Das Menschenrecht auf Wohnen endlich einlösen
Viele Menschen haben in Deutschland kein eigenes Dach über dem Kopf. Vor allem in Ballungsgebieten fehlt es an bezahlbarem Wohnraum für Menschen mit geringem Einkommen. Lange hat die Bundespolitik weggeschaut und das Thema Kommunen und Länder überlassen. Das hat sich nun geändert.
In der letzten Legislaturperiode hat die Bundesregierung eine Bundesstatistik der untergebrachten Menschen auf den Weg gebracht, deren erste Ergebnisse in diesem Sommer veröffentlicht wurden. Sie zeigen: Zum Stichtag 31. Januar 2022 waren in Deutschland rund 178.000 Personen wegen Wohnungslosigkeit untergebracht, beispielsweise in vorübergehenden Übernachtungsmöglichkeiten oder in Not- und Gemeinschaftsunterkünften. Für den Herbst erwarten wir den ersten Wohnungslosenbericht der Bundesregierung.
Lebenslagen von Wohnungslosen
Seit Ende September 2022 liegt im Auftrag des BMAS ein Forschungsbericht vor, der erstmalig bundesweit repräsentativ den Umfang, die Struktur und einige wesentliche Merkmale der Lebenslagen von Wohnungslosen ermittelt hat, die ohne Unterkunft auf der Straße oder in Behelfsunterkünften übernachten oder als verdeckt Wohnungslose vorübergehend eine Übernachtungsmöglichkeit bei Bekannten oder Angehörigen nutzen. Die Befunde sind erschreckend. Sie zeigen nun in Zahlen, was Fachleute in der Wohnungslosenhilfe schon lange wissen: Die Hälfe der ca. 37.400 Wohnungslosen ohne Unterkunft ist wegen Mietschulden in diese Situation geraten; 60 % haben dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen durch das Leben ohne Unterkunft; Zweidrittel haben Gewalt gegen sich erlebt. Etwa ein Drittel der Wohnungslosen ohne Unterkunft bzw. der verdeckt Wohnungslosen hat sich erfolglos bei kommunalen Stellen, beim Jobcenter oder einer Beratungsstelle um Hilfe bemüht. Diese Befunde machen deutlich, wie wichtig der Ausbau präventiver Unterstützung ist. Klar ist auch, dass wir ein schnelle und dauerhafte Wohnungsversorgung dringend brauchen.
Die Ampelkoalition hat das Thema Bekämpfung von Wohnungslosigkeit erstmalig zum Gegenstand eines Koalitionsvertrags gemacht und sich das Ziel gesetzt, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beseitigen. Ob dieses Ziel erreicht wird, steht im Moment in den Sternen. Abzusehen ist bereits heute, dass es nicht gelingen wird, 100.000 Sozialwohnungen zu bauen, die dringend notwendig sind. Dies zeigt, dass neben den Anstrengungen Neubauwohnungen zu errichten, weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Beseitigung von Wohnungslosigkeit tatsächlich anzugehen.
Programm gegen Wohnungslosigkeit
Es muss dafür Sorge getragen werden, dass Wohnungen im bezahlbaren Segment erhalten bleiben und bei der Weitervermietung Kostenstabilität zugesichert (?) wird. Deswegen müssen die Kommunen alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen. Hierzu gehört auch, mit einer rechtsfesten Milieuschutzsatzung im Baugesetz und der Wohnraumsatzung in den Kommunen stärker aktiv zu werden und preisgünstigen Wohnraum zu sichern. Ein Programm gegen die Wohnungslosigkeit umfasst aber weitere Punkte:
- Wohnungslose Menschen brauchen Unterstützung, um Zugang zu bezahlbaren Wohnungen im Wohnbestand zu haben.
- Auf kommunaler Ebene müssen die Träger der Wohnungslosenhilfe dringend bei der Akquise und der Vermittlung von Wohnungen mit eigenem Mietvertrag an Wohnungslose unterstützt werden.
- Housing First sollte als Leitgedanke zusätzlich in das Hilfeangebot implementiert werden und durch entsprechende Angebote innerhalb der jeweiligen kommunalen Versorgungslandschaft realisiert werden.
- Wenn keine vorübergehende Unterbringung in Notunterkünften möglich ist, muss in Ferienwohnungen, Pensionen und Hotels untergebracht werden.
- Ausgebaut werden müssen kommunale Fachstellen zur Prävention von Wohnungsverlust.
- Kooperationen von Gerichten und kommunalen Trägern bei Räumungsklagen müssen etabliert werden.
- Ambulante und nachgehende Hilfen müssen ausgebaut und verstetigt werden.
- Es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, damit alle Menschen Zugang zu einer Meldeadresse erhalten, welche die Voraussetzung für alle Behördenzugänge und auch zu Bankkonten ist.
Zudem wäre unbedingt zu verhindern, dass jetzt noch mehr Menschen ihre Wohnung verlieren, weil sie durch die Energiekrise nicht mehr in der Lage sind, die Wohnnebenkosten zu zahlen. Die durch die Bundesregierung auf den Weg gebrachte Reform des Wohngeldes und der Heizkostenzuschuss sind hierfür erste wichtige Maßnahmen. Durch die Reform soll erreicht werden, dass 1,4 Mio. mehr Menschen Zugang zu Leistungen des Wohngeldes erhalten. Das ist auch gut so.
Aber: Wir wissen schon heute aus der Praxis, dass insbesondere in Ballungsgebieten Wohngeldstellen personell nicht in der Lage sein werden, diese Anträge schnell zu bearbeiten. In Großstädten wie München sind die Wartezeiten schon jetzt über 10 Monate. Der Gesetzesentwurf sieht deswegen vor, dass Wohngeld auch vorläufig gewährt werden kann. Problematisch ist allerdings, dass bei einer nachträglich festgestellten mangelnden Berechtigung die Wohngeldzahlungen zurückgefordert werden können. Bei Wartezeiten bis zu 12 Monaten kommt so schnell ein Betrag über 4.000 Euro zusammen. Bedenkt man, dass auch heute Mietschulden bereits ein zentraler Grund für Obdachlosigkeit sind, zeigt dies, dass wir dringend eine Deckelung der Rückzahlungsforderungen brauchen, damit die Reform nicht zu einen Bumerang für die Betroffenen wird.
Wohnkosten und Schulden in der Grundsicherung und im Mietrecht
Auch in der Grundsicherung besteht Nachbesserungsbedarf, zum Beispiel. bei der Übernahme von Wohnkosten und Mietschulden. Die Beratungspraxis der Caritas zeigt, dass es für viele Menschen im Grundsicherungsbezug vor allem in Ballungszentren schwierig ist, angemessenen Wohnraum zu finden. Zu niedrig angesetzte Obergrenzen, die den Wohnungsmarktverhältnissen vor Ort nicht gerecht werden, haben zur Folge, dass die tatsächlichen Wohnkosten nicht in voller Höhe übernommen werden. Mietpauschalen in der Sozialhilfe, die in der Bürgergeldreform jetzt geplant sind, sind grundsätzlich abzulehnen, da zu niedrig angesetzte Pauschalen dazu führen, dass Kosten aus dem Regelsatz beglichen werden müssen. Ermöglicht werden sollte die Übernahme von Mietschulden als Zuschuss durch das Jobcenter, um Wohnungslosigkeit zu verhindern. Gegenwärtig ist das nur über ein Darlehen möglich.
Auch das Mietrecht muss dringend angegangen werden. Bundesbauministerin Klara Geywitz hat den Beschluss des Koalitionsvertrages vom 3. September 2022 so interpretiert, dass der Schutz vor Kündigungen erhöht werden muss und nachträgliche Zahlungen von Mietschulden die Kündigung verhindern. Der Wertungswiderspruch zwischen der fristlosen Kündigung wegen Zahlungsrückstand und der ordentlichen Kündigung aus demselben Grund muss gelöst werden. Gegenwärtig kann der Mieter zwar die fristlose Kündigung durch die Zahlung des Mietrückstands innerhalb der Schonfrist ausgleichen. Die häufig zeitgleich ausgesprochene fristgerecht ausgesprochene ordentliche Kündigung bleibt jedoch wirksam, was schlussendlich zum Wohnungsverlust führt. Das Justizministerium ist dringend aufgefordert, eine solche Reform schnell auf den Weg zu bringen.
Klar ist: Es wird nicht von heute auf morgen gelingen, genügend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Solange keine unmittelbare Wohnungsversorgung möglich ist, muss auf der Ebene der Länder und Kommunen die flächendeckende Einrichtung und Finanzierung von bedarfsgerechten Angeboten der Wohnungsnotfallhilfe in Zusammenarbeit der jeweiligen Leistungsträger mit den der Freien Wohlfahrtspflege gewährleisten werden. Zudem müssen für Notunterbringungen verbindliche Qualitätsstandards festgelegt werden und am Aufenthaltsort umgesetzt werden. Gerade die Coronakrise hat gezeigt, wie wichtig solche Standards zum Beispiel beim Gesundheitsschutz sind.
Birgit Fix 2022, Das Menschenrecht auf Wohnen endlich einlösen, in: sozialpolitikblog, 06.10.2022, https://difis.org/blog/?blog=27 Zurück zur Übersicht
Dr. Birgit Fix ist Leiterin der Kontaktstelle Politik des Deutschen Caritasverbandes in Berlin. Sie beschäftigt sich vor allen mit Armuts- und Arbeitsmarktpolitik. Als Sozialwissenschaftlerin hat sie viele Jahre am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim im Bereich vergleichende Familienpolitik und Sozialpolitik geforscht.