Soziale Selbstverwaltung für wen durch wen?
Brauchen wir Sozialversicherungswahlen, wer soll sich an ihnen beteiligen und wer kandidieren können? Diesen Fragen zu Zweck und Legitimation der sozialen Selbstverwaltung geht Prof. Dr. Felix Welti in seinem Beitrag zur letzten Sozialversicherungswahl und dem Bericht des Wahlbeauftragten vom September 2024 nach.
Die Träger der Sozialversicherung sind Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. In ihren Organen wirken Vertreterinnen und Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber mit, die alle sechs Jahre in Sozialversicherungswahlen bestimmt werden. Bei den Sozialversicherungswahlen 2023 wurden bei den (nur noch) 144 Sozialversicherungsträgern 3.860 Vertreterinnen und Vertreter der Versicherten und Arbeitgeber bestimmt. Die Ergebnisse und Schlüsse daraus wurden im Bericht des Wahlbeauftragten vom September 2024 zusammengefasst. Bei sieben großen Sozialversicherungsträgern (Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund, Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG), fünf Krankenkassen) gab es Wahlhandlungen. Im Übrigen fand die Wahl ohne Wahlhandlung statt („Friedenswahl“), was oft auf der Versichertenseite durch eine vorgängige Verständigung von Gewerkschaften und anderen Arbeitnehmervereinigungen auf Listenverbindungen erreicht wurde. Erstmals waren Online-Wahlen möglich, die bei den Krankenkassen erprobt wurden. Die Wahlbeteiligung betrug 22,43 Prozent, nachdem sie von 2005 bis 2017 dreimal stabil bei ca. 30 Prozent gelegen hatte. Um die Wahlbeteiligung zu verbessern, wird vorgeschlagen, falls es nur eine Liste gibt, die Personenwahl zu eröffnen. Die kandidierenden Personen sollen auf dem Stimmzettel genannt werden.
Mit Zweck und Legitimation der sozialen Selbstverwaltung hängt zusammen, wer sie ausüben soll und wie und von wem diese Personen ausgewählt werden. Brauchen wir Sozialversicherungswahlen, wer soll sich an ihnen beteiligen, wer kandidieren können?
Woher kommt die Tradition?
Ein wesentlicher Fortschritt durch die Einführung der Sozialversicherung war, dass die Versicherten, anders als bei Fürsorgeleistungen, einen Rechtsanspruch auf die Leistungen hatten. Um diesen nicht den Hürden und Ungleichheiten des ordentlichen Rechtswegs zu unterwerfen und die Akzeptanz zu sichern, wurden in der Unfall- und in der Invalidenversicherung Schiedsgerichte eingeführt, die unter Mitwirkung Ehrenamtlicher aus den Kreisen der Versicherten und der Arbeitgeber über Streitfälle entschieden. Durch die Versicherten direkt gewählt wurden zunächst nur die Vorstände der Krankenkassen. Diese wählten in einem mehrstufigen Verfahren Arbeitervertreter für Unfallversicherung und Rentenversicherung, Beisitzer für die Schiedsgerichte und Arbeitervertreter im Reichsversicherungsamt. Zusammen mit den örtlichen Wahlen der Arbeitervertreter für die Gewerbegerichte als Vorläufer der Arbeitsgerichte waren dies im Kaiserreich die einzigen offiziellen Wahlen für Arbeitervertreter. So entstand auch aus dem Bedürfnis, die Schiedsgerichte zu legitimieren, die Ausdehnung der genossenschaftlichen Wahltradition der Krankenkassen und der Vorläufer der heutigen Sozialwahlen (vgl. Ayaß/ Rudloff/ Tennstedt 2021). Die gewählten Kassenvorstände übernahmen teilweise sogar Funktionen einer nicht existenten betrieblichen Mitbestimmung (vgl. Däubler/ Kittner 2022). Entsprechend politisiert waren die Wahlen, eine der wenigen Möglichkeiten der freien Gewerkschaften Stärke zu zeigen und unmittelbar auf staatliches Handeln zu wirken. Das sind die Wurzeln einer sozialen Selbstverwaltung, die sich über spezielle Wahlen immer wieder erneuert und dadurch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände eng in die Sozialpolitik einbindet. Heute sind diese Vorgänge entflochten. Für Kranken-, Renten- und Unfallversicherung werden je getrennt Versichertenvertreter gewählt, aus denen auch Widerspruchsausschüsse besetzt werden.
Ist die Friedenswahl ein Problem?
Eine kritische Debatte entzündet sich daran, dass auf eine Wahlhandlung verzichtet wird, wenn die Organisationen auf der Versichertenseite über eine Vorschlagsliste einig sind oder nur eine antritt (Rusert 2016; grundlegend Braun/ Kluth/ Klenk/ Nullmeier/ Welti 2008). Kritisiert werden auch die Gleichsetzung von Versicherten und Arbeitnehmern angesichts der Ausweitung des Versichertenkreises und dessen innerer Pluralität und eine zu schwache Kontrolle der sozial- und berufspolitischen Relevanz und Unabhängigkeit.
Wie man zu dieser Kritik steht, wird von politischen und rechtlichen Grundsatzfragen abhängen, die selten diskutiert werden: Wird die soziale Selbstverwaltung als Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen (Art. 9 Abs. 3 GG) verortet, liegt es nahe, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften primär angesprochen zu sehen und genauso wie im Tarifrecht die soziale Mächtigkeit als Zugangskriterium anzusehen (BVerfG 31. Mai 2022). Es wäre dann den Verbänden auferlegt, die Ausweitung der Sozialversicherung in ihrer Binnenstruktur angemessen zu berücksichtigen.
Sieht man die Sozialversicherung als (Beinahe-)Volksversicherung so kann man – eher etatistisch – die soziale Selbstverwaltung ganz in Frage stellen und zu Gunsten einer Beiratsstruktur verwerfen.
Ob überhaupt gewählt werden muss, hängt wieder davon ab, welche Art aufgabenbezogener Legitimation der sozialen Selbstverwaltung zugeschrieben wird: Für soziale Sachkunde über das Arbeitsleben und die Lebensrisiken Arbeitsunfall, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Erwerbsminderung und Alter würde ein Benennungsverfahren ausreichen.
Wird sozialpolitische Repräsentativität von den Organisationen verlangt, die zu den Sozialwahlen kandidieren dürfen, so müsste die Sachkunde um eine weitere Legitimation erweitert werden: eine politische Wahl, hilfsweise die sozialpolitische Relevanz, wie sie sich an Betriebsratsmandaten, Reichweite von Tarifverträgen oder an Mitgliederzahlen objektivieren ließe.
Ehrenamtlichkeit?
Unterschiedlich wird auch die Rolle der Ehrenamtlichkeit gesehen. Man kann sie für die Voraussetzung einer angemessenen Kontrolle der hauptamtlichen Verwaltung halten oder in ihr einen hemmenden Faktor sehen, weil die Aufgaben „nebenbei“ nicht angemessen ausgefüllt werden können. Ob Aufsichtsrat oder Betriebsrat, Stadtvertretung oder Kreistag, Kammerversammlung oder Innung, Kirchen- oder Vereinsvorstand: Diese kritische Debatte über Grenzen und Voraussetzungen des Ehrenamts gibt es überall. Teils wird versucht, dem durch Professionalisierung im und für das Ehrenamt zu begegnen, teils durch Wahlämter in der Selbstverwaltung wie den hauptamtlichen Bürgermeister oder den Kassenvorstand.
Was ist das besondere Interesse an der Sozialversicherung?
Selbstverwaltung lebt davon, dass sie sich mit spezifischen Interessen und Lebenslagen befasst und bei den Menschen sozial verwurzelt ist, die diese Interessen und Lebenslagen angehen. Das können für die Sozialversicherung betriebliche Interessen sein, diejenigen der gesundheitsbezogenen Lebenslagen Krankheit und Behinderung oder des Alters oder Alterns. In der Unfallversicherung ist das gut erkennbar. In den anderen Versicherungszweigen muss man sich Gedanken machen, wie das besondere Interesse vom allgemeinen sozialpolitischen Interesse abzugrenzen ist. Dieses Interesse muss, jedenfalls wenn es Menschen zu Wahlen bewegen soll, lebensweltlich verständlich sein, wie etwa bei Unfallverhütung und betrieblicher Prävention.
Das Interesse der Menschen an einer guten und modernen Verwaltung ist dringend, aber vermutlich nicht spezifisch genug. Die Lage ist vielmehr schwierig, weil manche Menschen den Eindruck gewonnen haben, dass das gegliederte System – wie es die Sozialversicherung voraussetzt – der eigentliche Feind der guten Verwaltung ist. Wer die soziale Selbstverwaltung als Interessenvertretung der gegliederten Verwaltung gegen die unverständige Bevölkerung versteht, wird mit ihr vielleicht nicht gleich untergehen, aber auch nicht oben auf der Welle des Fortschritts stehen.
Erst die Ziele, dann die Mittel diskutieren
Besteht Klarheit über die künftige soziale Verwurzelung und Aufgabe der sozialen Selbstverwaltung einschließlich ihres verfassungsrechtlichen Orts verständigt, sollte man ein dazu passendes System schaffen, wie ihre handelnden Personen bestimmt werden.
Online-Wahlen und aussagekräftige Stimmzettel sind das eine. Vor allem aber gilt: Die Organisationen, die das System in Zukunft tragen, müssen das auch wollen. Wenn keiner mehr richtig selbstverwalten mag, tut es auch eine staatsnahe Anstalt mit gut ausgewählten Beiräten. Das wäre aber sozial- und demokratiepolitisch allenfalls die zweitbeste Lösung.
Literatur
Ayass, W./Rudloff, W./Tennstedt, F. (2021): Sozialstaat im Werden. Band 1. Gründungsprozesse und Weichenstellungen im Deutschen Kaiserreich. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.Däubler, W./Kittner, M./Cerny, J. (2022): Geschichte und Zukunft der Betriebsverfassung. Frankfurt a.M., Bund-Verlag.
Rusert, K. (2016): Wahlen ohne Demokratie? Legitimation der Verwaltungsräte nach Friedenswahlen. Zeitschrift für Sozialreform, 29(2): 227-254. https://doi.org/10.1515/zsr-2013-0204
Braun, B./Kluth, W./Klenk, T./Nullmeier, F./Welti F. (2008): Modernisierung der Sozialversicherungswahlen. Baden-Baden: Nomos.
Der Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen (2024): Schlussbericht über die Sozialwahlen 2023. Paderborn: Bonifatius GmbH.
Felix Welti 2025, Soziale Selbstverwaltung für wen durch wen?, in: sozialpolitikblog, 23.01.2025, https://difis.org/blog/?blog=151 Zurück zur Übersicht

Prof. Dr. Felix Welti leitet das Fachgebiet Sozial- und Gesundheitsrecht, Rehabilitation und Behinderung der Universität Kassel und ist Sprecher des Forschungsverbunds Sozialrecht und Sozialpolitik (FoSS) der Universität Kassel und der Hochschule Fulda. Er ist ehrenamtlicher Richter des Bundessozialgerichts.