Bildung und Teilhabe: „Leistungen kommen oft nicht an“
Das Bildungs- und Teilhabepaket ergänzt die Grundsicherung und soll Jugendlichen und Kindern gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Norbert Neske-Rixius hat untersucht, wie viele junge Menschen Anspruch auf diese Leistungen haben und wie viele sie erhalten. Im Interview nennt er Gründe für die Diskrepanz und weitere Forschungsbedarfe.
Interview: Johanna Ritter und Marina Ruth
Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde in der Debatte um die Kindergrundsicherung diskutiert. Diese Leistung gibt es aber schon länger. Was hat es mit dem Bildungs- und Teilhabepaket auf sich?
Die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) können die Regelbedarfe der Grundsicherung ergänzen und sollen gesellschaftliche Teilhabe und Bildungsteilhabe von Kindern und Jugendlichen sichern. Anspruchsberechtigt sind Kinder, Jugendliche und junge Menschen unter 25 Jahre, die selbst oder deren Eltern bestimmte Leistungen beziehen, etwa Kinderzuschlag, Bürgergeld oder Sozialhilfe, solange die jungen Menschen zur Schule oder Berufsschule gehen und kein Ausbildungsgehalt bekommen. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist eine Konsequenz aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Grundsicherung von 2010, in dem das Gericht klare Vorgaben für ein menschenwürdiges Existenzminimum formuliert hat. Unter anderem wird in dem Urteil betont, dass Kinder und Jugendliche bei der Berechnung der Regelsätze nicht wie kleine Erwachsene behandelt werden dürfen. Es kann also nicht sein, dass es sich um dieselbe Leistungsart oder Teilleistungen der Regelsätze für Erwachsene handelt. Kinder und Jugendliche haben eigene Bedarfe, die in einem transparenten und wissenschaftlich basierten Verfahren zu ermitteln und jährlich anzupassen sind. Es sind zum Beispiel Bedarfe für Schulmaterial, Klassenausflüge oder das Mittagessen in der Schule, die bis heute teils im Regelbedarf, im Wesentlichen jedoch im Bildungs- und Teilhabepaket geregelt sind.
Was gehört neben den Bedarfen für Schüler*innen noch dazu?
Hier ist insbesondere die soziale und kulturelle Teilhabe zu nennen. Dazu gehören zum Beispiel Beiträge für Musik- oder Sportunterricht. Eine Liste mit den möglichen Leistungen ist etwa auf dem Familienportal des Bundes zu finden. Hier steht auch, wer anspruchsberechtigt ist.
Sie haben sich anhand von statistischen Daten angesehen, wie die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets abgerufen werden und ob diese zu den Kindern und Jugendlichen gelangen. Welche Daten waren das und wie sind sie vorgegangen?
Ich habe Daten der Bundesagentur für Arbeit von 2018 bis 2022 verwendet, um zu sehen, wie viele junge Menschen diesen Anspruch haben. Um abschätzen zu können, wie hoch der Anteil von Kindern und Jugendlichen in Ausbildung ist, die Anspruch auf die Leistung haben, habe ich die Gruppe der Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren betrachtet. Bei manchen Leistungen ist es etwas komplizierter: Anspruch auf Mittagsverpflegung haben zum Beispiel nur Kinder in Kindertageseinrichtungen oder Ganztagsschulen. Für meine bundesweiten Berechnungen war eine Schätzung über die Daten der Kultusministerkonferenz möglich, die den Ganztagsanteil auf Länderebene ausweist. Für NRW konnte ich zusätzlich auf amtliche Schuldaten zurückgreifen, das heißt die tatsächliche Anzahl der Schüler*innen auf kommunaler Ebene ins Verhältnis zur Altersgruppe der Leistungsberechtigten setzen. Exemplarisch habe ich für Nordrhein-Westfalen Daten des Sozialministeriums mit den Daten der Bundesagentur für Arbeit abgeglichen, um bis auf die Schulebene nachvollziehen zu können, wie viele Kinder die Leistungen bezogen.
Was zeigt sich anhand Ihrer Auswertungen?
Bundesweit lag der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die Leistungen aus dem Paket erhielten, 2018 zwischen rund zwölf und 59 Prozent je nach Kommune. Es zeigt sich, dass ein erheblicher Anteil von Kindern und Jugendlichen, die Anspruch auf die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket haben, die Leistungen nicht oder nicht im vollen Umfang erhalten. Aus den Daten der Bundesagentur für Arbeit ließ sich berechnen, dass von den fast drei Millionen, die bundesweit leistungsberechtigt sind, durchschnittlich 55 Prozent mindestens eine Leistung gewährt wird, also zum Beispiel Schulbedarf, Lernförderung, Mittagessen, Schulfahrten und/oder soziale und kulturelle Teilhabe. Beim Mittagessen zeigt sich, dass im Bundesdurchschnitt etwa ein gutes Drittel der Anspruchsberechtigten die Leistung erhält. Da es sich bei dieser Betrachtung zunächst nur um die Zahl der Anspruchsberechtigten handelt, muss man zusätzlich ermitteln, wie hoch die Leistungen betragsmäßig pro Kopf ausfallen. Am Beispiel der schulischen Mittagsverpflegung zeigte sich: Für das Jahr 2018 wurden in NRW durchschnittlich 20 Mittagessen je 200 Schultage pro betroffene*n Schüler*in im Ganztag durch Leistungen des Pakets gefördert. Das Ergebnis hat mich erschüttert.
Sie haben sich nicht nur die Leistungen für das Mittagessen angesehen.
Mit dem Antrag auf Grundsicherung soll grundsätzlich auch der Antrag auf die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket gestellt sein. Dann müsste man eigentlich zu dem Ergebnis kommen, dass viele diese Leistung auch tatsächlich erhalten. Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Es gibt erhebliche Unterschiede zum einen zwischen den Anteilen der jeweiligen Leistung und zum anderen im Vergleich zwischen den Kommunen. Von den jungen Menschen, denen mindestens eine Leistung gewährt wird, erhält knapp ein Fünftel einen Zuschuss zur sozialen und kulturellen Teilhabe. Lernförderung können nur Schüler*innen erhalten. Von den sechs bis 18-Jährigen erhielten lediglich elf Prozent Lernförderung. Aufs Bundesgebiet und über alle Teilleistungen des Bildungs- und Teilhabepakets gerechnet, werden über drei Milliarden Euro an Leistungen gar nicht ausgezahlt – wenn man den Rechtsanspruch aller prinzipiell leistungsberechtigten Kinder berücksichtigt.
Sie haben die Kommunen bezogen auf ihre Leistungen auch verglichen. Was zeigt sich hier?
Man sieht für das gesamte Bundesgebiet, dass es in der Praxis erhebliche Unterschiede zwischen den kommunalen Gebietskörperschaften gibt, ob und in welcher Weise Leistungen zu Bildung und Teilhabe gewährt werden. Es gab und gibt Kommunen, bei denen lag die Pro-Kopf-Leistung aus dem Bildungs- und Teilhabepaket bei der Hälfte jener Kommunen, die die höchsten Pro-Kopf-Leistungen hatten. Das hat mich unter dem Gesichtspunkt Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als politischer Auftrag stutzig gemacht. Ich habe mich gefragt, wie sich diese Pro-Kopf-Leistung jeweils zusammensetzt und wie sich die Unterschiede zwischen den Kommunen erklären lassen. Die Verwaltungen haben zwar den Auftrag, den Zugang zu den Leistungen aktiv zu erleichtern, doch offenbar kommen die Leistungen trotzdem nicht an.
Woran liegt es, dass viele Kinder und Jugendliche den Anspruch auf Leistung nicht einlösen?
Nehmen wir noch einmal das Beispiel Mittagessen: Eine Erklärung liefert eine bundesweite Evaluationsstudie, die im Auftrag des Bundesarbeitsministerium erstellt wurde. Sie zeigt, dass gerade die Leistungen für das Mittagessen einen hohen Verwaltungsaufwand erzeugen, mit über 200 Minuten Zeitaufwand jährlich pro Kind allein für die Abrechnung. Es muss taggenau abgerechnet werden, ob ein Kind in der Schulverpflegung gegessen hat oder nicht. Das Verfahren hat mehrere Wirkungen: Arme Kinder müssen sich als arm zu erkennen geben, wenn zum Beispiel in der Schulmensa beim Bezahlen transparent ist, wer selbst zahlt und wer nicht. Eltern müssen Anträge stellen, sich also gegenüber der Schulverwaltung oder der Kantinenverwaltung als arm zu erkennen geben. Die Caterer müssen die Daten, wer wann an der Mittagsverpflegung teilgenommen hat an die Agentur für Arbeit, das Jobcenter oder das Sozialamt übermitteln, um die Kosten erstattet zu erhalten. Das kann ein hoher Aufwand sein. Beim Mittagessen kommt noch etwas anderes hinzu, was die Schulverpflegung allgemein betrifft: Viele Mittagessenangebote sind nicht kindgerecht, wie eine bundesweite Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft von 2015 zeigte. Das führt dazu, dass Kinder das Mittagessen aus der Schulverpflegung nicht essen wollen, aber nur dieses lässt sich über das Bildungs- und Teilhabepaket abrechnen.
Trifft ähnliches auch auf andere Leistungen aus dem Paket zu?
Nehmen wir mal das Beispiel Lernförderung. Hier muss der Nachweis erbracht werden, dass die Schule diese Lernförderung nicht ohnehin schon erbringt. Tatsächlich kann der Aufwand also sowohl für die Antragstellenden als auch in der Verwaltung hoch sein. Wenn es um den Beitrag für Musikunterricht oder Sporttraining geht, müssen die Eltern der Kinder und Jugendlichen Nachweise erbringen, zum Beispiel über die Mitgliedschaft im Verein. Das ist alles sehr kleinteilig und aufwendig.
Wie sind die Unterschiede zwischen den Kommunen zu erklären?
Die örtlichen Verwaltungen sind für die Umsetzung zuständig. Es liegt also ganz stark bei ihnen, wenn es um die tatsächliche Gewährung der Leistung geht. Sie regeln auf kommunaler Ebene, was sie zum Beispiel als kulturellen oder schulischen Bedarf anerkennen und was nicht. Diese Unterschiede in den Verwaltungen zeigten kürzlich auch zwei sehr interessante Bachelorarbeiten von Andrea Thubauville (2022) und Kristian Schatan (2022). Die Webseite des Bundesarbeitsministeriums sagt dazu, dass die örtlichen Verwaltungsregeln gelten. Für die Kommunen bedeutet es auch einen großen Aufwand, immer Nachweise einzufordern und detaillierte Abrechnungen zu prüfen. Dass es auch anders geht, zeigen zum Beispiel Kommunen, die Karten an die betroffenen Kinder und Jugendlichen ausgeben, mit denen digitalisierte Abrechnungsverfahren verbunden sind. Das ist eine Chance, um die Abläufe zu vereinfachen und oftmals bestehende Hemmschwellen zu verringern.
Was müsste sich ändern, damit mehr leistungsberechtigte Kinder und Jugendliche die Leistungen erhalten?
Ich hoffe, dass meine Berechnung einen Teil dazu beitragen kann, mit den Verwaltungen vor Ort ins Gespräch zu kommen, wie sie einzelne Leistungsbereiche umsetzen und wo es Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Hilfreich können digitalisierte Verfahren dabei sein. Es gibt zum Beispiel bereits Kommunen, die sehr gute digitale Verfahren haben und diese könnten in weiteren Kommunen umgesetzt werden. Für das Mittagessen in der Schule könnte ich mir zum Beispiel wie in 35 Kommunen, etwa in Berlin, Hamm, in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, eine Karte mit Online-System vorstellen, mit der alle Kinder in der Schule zahlen, egal ob die Eltern das Guthaben bezahlen oder das eine Leistung von der Agentur für Arbeit ist. Auch die Abrechnung kann digitalisiert erfolgen.
Was meinen Sie mit Infrastrukturen in diesem Zusammenhang?
Es ist möglich, dass die Verwaltungsstellen vor Ort Infrastrukturen schaffen oder unterstützen, zum Beispiel Sportvereine oder Jugendeinrichtungen, für soziale und kulturelle (Gruppen-)Angebote, die allen betroffenen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stehen. Das Gesetz zum Bildungs- und Teilhabepaket sieht auch Sachleistungen vor, die neben Einzelbeiträgen für ein Kind auch Angebote für Gruppen einschließen. Das wird aber selten realisiert, weil das Abwicklungsverfahren für die Träger zu aufwendig ist, solange auch hier für das einzelne Kind genau abgerechnet werden muss. Würde man stattdessen ein strukturelles Angebot als Sachleistung erbringen, könnten die Träger verlässlichere, differenziertere Angebote schaffen. Diese Verfahren würden den Menschen, die in der Verwaltung für die Umsetzung zuständig sind, neue Handlungsspielräume eröffnen.
Wo sehen Sie weitere Möglichkeiten, wie Forschung und Praxis zusammenarbeiten können?
Es wäre spannend, wenn der Austausch noch stärker auf der Verwaltungsebene stattfindet. Das heißt, die Verwaltungen sollten interessante Daten zur Verfügung gestellt bekommen und erprobte Verfahren kennen lernen können. Forschende sollten die Verwaltungsmitarbeitenden gleichzeitig als Expert*innen konsultieren, um Ansätze für Verbesserungen zu identifizieren. Das wäre ein praktischer Ansatz sozialer Politikberatung. Reine Appelle an die Bundespolitik bringen nicht so viel. Aber es muss uns gelingen, alle Partner an den Tisch zu bekommen.
Ganz grundsätzlich und unabhängig von der kommunalen Ebene müssten die Bedarfe so berechnet werden, wie es das Bundesverfassungsgericht 2010 festgelegt hat und daran die Leistungen bemessen, das heißt transparent, wissenschaftlich basiert und sie müssten jährlich aktualisiert werden. Tatsächlich wurden damals Pauschalbeträge festgelegt, die erst ab 2021 und nur bzgl. des Schulbedarfs der Entwicklung der Regelbedarfe angepasst wurden.
Literatur
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e.V. (Hrsg.) (2023): Empirische Befunde zum Bildungs- und Teilhabepaket: Teilhabequoten im Fokus, Berlin.
Thubauville, Andrea (2022): Bildung und Teilhabe im Rahmen der Leistungen zum Lebensunterhalt, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Köln, unveröffentlicht.
Schatan, Kristian (2022): (Mögliche) Hürden in der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes auf kommunaler Ebene am Beispiel der Stadt Duisburg, Hochschule Düsseldorf, Düsseldorf, unveröffentlicht.
Norbert Neske-Rixius 2025, Bildung und Teilhabe: „Leistungen kommen oft nicht an“, in: sozialpolitikblog, 16.01.2025, https://difis.org/blog/?blog=149 Zurück zur Übersicht

Norbert Neske-Rixius, Diplom-Pädagoge, forscht zur Armut von Kindern und Jugendlichen mit dem Schwerpunkt Bildung und Teilhabe. Er war bis Mitte 2020 Referent für „Schule im Sozialraum“ im Ministerium für Schule und Bildung Nordrhein-Westfalen. Die aktuellen Untersuchungen knüpfen an Ergebnisse früherer Forschungsarbeiten im Kontext der beruflichen Tätigkeit an.