amerikanischer Vorgängerregierungen. Kurzum: Der Nativismus richtet sich vorwiegend gegen ausländische Sozialleistungsbezieher*innen in Westeuropa, ausländisches Kapital in Osteuropa und ausländische Güter in den USA. Die politischen Maßnahmen mögen höchst unterschiedlich sein, aber ideologisch haben sie einen ähnlichen nativistischen Kern.
Der Autoritarismus zeitigt ebenso unterschiedliche inhaltliche Konsequenzen. Die Betonung auf “harte Arbeit” bedeutet die Verteidigung (und den punktuellen Ausbau) von generösen (Früh-)Rentenleistungen in den Sozialversicherungssystemen Westeuropas, gepaart mit Verschlechterungen für Erwerbslose. Gleichzeitig zeigen sich Unterschiede in der Familienpolitik. Anders als in Kontinentaleuropa (Österreich, Italien) befördert die radikale Rechte in Nordeuropa (Dänemark, Norwegen) kaum familialistische Maßnahmen. Dies lässt sich auf das unterschiedliche Sozialstaatserbe zurückführen. Während sich in Nordeuropa schon in den 1960er und 1970er-Jahren das dual earner/dual carer model etablierte, wurde in Teilen Kontinentaleuropas das male breadwinner model institutionell länger aufrechterhalten. Eine konservative Familienpolitk genießt dementsprechend weniger öffentliche Unterstützung in Nordeuropa als in Kontinental- und vor allem in Osteuropa, wie Daten des ISSP zeigen (Rathgeb 2024, Kapitel 3). Nicht zuletzt deshalb sind konservative und pro-natalistische familienpolitische Unterstützungen (Prämien, Geldleistungen, Darlehen) – gepaart mit Anti-LGBTQ+ Maßnahmen – der Kern sozialpolitischer Ausbauprojekte unter der Fidesz-KDNP-Regierung in Ungarn und der PiS-Regierung in Polen gewesen. In den USA ist die Handelspolitik eine Art funktionales Äquivalent zur Sozialpolitik, denn soziale Absicherungen sind dort stark an den Arbeitsplatz gebunden, den es durch Handelsprotektionismus abzusichern gilt (siehe etwa Rieger und Leibfried 2003).
Die radikale Rechte verhindert progressiven Umbau des Wohlfahrtsstaates
Bei all diesen Unterschieden lassen sich verteilungspolitisch grobe Ähnlichkeiten feststellen. Während die radikale Rechte selektiv auf die soziale Absicherung von statusbedrohten Arbeitsmarkt-Insidern und „traditionellen“ Familien abzielt, verschärft sie in der Regel die Bedingungen für Erwerbslose, Armutsbetroffene, Nicht-Staatsbürger*innen und ethnische Minderheiten. Gleichzeitig erschweren diese Parteien einen progressiven Umbau des Wohlfahrtsstaates. Dies geht insbesondere zulasten von erwerbstätigen Frauen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie von Arbeitsmarkt-Outsidern in unsicheren und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen. Diese Gruppen würden nämlich von jenen inklusiven Wohlfahrtsstaatsarrangements profitieren, die die radikale Rechte verhindert, darunter etwa öffentlich bereitgestellte Kinderbetreuung und mehr Väterteilhabe in der Elternzeit, ausbildungsorientierte aktive Arbeitsmarktpolitik und Jobgarantien bei (Langzeit-)Arbeitslosigkeit sowie arbeits- und sozialrechtliche Schutzmaßnahmen für atypische Beschäftigungsverhältnisse.
Unter rechtsradikaler Regierungsbeteiligung gehen also selektive Statussicherungen und Maßnahmen gegen Globalisierung mit der Beförderung eines feminisierten und ethnisierten Prekariats einher. Somit ist die radikale Rechte zur politischen Repräsentantin der “losers of globalization“ geworden (Kriesi et al. 2008, Steiner et al. 2024), obwohl sie eine redistributive Politik verhindert und soziale Spaltungen verschärft. Dieses Paradox lässt sich nur mit Blick auf die Ideologie dieser Parteien auflösen. Nativistische und autoritäre Positionen lassen sich nicht mit einer inklusiven verteilungspolitischen Agenda vereinbaren, die nicht nach Ethnie, Staatsbürgerschaft, Geschlecht und Erwerbsbiographie unterscheidet.
More of the same nach Trumps Wahlsieg?
Dieser Zusammenhang lässt sich erneut in den USA beobachten. Auch wenn im Mehrheitswahlrecht der USA die beiden dominanten Parteien naturgemäß eine breitere elektorale Koalition auf sich vereinigen können, so haben wieder Männer ohne College-Abschluss Donald Trump zu seinem Wahlsieg verholfen. Ehemals stark industrialisierte und von der Globalisierung besonders betroffene Staaten im sogenannten Rust Belt sind erneut an die Republikaner gegangen. Programmatisch gepunktet dürfte Trump mit der Radikalisierung seines Wirtschaftsprogramm haben: Steuern dauerhaft senken, Versicherungsleistungen für „hart arbeitende“ Amerikaner sichern (Social Security und Medicare), dafür Einsparungen zulasten von Armutsbetroffenen (Essensmarken und Medicaid) (Autoritarismus) sowie drastisch erhöhte Einfuhrzölle zulasten von ausländischen Produzenten (Nativismus). Um die Handelsbilanzdefizite dauerhaft zu reduzieren, müsste Trump allerdings die enormen Kapitalimporte und damit die Interessen des amerikanischen Finanzsektors beschneiden. Dies wird mit ziemlicher Sicherheit nicht passieren. Handelspolitik bedeutet aus der Sicht Trumps eben keinen Klassenkonflikt, sondern einen Nationenkonflikt (Klein/Pettis 2020). Für die radikale Rechte in Europa sowie in den USA sind die Auswirkungen der Globalisierung sowie innere Verteilungsfragen weiterhin nationalistisch-autoritär zu bearbeiten.
Literatur
Art, D. (2022): The Myth of Global Populism, Perspectives on Politics 20(3): pp. 999–1011.Busemeyer, M./Rathgeb, P./Sahm, A. (2022): Authoritarian Values and the Welfare State: The Social Policy Preferences of Radical Right Voters, West European Politics 45(1): pp. 77–101.
Klein, M. C./Pettis, M. (2020): Trade Wars Are Class Wars: How Rising Inequality Distorts the Global Economy and Threatens International Peace, New Haven: Yale University Press.
Kriesi, H./Grande, E./Lachat, H./Dolezal, M./Bornschier, S./Frey, T. (2008): West European Politics in the Age of Globalization, Cambridge: Cambridge University Press.
Mudde, C. (2007): Populist Radical Right Parties in Europe, Cambridge: Cambridge University Press.
Mudde, C. (2019): The Far Right Today, Cambridge: Polity Press.
Rathgeb, P. (2024): How the Radical Right Has Changed Capitalism and Welfare in Europe and the USA, Oxford University Press.
Rieger, E./Leibfried, S. (2003): Limits to Globalization. Welfare States and the World Economy, Cambridge: Polity Press.
Rovny, J. (2013): Where Do Radical Right Parties Stand? Position Blurring in Multidimensional Competition, European Political Science Review 5(1): pp. 1–26.
Steiner, N. D./Mader, M./Schoen, H. (2023): Subjective Losers of Globalization, European Journal of Political Research 63(1): pp. 326–347.
Philip Rathgeb 2024, Wie die radikale Rechte den Wohlfahrtsstaat verändert, in: sozialpolitikblog, 07.11.2024, https://difis.org/blog/?blog=138 Zurück zur Übersicht
Dr. Philip Rathgeb ist Assoziierter Professor (Senior Lecturer) für Sozialpolitik an der University of Edinburgh. Zuvor war er Assistenzprofessor (Lecturer) ebendort sowie Postdoc an der Universität Konstanz. Er promovierte in Politik- und Sozialwissenschaften am European University Institute. Zu seinen Forschungs- und Lehrschwerpunkten gehören die Vergleichende Politische Ökonomie und Sozialpolitikforschung. Sein neues Buch „How the Radical Right Has Changed Capitalism and Welfare in Europe and the USA” erschien bei Oxford University Press im Frühjahr 2024.
Philip Rathgeb (2024) How the Radical Right Has Changed Capitalism and Welfare in Europe and the USA Oxford University Press