sozialpolitikblog
Bunte Spiel-Bauklötze in den Farben rot, orange, grün, rosa, hellblau und gelb. Darauf stehen jeweils Zahlen.
Julia Jirmann, 29.02.2024

Das Ringen um Kinderfreibetrag und Kindergeld

Finanzminister Christian Lindner plant noch in diesem Jahr, die Kinderfreibeträge zu erhöhen, ohne dabei das Kindergeld erneut anzupassen. Damit würden einseitig Eltern mit höheren Einkommen entlastet. Das steht jedoch Vereinbarungen des Koalitionsvertrags entgegen. Verfassungsrechtlich wäre auch eine andere Lösung möglich, die wird aber noch zu wenig diskutiert.



Die Kinderfreibeträge spielen im Steuersystem für Eltern eine wichtige Rolle: Für die Höhe der Besteuerung ist das zu versteuernde Einkommen entscheidend. Dieses ergibt sich nach Abzug aller steuerlich abzugsfähigen Ausgaben sowie Freibeträge vom Bruttoeinkommen. Für Eltern spielen dabei die Freibeträge für Kinder eine große Rolle. Nach derzeitiger Regelung können Elternpaare im Jahr 2024 für jedes Kind insgesamt 9.312 Euro steuerlich geltend machen, 2023 waren es 8.952 Euro. Nach dem Vorschlag des Finanzministers sollen es nun sogar 9.540 Euro werden.


Die Freibeträge für Kinder setzen sich dabei aus zwei Komponenten zusammen: Zum einen der Kinderfreibetrag, der auf das Existenzminimum des Kindes abzielt (6.384 Euro) und grundlegenden Bedarf für Essen und Kleidung umfasst. Zum anderen der Freibetrag für die Betreuung, Erziehung oder den Ausbildungsbedarf (BEA) des Kindes (2.928 Euro).


Da der Einkommensteuertarif progressiv verläuft – das heißt, mit steigendem zu versteuerndem Einkommen nimmt der Steuersatz zu – profitieren von einer Anhebung der Freibeträge diejenigen mit hohem Einkommen stärker.

Kindergeld für mittlere und untere Einkommensgruppen

Es gibt grundsätzlich zwei Wege, wie der Staat Eltern entlastet: Die Kinderfreibeträge und das Kindergeld. Zunächst erhalten Eltern das Kindergeld. Im Jahr 2024 sind das 3.000 Euro. Bei der Steuererklärung werden dann die Kinderfreibeträge angesetzt, und das Finanzamt prüft, was für die Eltern günstiger ist: der Vorteil, der sich aus dem Abzug der Freibeträge ergibt, oder das Kindergeld von 3.000 Euro pro Jahr (250 Euro/Monat). Ist das zu versteuernde Einkommen der Eltern so hoch, dass der Vorteil aus den Freibeträgen über 3.000 Euro liegt, wird der Steuervorteil gewährt und Kindergeld verrechnet. Bei Eltern mit geringerem Einkommen bleibt es bei der Entlastung durch das Kindergeld. Im Jahr 2024 sind für Eltern mit einem gemeinsamen zu versteuernden Einkommen ab rund 85.000 Euro die Freibeträge lohnender.


Den größtmöglichen Steuervorteil aus den Kinderfreibeträgen erhalten auch aktuell schon Eltern, die den höchsten Einkommensteuersatz zahlen (45 Prozent zzgl. Solidaritätszuschlag). Der Abzug der derzeit geltende Kinderfreibetrag führt zu einer Steuerersparnis von rund 4.420 Euro im Jahr 2024 (368 Euro/Monat) pro Kind. Der Vorteil für Spitzenverdienende, die vom Kinderfreibetrag profitieren, ist damit pro Kind und Jahr 1.420 Euro höher als für die Eltern nur durch das Kindergeld entlastet werden. Da im Jahr 2024 nur die Freibeträge gestiegen sind, nicht aber das Kindergeld, ist der Vorteil der Familien mit hohen Einkommen im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. Nun soll er laut dem Finanzminister rückwirkend zum 1. Januar 2024 noch einmal angehoben werden.


Mit der geplanten Anhebung des Freibetrags würde die maximale Steuererleichterung auf 4.529 Euro steigen. Somit würde die Kluft zwischen Eltern, für die der Kinderfreibetrag von Vorteil ist, und Kindergeldbegünstigten noch weiter auseinandergehen, wenn das Kindergeld nicht auch erhöht wird.

Begründungen für die Erhöhung des Freibetrags auf dem Prüfstand

Linders Begründung für die einseitige Anhebung ist zum einen, dass im vorvergangenen Jahr das Kindergeld stärker gestiegen ist und der Freibetrag nun folgen müsse, und zum anderen, dass die Anpassung des Kinderfreibetrags an das gestiegene Existenzminimum verfassungsrechtlich geboten sei. Richtig ist, dass das Kindergeld seit 2022 stärker gestiegen ist als die Entlastung aus dem Freibetrag. Das Kindergeld wurde seit 2022 für das erste und zweite Kind um 372 Euro pro Jahr (14 Prozent) erhöht, während die maximale Steuerersparnis aus den Freibeträgen für Kinder im gleichen Zeitraum um 362 Euro (9 Prozent) stieg (zur Entwicklung des Kindergeld und des Kinderfreibetrags von 1998 bis 2024 siehe sozialpolitik-aktuell.de). Somit hat sich innerhalb der Zeit der Ampel-Regierung die Entlastungswirkung durch die Freibeträge für Familien, die den höchsten Steuersatz zahlen, gegenüber den Kindergeldbegünstigten leicht verkleinert.


Laut Koalitionsvertrag ist es das erklärte „perspektivische Ziel” der Bundesregierung, die Schere der Entlastungswirkungen von Freibeträgen und Kindergeld zu schließen. Um das zu erreichen, müsste auch in 2024 und den Folgejahren mit jeder Anhebung der Freibeträge das Kindergeld steig. Darauf hatte sich die Bundesregierung bereits mit dem Gesetzesentwurf zur Kindergrundsicherung bereits geeinigt (siehe § 7 des Entwurfs der Bundesregierung zur Einführung einer Kindergrundsicherung).


Wird nun der Freibetrag entsprechend Linders Vorschlag einseitig erhöht, wäre die Entlastung für eine Familie, die den höchsten Steuersatz zahlt, seit 2022 um 471 Euro (11,6 Prozent) pro Kind gestiegen. Im Ergebnis ginge die Schere zwischen der Entlastung aus dem Kinderfreibetrag und dem Kindergeld weiter auseinander und würde dann 99 Euro pro Jahr und Kind mehr betragen als zu Beginn der Ampelregierung. Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel, die Schere der Entlastungswirkung von Kindergeld und Freibeträgen zu schließen, würde in weite Ferne rücken.


Lindners zweite Begründung, dass die Anhebung des Freibetrags regelmäßig verfassungsrechtlich geboten sei, um ihn das steigende Existenzminimum anzupassen, stimmt ebenfalls. Allerdings ginge das auch, ohne die Entlastung für reiche Familien zu vergrößern. Der Freibetrag für Kinder, der für das sächliche Existenzminimum gewährt wird, muss ansteigen. Der zweite Freibetrag, der BEA für Betreuung, Erziehung oder Ausbildung (BEA) des Kindes, könnte entsprechend abgesenkt werden, sodass in die Freibeträge für Kinder in Summe konstant bleiben oder sogar sinken. Die Höhe des BEA gilt als verfassungsrechtlich umstritten, unter anderem weil die tatsächlichen Aufwendungen für Betreuung, Erziehung oder Ausbildung bei den meisten Steuerpflichtigen in dieser Höhe nicht anfallen dürften, wie das DIW in einer Studie argumentiert. 

Einheitliches Kindergeld als langfristige Lösung

 Der fortwährende Streit um die Entlastungswirkung der Freibeträge zeigt vor allem, dass eine Angleichung der Entlastungen für alle Eltern längst überfällig ist. Um die Schere zwischen Eltern mit geringen und sehr hohen Einkommen zu schließen, sollten die Kinderfreibeträge entfallen. Das System der Familienentlastung sollte stattdessen komplett auf Transferleistungen wie etwa das Kindergeld umgestellt werden. Dann würden alle Eltern, unabhängig von ihrem Einkommen, denselben Entlastungsbetrag für jedes Kind erhalten. Diese Umstellung wäre verfassungsrechtlich unbedenklich, sofern die Transferleistung so hoch ist, dass sie bei allen ausreicht, um das Existenzminimum der Kinder steuerlich freizustellen. Praktisch bedeutet das: Das Kindergeld muss so hoch sein, dass es dem Produkt aus Höchststeuersatz plus Soli und dem Existenzminimum für Kinder entspricht. Der Vorschlag ist daher zwar mit höheren Kosten verbunden, aber langfristig wäre ein einheitliches Kindergeld wünschenswert.


Julia Jirmann 2024, Das Ringen um Kinderfreibetrag und Kindergeld, in: sozialpolitikblog, 29.02.2024, https://difis.org/blog/?blog=104

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Unzählige Pillen in verschiedenen Farben und Formen.
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Sieben uralte und verstaubte Bücher lehnen auf einem Regalbrett.
Cornelius Torp, 02.06.2022
Does History Matter? Zur Rolle der Geschichtswissenschaft in der Sozialpolitikforschung
Wenn man als Historiker – üblicherweise als einziger Vertreter seines Faches – als Referent auf sozialpolitischen Fachtagungen auftritt, hat das zuweilen den Charakter einer „Vorgruppe“ bei einem Rockkonzert, die zuständig dafür ist, den Saal auf „Temperatur“ zu bringen. Für die nachfolgenden Redner und Rednerinnen jedenfalls spielt die historische Dimension zumeist keine Rolle, sie richten ihr Augenmerk auf gegenwärtige sozialpolitische Probleme und beziehen sich in ihren Analysen auf möglichst aktuelle empirische Daten.
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Nahaufnahme einer alten, faltigen Hand mit ausgestreckten Fingern in Schwarzweiß.
Simone Leiber, Verena Rossow, 02.06.2022
Kleine Revolution für die sogenannte „24-Stunden-Pflege“?
„Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich“, mit diesem Satz im Koalitionsvertrag leiten die Ampel-Parteien Mitte November 2021 ihre geplanten rechtlichen Neuregelungen ein. Zu den Gestaltungsdetails ist an dieser Stelle nicht mehr zu finden – und dennoch ist die Aussage so etwas wie eine kleine Revolution im Bereich der häuslichen Pflege.
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