Zugang verweigert
Die Krise am Wohnungsmarkt trifft diejenigen am meisten, die von ihr am stärksten betroffen sind: Wohnungslose Menschen. Welche Diskriminierungen sie bei der Suche nach einer Wohnung erleben, zeigt eine neue Studie.
Die Krise am Wohnungsmarkt hat breite Teile der Bevölkerung erreicht. Selbst Menschen, die über ein mittleres Einkommen verfügen, gelingt es in Ballungszentren nur noch schwer, eine bezahlbare Mietwohnung zu finden. Noch schwerer wird es, wenn eine Wohnung bestimmten Bedürfnissen entsprechen muss, also zum Beispiel barrierefrei sein oder Platz für drei oder mehr Kinder bereithalten. Wohnen wird deswegen in aktuellen sozialpolitischen Analysen als DIE neue soziale Frage gesehen (vgl. auch die DIFIS-Studie von Weishaupt 2024).
Der Preisanstieg auf dem Mietmarkt hat eine seiner Ursachen im fehlenden Wohnraum. Das Pestel Institut (2024) geht für das Jahr 2024 von einem Defizit von 800.000 Wohnungen aus. Auch das Frühjahrsgutachten der Immobilienwirtschaft weist auf eine enorme Lücke zwischen Nachfrage und Angebot hin (Feld et al. 2024). Der Bestand an Sozialwohnungen geht kontinuierlich zurück und liegt im Jahr 2023 bei nur noch rund 1,1 Millionen. Den kommunalen Richtlinien für die Unterkunftskosten im Bereich SGB II oder XII entsprechen immer weniger Mietwohnungen (Holm et al. 2021) – insbesondere in den Ballungszentren nimmt die soziale Segregation deswegen zu.
Wohnungslose Menschen auf dem Mietmarkt
Unter der Dynamik am Wohnungsmarkt leiden diejenigen besonders, die am dringendsten auf Wohnraum angewiesen sind: wohnungslose Menschen. Für den Stichtag 31. Januar 2022 ging die Wohnungslosenberichterstattung des Bundes von 263.000 wohnungslosen Menschen aus (BMAS 2022). Im aktuellen Jahr 2024, in dem die Berichterstattung zum ersten Mal wiederholt wird, dürfte die Zahl deutlich höher liegen. Sowohl die Bundesstatistik über Wohnungsnotfälle (DeStatis 2023) als auch zum Beispiel die Wohnungsnotfallstatistik in NRW (MAGS 2023) verzeichnen in den letzten beiden Jahren einen deutlichen Anstieg wohnungsloser Menschen.
Bei der großen Konkurrenz am Wohnungsmarkt haben wohnungslose Menschen kaum eine Chance, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Und das liegt nicht nur an einem meist niedrigen Einkommen und den komplizierten Bewilligungsverfahren bei den Behörden, die sich als strukturelle Benachteiligung erweisen – welche Vermieterin will schon auf die Bewilligung vom Amt warten? Es liegt auch an der Diskriminierung, die wohnungslose Menschen erfahren.
Auf Initiative und in Zusammenarbeit mit den beiden ehemaligen Wohnungslosen Arnd Liesendahl und Michael Müller haben wir eine Studie durchgeführt, in der wohnungslose Menschen zu den Wegen und den Erfahrungen bei der Wohnungssuche befragt wurden (Gille et al. 2024). Die Ergebnisse beruhen auf den Aussagen von knapp 300 ehemalig und aktuell wohnungslosen Menschen in Deutschland. 70 Prozent waren zum Zeitpunkt der Befragung wohnungslos, ein Viertel auch obdachlos.
Drei Viertel aller befragten Wohnungslosen haben Diskriminierung erlebt
Die Ergebnisse zeigen: Wohnungslose Menschen sind bei der Wohnungssuche massiven Diskriminierungen ausgesetzt. Rund drei Viertel der Befragten haben bei der Wohnungssuche Diskriminierung erfahren. Dabei zeigt sich: Sehr viele werden just aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit diskriminiert. Von den Menschen mit Diskriminierungserfahrung geben 72 Prozent an, dass sie aufgrund von Wohnungslosigkeit diskriminiert wurden; das ist die Hälfte aller Befragten. Neben Wohnungslosenfeindlichkeit erleben 71 Prozent der diskriminierten Personen klassistische Abwertungen. Außerdem erfahren die Betroffenen Diskriminierungen aufgrund von Rassismus, Agism oder Queerfeindlichkeit.
In den Interviews berichten die Befragten anschaulich von ihren Erfahrungen. Diese Schilderungen zeigen: Die Diskriminierungen sind manifest und nicht nur latent, zahlreich und zum Teil äußerst massiv. Das reicht von schlichten Aussagen wie „an Wohnungslose vermieten wir nicht“, über Empfehlungen „wenn du wohnungslos bist, geh in die Notunterkunft“, moralische Bewertungen „man wird belehrt, dass es nie zur Wohnungslosigkeit gekommen wäre, wenn man seinen Pflichten nachgekommen wäre“ bis hin zu offensiven Beleidigungen „Penner nehmen wir nicht“ oder „Wir nehmen keine Assis vom Amt“. Statistisch signifikante Zusammenhänge der Diskriminierungserfahrung mit anderen soziodemografischen Merkmalen zeigen sich nicht, also zum Beispiel mit Geschlecht, Einkommen, Nationalität oder der Dauer der Wohnungslosigkeit. Ein Hinweis, dass das Merkmal „Wohnungslosigkeit“ alle anderen möglichen Diskriminierungsgründe überlagert. Anders gesagt: Nichts behindert so sehr wie die Wohnungslosigkeit.
Bei der Suche nach einer Wohnung sind wohnungslose Menschen also nicht nur die letzten in der Schlange. Ihnen ist der Zugang zu Wohnraum aufgrund von Diskriminierung generell versperrt. Die festgestellten Diskriminierungen verfestigen die Wohnungslosigkeit: Wer einmal wohnungslos ist, hat es schwerer als andere Personen, einen Mietvertrag abzuschließen.
Damit wird ausgerechnet denjenigen der Zugang zum Wohnungsmarkt verweigert, die am meisten auf ihn angewiesen sind. Gelingt es einzelnen Befragten trotz dieser Barrieren eine Wohnung anzumieten, kann sich die prekarisierte Lebenslage dennoch verfestigen. Dann berichten sie zum Beispiel über Preisdiskriminierungen, erhebliche Zugeständnisse beim Wohnungszustand oder sexuelle und betriebliche Ausbeutungsverhältnisse, die mit dem Mietverhältnis einhergehen können.
Wie die Sozialpolitik handeln kann
Aus unserer Studie ergeben sich vier zentrale Aufforderungen für sozialpolitisches Handeln:
Erstens sind auch wohnungslose Menschen auf mehr bezahlbaren Wohnraum angewiesen. Das kann unter anderem durch (Preis-)Regulierungen, strukturelle und finanzielle Förderung gemeinnütziger Wohnungswirtschaft, Umnutzungen und aktive Bodenpolitik erreicht werden.
Zweitens müssen sozialpolitische Leistungen und Infrastrukturen verbessert werden, die wohnungslose Menschen unmittelbar betreffen: ein garantierter Zugang zum Internet, der Abbau von sozialrechtlichen Hindernissen für EU-Bürger*:innen oder ein wirksamer Schutz vor den exkludierenden Wirkungen negativer Schufa-Auskünfte sind Beispiele dafür.
Drittens muss der Diskriminierungsschutz so ausgebaut werden, dass auch wohnungslose Menschen von ihm profitieren können, zum Beispiel durch die Aufnahme des sozialen Status als Diskriminierungsgrund in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), hinausreichende Angebote der Beratungsstellen im Bereich Antidiskriminierung in die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und eine verbesserte Dokumentation.
Viertens benötigen wohnungslose Menschen aber vor allem spezifische Zugänge zum Wohnungsmarkt. Dazu zählen zum Beispiel öffentliche Garantieerklärungen für mögliche Mietausfälle, Ausnahmeregelungen bei den Kosten der Unterkunft, feste Belegungsquoten für wohnungslose Personen im öffentlichen und privaten Wohnungssegment, den Einsatz von Sozialmakler:innen und die konsequente Umsetzung von Housing First.
Im Angesicht der strukturellen Ausschlüsse, die wohnungslose Menschen erfahren, kann das Menschenrecht auf Wohnen für wohnungslose Menschen ohne solche Instrumente nicht eingelöst werden. Das muss entsprechend auch beim Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit berücksichtigt werden (BMWSB 2024), der im Frühjahr 2024 verabschiedet werden soll.
Literatur
BMAS - Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2022): Ausmaß und Struktur von Wohnungslosigkeit. Der Wohnungslosenbericht 2022 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Pressemitteilungen/2022/bundesregierung-legt-ersten-wohnungslosenbericht-vor.html (08.03.2024).
BMWSB – Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (2024): Nationaler Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit 2024. BMWSB hat die Länder- und Verbändeanhörung eingeleitet. https://www.bmwsb.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/Webs/BMWSB/DE/2024/03/nap.html (08.03.2024).
Gille, C.; Liesendahl, A.; Müller, M.; van Rießen, A. (2024): Zugang verweigert. Barrieren und Diskriminierung wohnungsloser Menschen am Wohnungsmarkt. DOI: 10.20385/OPUS4-4330. https://diskriminierungneindanke.de/ (08.03.2024)
Feld, L. P.; Carstensen, S.; Gerlin, M.; Wandzik, C.; Simons, H. (2024): Frühjahrsgutachten Immobilienwirtschaft 2024 des Rates der Immobilienweisen. https://zia-deutschland.de/fruehjahrsgutachten/(08.03.2024)
Holm, A.; Regnault, V.; Sprengholz, M.; Stephan, M. (2021): Die Verfestigung sozialer Wohnversorgungsprobleme. Working Paper, 217. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.
MAGS – Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (2023): Integrierte Wohnungsnotfall-Berichterstattung 2022 in Nordrhein-Westfalen. Struktur und Umfang von Wohnungsnotfällen. https://www.mags.nrw/hilfe-bei-wohnungslosigkeit (15.01.2024).
Pestel Institut (2024): Bauen und Wohnen 2024 in Deutschland. Hannover. https://bauen-und-wohnen-in-deutschland.de/wp-content/uploads/2024/01/Studie-Bauen-und-Wohnen-2024-in-Deutschland.pdf (08.03.2024)
Weishaupt, Timo J. (2024): Wohnungs- und Sozialpolitik in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschung: Zusammenhänge, Entwicklungsstand, Forschungslücken. DIFIS Studie 2024/01. Duisburg/Bremen: DIFIS.
Christoph Gille und Anne van Rießen 2024, Zugang verweigert, in: sozialpolitikblog, 21.03.2024, https://difis.org/blog/?blog=109 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Christoph Gille ist Professor für Soziale Arbeit im Kontext von Armut und Ausgrenzung an der Hochschule Düsseldorf. Er ist Co-Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von Armut, Arbeits- und Wohnungslosigkeit, dem Zusammenspiel von Sozialer Arbeit und Sozialpolitik und akteursbezogenen Forschungsperspektiven.
Dr. Anne van Rießen ist Professorin für Methoden Sozialer Arbeit an der Hochschule Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Partizipation und Demokratisierung Sozialer Arbeit, Nutzer.innenforschung, Sozialraumbezogene Soziale Arbeit und Wohnen. Kontakt: anne.van_riessen@hs-duesseldorf.de
Bildnachweis: Michael Meyer