Eine bessere Alterssicherung bei prekärer Arbeit?
Immer wieder sind in der Forschung Arbeitsmarktentwicklungen und Rentensystem zusammengedacht worden, etwa von Hinrichs und Jessoula (2012) und jüngst in einem Band von Hofäcker und Kuitto (2023, open access), der im Juli 2024 bei einer DIFIS Brown-Bag-Runde vorgestellt wurde. In dem Sammelband von Hofäcker und Kuitto liegt der Fokus auf jungen Erwachsenen in Europa, die mit Erwerbsunsicherheit kämpfen. Sie befinden sich in einer paradoxen Situation: Eine Rücklagenbildung, etwa im Rahmen privater Vorsorge, wird Ihnen erschwert, weil ihre Erwerbsintegration oftmals prekär ist, zugleich werden sie mit rentenpolitischen Entscheidungen konfrontiert, die diese höheren individuellen Rücklagenbildungen für das Alter notwendig machen.
Die Rentenpolitik als Korrektiv
Aus rentenpolitischer Sicht steht vor diesem Hintergrund die Frage im Raum, welche Probleme des Arbeitsmarktes durch das Alterssicherungssystem aufgefangen oder ausgeglichen werden sollen. Eine eher kaltschnäuzige Reaktion, die Beitragsäquivalenz und Leistungsprinzip hochhält, würde darauf hinweisen, dass Arbeitsmarktprobleme allein durch die Arbeitsmarktpolitik zu lösen sind. Mit dieser Haltung ist der Vorschlag einer Erwerbstätigenversicherung, also der Einbezug insbesondere von Selbständigen in die Versicherungspflicht durchaus kompatibel. Eine weitere rentenpolitische Antwort könnte eine Basisrente im Alter vorsehen, die unabhängig von vorherigen Einzahlungen der Rentner*innen ist und stattdessen am Wohnortprinzip anknüpft, wie die AOW-Rente in den Niederlanden. Auch dies wäre mit der Ablehnung einer expliziten rentenpolitischen Bearbeitung von Entwicklungen des Arbeitsmarktes verbunden.
Differenzierter geht das deutsche System vor, das verschiedene Lebenssituationen berücksichtigt und teils ausgleichend wirkt: In Phasen des Bezugs der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I werden Beiträge an die Rentenversicherung geleistet. In Zeiten des Bezugs von Grundsicherung für Arbeitsuchende waren bis 2010 Beitragszahlungen vorgesehen, bevor diese Regelung abgeschafft wurde, um den Bundeshaushalt zu entlasten. Auch in anderen Situationen, in denen eine volle Erwerbsteilhabe nicht gewährleistet ist (oder zumindest nicht voll gefordert ist), werden Beiträge oder rentenrechtliche Zeiten verzeichnet, wie etwa im Falle der „Mütterrente“ und der Kinderberücksichtigungszeiten. Eher technisch und vereinfachend betrachtet können Instrumente des sozialen Ausgleichs unmittelbar in der jeweiligen Situation greifen. Die Beitragszahlung erfolgt dann nicht aus dem Entgelt für Erwerbsarbeit, sondern aus einer anderen Quelle und führt direkt zu Ansprüchen. Alternativ können Instrumente des sozialen Ausgleichs ex-post greifen, bei einer Gesamtbetrachtung des Lebenslaufs wie etwa bei dem Grundrentenzuschlag oder der auslaufenden Rente nach Mindestentgeltpunkten.
Hofäcker und Kuitto haben in einem Policy Brief zu dem Forschungsprojekt, dem der Sammelband entsprungen ist, eher en passant eine Anregung untergebracht, die ich im Folgenden aufnehmen möchte: „Contemporary pensions systems need to be reformed to ensure sufficient minimum contribution levels, even in cases of unemployment or other employment interruptions.“ Interessanterweise sprechen sie angesichts der Schwierigkeiten junger Menschen, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, an dieser Stelle von Mindestbeitragsniveaus. Dieses Instrument setzt an der Beitragsseite an. Unklar ist, wie und durch wen dieses Mindestbeitragsniveau erreicht werden soll. Vorstellbar wäre, dass eine pauschale Bezuschussung aus öffentlichen Kassen erfolgt. Analog etwa zum Berufseinsteigerbonus in der „Riester-Rente“ würde dann eine Art Grund- oder Startbeitrag für junge Menschen gezahlt. Ich möchte im Folgenden die Anregung aber so interpretieren, dass es keine Beitragszahlung oder -bezuschussung aus öffentlichen Quellen braucht, sondern der Ansatzpunkt direkt das Arbeitsverhältnis bleibt.
Mindestbeiträge revisited
Für manche Probleme, mit denen nicht nur Arbeitsmarkteinsteiger*innen zu kämpfen haben und die Konsequenzen für die Alterssicherung nach sich ziehen, liegen entweder bereits Vorschläge vor. Eine Erwerbstätigenversicherung könnte alle Arbeitsverhältnisse berücksichtigen und damit auch die Selbständigen einbeziehen. Andere Instrumente sind erprobt und könnten weiterentwickelt werden, zum Beispiel die rentenrechtliche Behandlung von Arbeitslosigkeit und Sorgearbeit. Auch die Idee einer Mindestbeitragspflicht wurde schon früher in die Diskussion gebracht als zentraler Baustein für eine flächendeckende Mindestabsicherung im Alter. Mit diesem Instrument sollten im Rahmen eines „voll eigenständigen Systems“ der Altersvorsorge sowohl durch den Arbeitsmarkt wie durch familiäre Sorgearbeit bedingte Zeiten geringer oder fehlender Erwerbsbeteiligung zu Zeiten echter Beiträge werden: Die Beiträge würden entweder von den Haushalten oder von öffentlichen Stellen getragen (Rolf/Wagner 1992; vgl. Klammer 2007). Eine weitere Idee wurde 2014 von Johannes Steffen unterbreitet. Angesichts des systemischen Problems, dass niedrige Stundenlöhne trotz langer Erwerbstätigkeit zu einer Rente unterhalb des Existenzminimums führen und so für die Betroffenen die Vorsorgepflicht schwierig zu rechtfertigen ist, schlug er eine Mindestbemessungsrundlage für Rentenbeiträge auf das Arbeitsentgelt vor: Die Beiträge zur Rentenversicherung sollten unabhängig vom tatsächlich gezahlten Stundenlohn so bemessen sein, dass aus einer Vollzeitstelle bei langjähriger Beschäftigung eine existenzsichernde Rente folgt. Der Beitrag, der sich aus dem tatsächlichen Stundenlohn ergibt, würde paritätisch getragen. Der darüberhinausgehende Beitrag, der sich aus der Differenz von tatsächlichem Stundenlohn und Mindestbemessungsgrundlage ergibt, trüge der Arbeitgeber. Im Unterschied zur vorher genannten Mindestbeitragspflicht wird mit diesem Vorschlag also auf eine spezielle Problemlage reagiert und die Finanzierung soll öffentliche Haushalte nicht belasten.
Lässt sich die Logik des Vorschlags Steffens auch auf andere Situationen übertragen? Problematisch sind Arbeitsverhältnisse unter anderem dann, wenn sie befristet sind oder kurzfristig gekündigt werden können und wenn die Stundenzahl unter (teils auch über) dem von den Beschäftigten gewünschten Umfang liegt. Teils werden auch Leiharbeit oder Solo-Selbständigkeit mit prekärer Arbeit in Verbindung gebracht. Weitere Probleme ergeben sich aus belastender Arbeit oder bei fehlenden Entwicklungs- oder Aufstiegschancen. Der Vorschlag Johannes Steffens setzt am Arbeitsverhältnis an, zielt aber nicht auf seine Verbesserung, sondern auf eine rentenpolitische Kompensation. Übertragbar scheint für einige Arten problematischer Arbeitsverhältnisse weniger das konkrete Konzept einer Mindestbemessungsgrundlage, da es typisierend von einer Vollzeitstelle und einer langjährigen Erwerbsbiografie ausgeht. Übertragbar ist aber die Idee, die rentenpolitischen Kosten von arbeitsmarktpolitischen Problemen in Form von höheren Beiträgen an den Verursacher weiterzugeben: an den Arbeitgeber.
Eine solche kompensatorische Logik wäre zumindest bei befristeten Beschäftigungen vorstellbar: Hier wäre ein Aufschlag auf die Rentenversicherungsbeiträge zu zahlen, der die möglicherweise auf die Befristung folgende Arbeitslosigkeit und die dann fehlenden Rentenversicherungsbeiträge ausgleicht. Das Vorgehen ließe sich auch auf weitere Sozialbeiträge ausweiten. Dieser Aufschlag könnte nach Vertragsdauer gestaffelt werden oder auch bei Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis ganz entfallen. Bei befristeten Arbeitsverhältnissen scheint diese (aus Sicht der Arbeitgeber) Malusregel recht einfach begründbar: Die Flexibilität des Beschäftigungsverhältnisses beeinflusst den Preis der Arbeit.
Weniger gut begründbar ist die Angemessenheit eines arbeitgeberseitigen Beitragsaufschlags bei anderen Ausprägungen prekärer Beschäftigung. Ein geringes Stundenvolumen etwa kann von beiden Seiten gewollt sein. Aus rentenpolitischer Sicht ist dennoch zu fragen, ob nicht auch hier ein Aufschlag zum Rentenversicherungsbeitrag notwendig ist, der beispielsweise bei Arbeitsverträgen unter 20 Stunden mit jeder vertraglich vereinbarten Stunde unterhalb von 20 Stunden ansteigt und paritätisch zu tragen wäre. Analog zur Unfallversicherung lässt sich auch überlegen, ob Unternehmen mit einem hohen Krankenstand nicht zusätzliche Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung tragen sollten. Idealerweise hätten solche Aufschläge nicht nur einen rentenpolitischen Vorteil – sie hätten einen Lenkungseffekt auf dem Arbeitsmarkt, indem sie prekäre Beschäftigungsverhältnisse verteuern würden. Systematisch wären solche Ergänzungen der Beitragsbemessung mit dem Prinzip der Beitragsäquivalenz der Leistungen völlig kompatibel, zugleich würde aber ein Hauch von Risikoäquivalenz in der Beitragsbemessung in das System einziehen.
Was folgt?
Vorschläge wie die oben genannten setzen an den individuellen Ansprüchen an. Damit diese Ansprüche aber auch zu ausreichenden Renten führen, ist das allgemeine Leistungsniveau der Rentenversicherung zu stabilisieren. Systematisch stellen sich außerdem Fragen, ob und wie solche Vorschläge im gesamten Mehr-Säulen-Modell, also in allen „Säulen“ der Alterssicherung umsetzbar sind oder ob damit eine funktionale Arbeitsteilung zwischen der Sozialversicherung und privater Vorsorge immer weiter verstärkt wird. Ist diese Aufgabenteilung nicht gewollt, müsste Alterssicherung gerade aufgrund der Flexibilität des öffentlichen Systems verstärkt wieder als öffentliches System verstanden werden.
Zu bedenken bleibt schließlich, dass kein Mangel an Ideen oder ausgereiften Konzepten zur Verbesserung der Sozialversicherung herrscht. Die Erwerbstätigen- oder Bürgerversicherung sind Beispiele. Wird der Vorschlag eines Beitragsaufschlags ausformuliert und vielleicht sogar mit Berechnungen unterfüttert, reiht er sich zunächst einmal nur in die lange Reihe der (nicht umgesetzten) Ideen ein. Die Sozialpolitikforschung ist stark darin, soziale Realitäten zu beschreiben, Probleme zu benennen und Instrumente zu Entwickeln und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Was ihr häufig fehlt, ist ein Gespür für die Bedingungen der Umsetzung ihrer Vorschläge. Dazu können eine bessere Verzahnung mit der prozessorientierten Policy-Forschung beitragen – letztlich bleibt die Frage nach dem politischen Agenda-Setting und viel mehr noch nach der Gestaltung der Policies eine Aufgabe der politischen Akteure.
Literatur
Hinrichs, K./Jessoula, M. (2012): Labour Market Flexibility and Pension Reforms: What Prospects for Security in Old Age?. In: Hinrichs, K., Jessoula, M. (eds.) Labour Market Flexibility and Pension Reforms. Work and Welfare in Europe. London: Palgrave Macmillan. https://doi.org/10.1057/9780230307605_1
Hofäcker. D./Kuitto, K. (eds.) (2023): Youth Employment Insecurity and Pension Adequacy. Cheltenham, UK: Edward Elgar Publishing.
Klammer, U. (2007): Time and Money in the Life Course – Empirical Evidence and Implications for Social Policy from a Gender Perspective, in: Intervention, 4(1): 145-174. https://doi.org/10.4337/ejeep.2007.01.11
Rolf, G./Wagner, G. (1992): Ziele, Konzept und Detailausgestaltung des „Voll Eigenständigen Systems“ der Altersvorsorge, in: Sozialer Fortschritt 41(12): 281-291.
Florian Blank 2025, Eine bessere Alterssicherung bei prekärer Arbeit?, in: sozialpolitikblog, 06.03.2025, https://difis.org/blog/?blog=155 Zurück zur Übersicht

Dr. Florian Blank leitet das Referat Sozialpolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. Seine Forschungsarbeit beschäftigt sich mit Fragen der Sozialversicherung, tariflicher und betrieblicher Sozialpolitik sowie der Grundsicherung. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Alterssicherung.