Rechtsextremismus: Gibt es eine sozialpolitische Lösung?
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Um den Erfolg rechtsextremer Parteien zu erklären, werden oft kulturalistische Erklärungen herangezogen. Das führt zu einer Überbetonung der Migrationspolitik. Dabei wird die Rolle der sozialen Unsicherheit bei der Mobilisierung einer peripheren rechtsextremen Wählerschaft übersehen. Sozialpolitik kann wirksame Ansätze bieten, um diese Gruppen davon abzuhalten, ihre Stimme Rechtsextremen zu geben.
Rechtsextreme Parteien sind bei Wahlen im Aufwärtstrend. Eine Reihe von Wahlen auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene wurde zunehmend mit nationalistischen Themen bestritten, wobei rechtsextreme Parteien erhebliche Zugewinne verzeichnen konnten: die Alternative für Deutschland (AfD) bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen im September 2024; der Rassemblement National (RN) einige Monate zuvor bei den vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich; und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) im Juni 2024, bei denen die extreme Rechte in vielen Mitgliedstaaten, wenn nicht sogar in den meisten, gestärkt hervorgegangen ist. Ende 2023 gewann Geert Wilders rechtsextreme, islamfeindliche Partei für die Freiheit (PVV) die niederländische Parlamentswahl. Auch die Schwedendemokraten (SD), die Dänische Volkspartei (DF), die spanische Vox und die portugiesische Chega haben beträchtliche Unterstützung in der Bevölkerung gewonnen. Dieses Phänomen reicht weit über Europa hinaus, auch in Ländern wie El Salvador, Chile, Argentinien und Indien konnten die Rechtsextremen an Boden gewinnen. In den USA hat Trump die Wahlen gewonnen, was auf eine verbreitete Unterstützung für rechtsextreme Positionen hindeutet.
Viele dieser Parteien hatten in der Vergangenheit – oder haben immer noch – Regierungspositionen inne. Dies stärkt sie und macht sie zunehmend politisch relevant, da sie Politik gestalten und die Programme anderer Parteien beeinflussen können. Die systemische Verankerung führt zur Normalisierung extremer Ideen und hat einen Übertragungseffekt (Mudde 2021) auf das konservative Lager. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, von der britischen Konservativen Partei, die das Brexit-Narrativ aufgriff und später auf die Verschickung von Migrant*innen nach Ruanda fixiert war, über die niederländische Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), die Wilders ermöglichte, bis hin zur Propagierung nationalistischer Ideale durch die griechische Nea Dimokratia (ND). Diese Normalisierung erstreckt sich oft auch auf die Medienberichterstattung, die rechtspopulistischen Ideen eine breite Öffentlichkeit verschafft.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Erfolg rechtsextremer Parteien und Gruppen, die sich die Themen des „neuen Nationalismus“ zu eigen machen, drei Merkmale aufweist: (1) steigende Stimmenanteile; (2) Regierungsbeteiligung und Politikgestaltung; und (3) Normalisierung und die Fähigkeit, den Parteienwettbewerb zu beeinflussen. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Demokratie: Systemische Verankerung kann zur Normalisierung von Hass und extremen Ideen führen, Rechtspopulisten nähren sich von der politischen Polarisierung, die spaltende Dynamiken in der Gesellschaft verstärkt, und sie gefährden oft die liberaldemokratischen Institutionen, sobald sie an der Macht sind.
Die „sozialpolitische Wende“ in den Positionen und bei den Wähler*innen der rechtsextremen Parteien
Da der Erfolg rechtsextremer Parteien weitgehend davon abhängt, Unzufriedenheit in Bezug auf Migration zu mobilisieren, verweisen Analyst*innen und Kommentator*innen oft auf „kulturelle“ Lösungen: Migration reduzieren, Maßnahmen zum Schutz der nationalen Kultur vorschlagen und sich um nationalistische Konfliktlinien scharen.
Ich argumentiere jedoch, dass diese Lösungen bestenfalls unvollständig sind. Erstens ist Migration kein rein kulturelles Thema (Halikiopoulou/Vlandas 2020). Der Wettbewerb mit Migrant*innen ist auch von materiellen Interessen geprägt, da Wähler*innen sie als Konkurrent*innen auf dem Arbeitsmarkt oder als Konkurrenz um Sozialleistungen und knappe staatliche Ressourcen betrachten können. Zweitens gibt es auch eine Vielzahl sozioökonomischer und institutioneller Missstände, die Wähler*innen zur Unterstützung rechtsextremer Parteien bewegen könnten. Tatsächlich waren rechtsextreme Parteien effektiv darin, Unterstützung bei verunsicherten Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren, indem sie Lösungen vorschlagen, die sich von ihren früheren marktliberalen Positionen unterscheiden. Diese „sozialpolitische Wende“ in den Positionen der rechtsextremen Parteien lässt sie als glaubwürdige Akteure erscheinen, die steigender Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Not begegnen können.
Die Triebkräfte für die Unterstützung rechtsextremer Parteien gehen daher weit über die Migration hinaus. Um sie vollständig zu erfassen, und zu verstehen, wo das Mobilisierungspotenzial des Rechtsextremismus liegt, ist es wichtig, die Heterogenität der rechtsextremen Wählerschaft zu berücksichtigen. Zum einen gibt es die Kernwählerschaft der rechtsextremen Parteien, die „Kulturalist*innen“, die ideologisch motiviert sind (Vasilopoulou/Halikiopoulou 2023). Diese Wähler*innen sind überwiegend von ethno-kulturellem Nationalismus getrieben. Sie sorgen sich hauptsächlich um die kulturelle Bedrohung durch Migration und befürchten, dass Migrant*innen (oder einheimische Außenseiter*innen) die nationale Kultur und Lebensweise untergraben könnten. Während diese Kernwähler*innen die Hauptanhängerschaft rechtsextremer Parteien bilden, machen sie in den meisten europäischen Ländern nur einen kleinen Teil der rechtsextremen Wähler*innen aus (Halikiopoulou/Vlandas 2022).
Periphere Wähler*innen hingegen sind eher opportunistisch als ideologisch eingestellt. Sie sind größtenteils von Protestmotiven oder Unzufriedenheit getrieben und haben eine Reihe von Sorgen, darunter wirtschaftliche und arbeitsmarktbezogene Unsicherheit, gesellschaftlichen Verfall, mangelnden Zugang zu Sozialleistungen und Ressourcen des Staates sowie Misstrauen gegenüber Institutionen. Diese Wähler*innen sind der extremen Rechten gegenüber weniger loyal, stellen aber einen viel größeren Anteil ihrer Wählerschaft dar.
In meiner Forschung habe ich eine Reihe peripherer Wählergruppen des Rechtsextremismus in Europa identifiziert (Halikiopoulou/Vlandas 2023). Die Liste ist nicht abschließend, aber beispielhaft umfasst sie:
- Die „Materialist*innen“, die eine Priorisierung der eigenen Gruppe aus ökonomischen Gründen unterstützen, sich jedoch nicht unbedingt mit den anderen nationalistischen Elementen der rechtspopulistischen Parteiprogramme identifizieren.
- Die „Wohlfahrtsstaatler*innen“, die hohen sozialen oder wirtschaftlichen Risiken ausgesetzt und auf Sozialleistungen angewiesen sind.
- Die „Absteiger*innen“, die einen sozialen Abstieg erlebt haben und oft Schwierigkeiten haben, mit wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Beschleunigung zurechtzukommen oder sich ausgegrenzt und unfair behandelt fühlen.
- Die „Misstrauischen“, die mit dem demokratischen Prozess unzufrieden sind, die Systemleistung und politische Ergebnisse negativ bewerten und wahrscheinlich Parteien belohnen, die das Establishment und die bestehenden politischen Normen herausfordern.
- Die „Anti-Umweltler*innen“ (Arndt et al. 2022), die in ländlichen und vorstädtischen Gebieten leben, wirtschaftlich von alten Industrien abhängig sind und/oder durch Klimaschutzmaßnahmen tatsächliche oder wahrgenommene Verluste erlitten haben.
Ist Sozialpolitik die Lösung?
Die obenstehende Analyse legt nahe, dass wirtschaftliche Erwägungen und die Position auf dem Arbeitsmarkt das Wahlverhalten beeinflussen. Viele Wähler*innen sind weiterhin von schlechten Arbeitsmarktchancen, materieller Entbehrung und Ungleichheit betroffen. Diese Wähler*innen, die sich über existenzielle Themen wie Kürzungen bei wichtigen Dienstleistungen, Wohnen, Zugang zur Gesundheitsversorgung und anderen Sozialleistungen Sorgen machen, befinden sich tendenziell in einer wirtschaftlich sehr unsicheren Position. Solche gesellschaftlichen Risiken schaffen günstige Bedingungen für rechtsextreme Parteien, die diese Risiken in politische Vorteile ummünzen können, indem sie sich als lautstarke Verfechter*innen des Wohlfahrtschauvinismus präsentieren.
Dies zeigt die Bedeutung von Reformen in der Politik zur Bewältigung von Verteilungskonflikten und der wirtschaftlichen Unsicherheiten und Risiken, denen Wähler*innen ausgesetzt sind. Konkret können sozialpolitische Maßnahmen die Auswirkungen sowohl objektiver als auch subjektiver Unsicherheit auf zweierlei Weise mildern. Erstens können sie Risiken der Arbeitnehmenden kompensieren, sobald sie eintreten, zum Beispiel durch Lohnersatzleistungen im Falle einer Arbeitslosigkeit. Zweitens können sie Arbeitnehmende vor dem Eintritt des Risikos schützen, indem sie beispielsweise Arbeitgebern erschweren, Arbeitnehmende zu entlassen.
In unserer früheren Forschung mit der Europäischen Sozialerhebung haben wir uns speziell auf sechs soziale Risikogruppen konzentriert, die jeweils im weiteren nicht-ausschließlichen Sinne verstanden werden und Personen umfassen, die ein Merkmal teilen, das sie einem besonderen Risiko aussetzt, darunter: (a) Arbeitslose; (b) Rentner*innen; (c) dauerhaft kranke oder behinderte Menschen; (d) Geringverdiener*innen; (e) Arbeitnehmende mit unbefristeten Verträgen; und (f) kinderreiche Familien. Die Art und Weise, in der diese verschiedenen sozialen Gruppen spezifischen Risiken ausgesetzt sind, kann davon abhängen, inwieweit sie durch verschiedene sozialstaatliche Maßnahmen des Landes, in dem sie leben, entschädigt und/oder geschützt werden. Je großzügiger die Maßnahmen sind, desto weniger wirtschaftlich unsicher können diese Gruppen sein; und in der Folge ist es umso weniger wahrscheinlich, dass sie ihre Unzufriedenheit durch eine Stimmabgabe für rechtsextreme Parteien ausdrücken. (Vlandas/Halikiopoulou 2021)
Unsere Erkenntnis, dass die Unterstützung für den Rechtsextremismus bei mehreren „gefährdeten“ Gruppen durch die Großzügigkeit der Maßnahmen, die ihre Bedürfnisse adressieren, beeinflusst wird, spricht die Debatte an, ob und wenn ja, inwiefern sozioökonomische Risiken für die Erklärung des Wahlverhaltens von Bedeutung sind. Sozialstaatliche Maßnahmen könnten ein wirksames Mittel zur Eindämmung der Unterstützung rechtsextremer Parteien sein, gerade weil sie nicht nur die vulnerabelsten, sondern eine breite Palette unterschiedlicher sozialer Gruppen davon abhält und so verhindern, dass rechtsextreme Parteien Wählerallianzen schmieden. Es sollte jedoch sorgfältig bedacht werden, wie wahrgenommene Spannungen zwischen offenen Grenzen und offenen Wohlfahrtsstaaten ausbalanciert werden können, insbesondere bei Wohlfahrtsstaaten mit einem hohen Sachleistungsanteil und universalistischen Ansatz (Cavaillé/Ferwerda 2023).
Die oft vorgeschlagene Empfehlung, den Hauptfokus auf eine Verschärfung der Migrationspolitik zu legen, wird nicht helfen, da sie den falschen Wählertyp anspricht: die rechtsextremen ideologischen „Kern“-wähler*innen werden sich kaum umstimmen lassen. Wir wissen, dass politische Parteien dann am erfolgreichsten sind, wenn sie breite Wählerunterstützung gewinnen können. Das bedeutet, dass großes Wählerpotenzial mit der Fähigkeit zur Mobilisierung über die Kernwählerschaft einer Partei hinaus verbunden ist. Dasselbe gilt für den Rechtsextremismus, dessen Mobilisierungspotenzial weitgehend von den peripheren Wähler*innen abhängt, die hauptsächlich durch Protestmotive angetrieben werden. Anstatt defensive, anpassende oder ausschließlich konfrontative Strategien zu verfolgen, die sich auf Einwanderung konzentrieren, brauchen wir daher eine positive und proaktive Botschaft, die auf Empowerment durch Gleichheit und sozialen Schutz setzt und den „Peripheren“ Risikominderung und Kompensierung bietet. Dies wird nicht alle davon abhalten, für den Rechtsextremismus zu stimmen. Aber es wird das große Mobilisierungspotenzial des Rechtsextremismus erheblich einschränken.
Literatur
Arndt, C./Halikiopoulou, D./Vrakopoulos, C. (2022): The centre-periphery divide and attitudes towards climate change measures among Western Europeans. Environmental Politics, 32(3), 381–406.
Cavaillé, C./Ferwerda, J. (2023): How distributional conflict over in-kind benefits generates support for far-right parties. The Journal of Politics, 85(1).
Halikiopoulou, D./Vlandas, T. (2023): How to counter exclusionary far-right politics with a progressive inclusionary agenda on equality. ETUI Policy Brief, 2023.08.
Halikiopoulou, D./Vlandas, T. (2022): Understanding right-wing populism and what to do about it. Friedrich Ebert Stiftung.
Halikiopoulou, D./Vlandas, T. (2020): When economic and cultural interests align: The anti-immigration voter coalitions driving far-right party success in Europe. European Political Science Review, 12(4), 427–448.
Mudde, C. (2021): The far-right threat in the United States: A European perspective. The American Behavioral Scientist, 699(1).
Vasilopoulou, S./Halikiopoulou, D. (2023): Democracy and discontent: Institutional trust and evaluations of system performance among core and peripheral far-right voters. Journal of European Public Policy, 31(9), 2397–2421.
Vlandas, T./Halikiopoulou, D. (2021): Welfare state policies and far-right party support: Moderating ‘insecurity effects’ among different social groups. West European Politics, 45(1), 24–49.
Daphne Halikiopoulou 2024, Rechtsextremismus: Gibt es eine sozialpolitische Lösung?, in: sozialpolitikblog, 07.11.2024, https://difis.org/blog/?blog=140 Zurück zur Übersicht
Daphne Halikiopoulou (PhD) ist Lehrstuhlinhaberin für Vergleichende Politikwissenschaft an der University of York. Sie beschäftigt sich mit dem Rechtsextremismus, Populismus und Nationalismus in Europa. Sie ist Autorin von Understanding Right-Wing Populism and What to do About it (mit Tim Vlandas), The Golden Dawn’s Nationalist Solution (mit Sofia Vasilopoulou) und zahlreichen Artikeln über europäische rechtsextreme Parteien. Sie ist Mitglied des PopuList-Teams und gemeinsam Chefredakteurin der Zeitschriften Nations and Nationalism sowie Political Studies.