Von Schweden lernen? Integration als Strategie gegen den Pflegepersonalmangel
Die Anwerbung von ausländischen Fachkräften als Strategie gegen den Personalmangel in der Pflege ist aufwendig und kann die Versorgungssituation in den Herkunftsländern beeinträchtigen. Der schwedische Wohlfahrtsstaat setzt stärker darauf, bereits zugewanderte Personen in den Pflegearbeitsmarkt zu integrieren. Greta-Marleen Storath erörtert, inwiefern Deutschland vom schwedischen Ansatz lernen kann.
Die Langzeitpflege in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Die demographische Alterung führt zu steigenden Pflegebedarfen. Gleichzeitig ist der Personalmangel in der Pflege allgegenwärtig. Um dem zu begegnen, richtet sich die öffentliche und politische Diskussion immer häufiger einer Strategie zu: Anwerbung im Ausland. Damit ist die gezielte Rekrutierung von ausgebildeten Pflegefachkräften in anderen Ländern (insbesondere aus Nicht-EU-Ländern) gemeint. Diese Strategie wurde in den vergangenen Jahren durch gesetzliche Regelungen (z.B. durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz) und bundesweite Förderprogramme (z.B. „Triple Win“) forciert (Carstensen et al. 2024). Das Problem: Die Anwerbung im Ausland ist teuer und aufwendig. Häufig sind Vermittlungsagenturen zwischengeschaltet, die hohe Gebühren erheben und intransparent agieren. Auch die Abwerbung von bereits ausgebildetem Personal ist kritisch zu bewerten und kann weitreichende Folgen für die Versorgung in den Herkunftsländern haben (Care Drain und Global Care Chains, vgl. Yeates 2009). Ob dieser aufwendige Prozess in der Praxis letztlich Erfolg hat, ist nicht immer sicher und von vielfältigen Faktoren abhängig, z.B. Erwartungen an den Pflegeberuf in Deutschland, Willkommenskultur im Betrieb, Familiennachzug und soziale Netzwerke, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen. Damit stellt sich die Frage: Gibt es eine nachhaltigere Möglichkeit, dem Personalmangel in der Pflege zu begegnen?
Ein Blick nach Schweden: Die Integration von zugewanderten Personen im Inland
Dafür lohnt sich ein Blick nach Schweden. Denn obwohl die Pflege mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert ist – steigende Pflege- und Personalbedarfe – hat sich der Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat für eine andere Strategie zur Personalgewinnung entschieden: Die Integration von zugewanderten Menschen, die bereits im Inland leben und arbeitssuchend sind. Durch diese Strategie kann nicht nur dem Personalbedarf in der Pflege begegnet werden, auch die Erwerbsbeteiligung von zugewanderten und geflüchteten Personen wird gesteigert. In den letzten Jahren ist der Anteil von zugewanderten Personen in der Pflege (also von Menschen, die nicht in Schweden geboren sind) stark angestiegen und liegt mittlerweile bei über 40 Prozent (Statistics Sweden 2025). Eine Sonderauswertung von Daten aus dem Jahr 2018 hat gezeigt, dass etwa 37 Prozent der zugewanderten Pflegepersonen als Geflüchtete ins Land gekommen sind, knapp 32 Prozent als Familiennachzug und 30 Prozent unter EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit. Ein Arbeitsvisum aus einem Drittstaat hatten nur etwa ein Prozent (Sonderauswertung Statistics Sweden 2020).
Diese Zahlen zeigen, dass die gezielte Anwerbung aus Drittstaaten in Schweden kaum eine Rolle spielt. Stattdessen wird gezielt das Potenzial im eigenen Land mobilisiert. Und das ist groß. Lange Zeit hatte Schweden ein sehr offenes und liberales Migrationsregime, insbesondere im Bereich Asyl und Familiennachzug. Im Jahr 2015 war Schweden eines der wichtigsten Aufnahmeländer für Geflüchtete in Europa. Es gibt daher eine große und sehr heterogene Gruppe an zugewanderten Personen im Land, die ankommen und arbeiten wollen. Die schnelle Arbeitsmarktintegration wird politisch gewollt und durch Qualifizierungs- und Integrationsprogramme unterstützt. Gleichzeitig hat die restriktive Migrationspolitik seit 2016 auch den Druck auf zugewanderte Personen erhöht, möglichst schnell eine Arbeit zu finden (Fratzke 2017).
Im segregierten schwedischen Arbeitsmarkt hat sich die Altenpflege als besonders offenes Tätigkeitsfeld herausgebildet. Der Bedarf an Personal ist groß. Pflegeanbieter und Arbeitsvermittlung rekrutieren unter den zugewanderten Personen aktiv. Gleichzeitig sind Qualifikationsanforderungen, insbesondere für Hilfskräfte, gering. Rund 30 Prozent der Pflegekräfte arbeiten als un- oder angelernte Hilfskräfte. Etwa 60 Prozent sind ‚Assistant Nurses‘, deren Ausbildung zwischen einem und drei Jahren variieren kann. Weniger als zehn Prozent der Pflegekräfte haben eine hochschulische Ausbildung (Moberg et al. 2018). Diese Qualifikationsunterschiede ermöglichen Neu- und Quereinsteiger*innen einen niedrigschwelligen Einstieg in Beschäftigung. Doch auch wenn sich diese Entwicklung erst einmal positiv anhört – zugewanderte Personen werden in den Arbeitsmarkt integriert und die Altenpflege gewinnt Personal – bringt diese Strategie einige Herausforderungen mit sich.
Ungewollte Konsequenzen: Strukturelle Ungleichheiten und Abwertung von Sorgearbeit
Wenn wir genauer in die Arbeitsmarktpositionen und Hintergründe der zugewanderten Pflegepersonen hineinzoomen, werden Unterschiede zwischen Migrationsstatus, Herkunftsland und Geschlecht deutlich: Je niedriger die Qualifikationsgruppe, desto höher der Anteil von zugewanderten Personen, insbesondere aus Ländern des Globalen Südens und mit unsicherem Aufenthaltstitel. So war der Anteil von zugewanderten Pflegekräften im Jahr 2018 unter den Hilfskräften mit etwa 40 Prozent deutlich höher als unter den akademisch qualifizierten Pflegekräften mit 16 Prozent. Geflüchtete Personen aus afrikanischen und asiatischen Ländern waren unter den Hilfskräften überrepräsentiert, wohingegen EU-Bürger*innen häufiger in den hochqualifizierten Berufsgruppen arbeiteten. Auch zugewanderte Männer mit Fluchtgeschichte arbeiteten fast ausschließlich als Hilfskräfte und waren unter den akademisch Qualifizierten kaum zu finden (Sonderauswertung Statistics Sweden 2020). Diese Stratifizierung der Belegschaft mit Blick auf Migration, Herkunft und Geschlecht (migrancy, race, residency, gender) hat sich erst in den letzten Jahren herausgebildet und zunehmend verschärft. Sie ist Ausdruck von strukturellen Hierarchien am Arbeitsmarkt und übersetzt sich in individuelle Herausforderungen.
Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten sind für zugewanderte Personen aus nicht-EU-Ländern weniger zugänglich. Menschen aus afrikanischen und asiatischen Herkunftsländern sind außerdem häufiger von Rassismus und Diskriminierung betroffen. Dabei handelt es sich nicht nur um individuelle Erfahrungen der Ausgrenzung und Abwertung vonseiten der Vorgesetzten, Kolleg*innen und Gepflegten, sondern auch um strukturell ungleiche Zugänge und Chancen am Arbeitsmarkt (Behtoui et al. 2017). Hier zeigt sich, dass eine schnelle, forcierte Erwerbsintegration nicht immer eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglicht. Vielmehr werden zugewanderte Personen unter Druck gesetzt, möglichst schnell eine Erwerbsarbeit zu finden – ob diese auch den individuellen Wünschen, Kompetenzen und Qualifikationen entspricht oder Entwicklungsmöglichkeiten bereithält, ist zweitrangig. Dadurch festigen sich Machtasymmetrien und segregierte Arbeitsmarktstrukturen.
Gleichzeitig haben diese Dynamiken einen Einfluss auf den Status von Pflege- und Sorgearbeit in der Gesellschaft. In Schweden, wie auch in anderen Ländern, ist der Personalmangel in der Pflege nicht nur Resultat von steigenden Bedarfen, sondern Ausdruck der geringen Wertschätzung, unzureichenden Bezahlung und prekären Arbeitsbedingungen. Statt diese Herausforderungen anzugehen und die Rahmenbedingungen strukturell zu verbessern, werden migrantische Personen ‚genutzt‘, um den Personalmangel zu bewältigen. Die Verantwortung für die Erbringung der Sorgearbeit wird an sie ausgelagert und strukturelle Veränderungen hintenangestellt. Das missachtet nicht nur die zentrale Rolle von Pflege- und Sorgearbeit in der Gesellschaft, es wertet auch diejenigen ab, die sie erbringen (Torres/Lindblom 2020).
Schweden als Vorbild für eine nachhaltige Strategie der Personalgewinnung?
Auf den ersten Blick wirkt der ‚schwedische Weg‘ nachhaltiger als die deutsche Anwerbung im Ausland. Zugewanderte Personen, die bereits im Land leben, werden in einen sicheren und sinnhaften Beruf integriert und gleichzeitig wird dem Personalmangel in der Pflege begegnet. Auch in Deutschland gibt es bereits Initiativen, die zugewanderte Personen im Inland gezielt in die Altenpflege integrieren. Um damit eine wirklich nachhaltige und sozial gerechte Strategie aufzubauen, braucht es aber flankierende Maßnahmen: Damit die Integration in die Pflege nicht auf Hilfskraftniveau endet, müssen sprachliche und fachliche Qualifizierungsmöglichkeiten geschaffen werden. Schnelle und effiziente Anerkennungsverfahren können die Dequalifizierung von bereits ausgebildeten Pflegepersonen verhindern. Es bedarf außerdem einer Auseinandersetzung mit Rassismus- und Diskriminierungsstrukturen, nicht nur um Betroffene individuell zu schützen, sondern auch strukturelle Machtasymmetrien aufzubrechen. Nicht zuletzt brauchen wir eine Politik, die den zentralen Stellenwert von Pflege- und Sorgearbeit anerkennt und diejenigen wertschätzt, die sie verrichten.
Literatur
Behtoui, Alireza/ Boréus, Kristina/Neergaard, Anders/Yazdanpanah, Soheyla (2017): Speaking up, leaving or keeping silent: racialized employees in the Swedish elderly care sector. In: Work, employment and society, 31(6), 954-971.
Bundesagentur für Arbeit (2025): Beschäftigungsstatistik. Online abrufbar unter: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Interaktive-Statistiken/Datenbanken/Datenbanken-BST-Nav.html.
Carstensen, Jeanette/Seibert, Holger/Wiethölter, Doris (2024): Internationalisierung der Pflege – Pflegekräfte mit ausländischer Staatsangehörigkeit und ihr Beitrag zur Fachkräftesicherung. IAB-Forschungsbericht 22/2024, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Fratzke, Susan (2017): Weathering crisis, forging ahead: Swedish asylum and integration policy. Washington DC: Migration Policy Institute.
Moberg, Linda/Blomqvist, Paula/Winblad, Ulrika (2018): Professionalized through audit? Care workers and the new audit regime in Sweden. In: Social Policy & Administration, 52(3), 631-645.
Statistics Sweden (2020): Foreign Born in Elderly Care. Sonderauswertung auf Basis von Daten von STATIV und dem schwedischen Arbeitsregister für die Jahre 2005, 2010, 2013 und 2018, unveröffentlicht.
Torres, Sandra/Lindblom, Jonas (2020): Migrant care workers in elderly care: what a study of media representations suggests about Sweden as a caring democracy. In: International Journal of Ageing and Later Life, 14(2), 61-87.
Yeates, Nicola (2009): Globalizing Care Economies and Migrant Workers: Explorations in Global Care Chains. London: Palgrave Macmillan.
Greta-Marleen Storath 2025, Von Schweden lernen? Integration als Strategie gegen den Pflegepersonalmangel, in: sozialpolitikblog, 08.05.2025, https://difis.org/blog/?blog=164 Zurück zur Übersicht

Dr. Greta-Marleen Storath ist Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen. Zuvor hat sie fünf Jahre am Sonderforschungsbereich 1342 „Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik“ der Universität Bremen gearbeitet und gelehrt. Im Rahmen eines vergleichenden Forschungsprojektes hat sie zur Rolle migrantischer Pflegekräfte im schwedischen Wohlfahrtsstaat promoviert.