sozialpolitikblog
Ein rosafarbenes Sparschwein steht auf einem Holzboden vor einer Steinwand.
Pieter Vanhuysse, 23.06.2022

Wohlfahrtsstaaten als Umverteilungsmaschinen über den Lebenszyklus

Mehr Sparschwein als Robin Hood?

Wohlfahrtsstaaten sind heute große, ressourcenaufbrauchende Institutionen in Europa. Aber was tun sie eigentlich? Viele Menschen betrachten Wohlfahrtsstaaten als eine Art politischen Robin Hood: Sie besteuern die Reichen und verteilen es an die Armen. Andere verweisen auf die Funktion eines Sparschweins: die Umverteilung von Ressourcen „über den Lebenszyklus“. Das Erwerbseinkommen der Menschen konzentriert sich stark in der Mitte des Lebens, aber sie müssen auch in der Kindheit und im Alter konsumieren. Glücklicherweise gibt es immer Mitbürger*innen im erwerbsfähigen Alter, die besteuert werden können, um Transfers an Kinder und ältere Menschen zu finanzieren.



Doch welche dieser beiden Kernfunktionen des Wohlfahrtsstaates ist wichtiger – Robin Hood oder Sparschwein? Zusammen mit den Soziologen Marton Medgyesi und Robert Gal habe ich versucht, dies herauszufinden, indem wir 400.000 Europäer*innen aus 22 Ländern betrachteten. In Vanhuysse et al. (2021) präsentieren wir die allererste Analyse der gemeinsamen Verteilung über sozioökonomischen Status und Alter von (a) allen Geld- und Sachleistungen (‚Leistungen‘), (b) Finanzierungsbeiträgen (‚Steuern‘), und (c) den resultierenden ‚Nettoleistungen‘.


Wir messen den sozioökonomischen Status mit einem vierdimensionalen Indikator der OECD und berücksichtigen Bildung, Beschäftigungsstand, und Haushaltsbesitz (bzgl. materieller Unterversorgung und Wohnen). Wie sich herausstellte, ist das Rennen nicht besonders knapp: Wohlfahrtsstaaten verteilen viel mehr über das Alter um als über die Statusgrenzen hinweg. Das Sparschwein schlägt Robin Hood in Europa um Längen.

Das Sparschwein schlägt Robin Hood

Wohlfahrtsstaaten werden heutzutage oft als ineffektive Robin-Hood-Vehikel kritisiert, die der Mittelschicht mehr dienen als den Armen. Tatsächlich sind sie aber besser als Umverteilungsmaschinen zwischen den Altersgruppen zu charakterisieren, die eine wichtigere Aufgabe recht gut erfüllen: die Glättung des Lebenszykluskonsums. Bei den Sozialleistungen ist das Alter viel wichtiger, um den Zugang zu erklären; der Status ist hier fast irrelevant. Bei den Steuern sind sowohl das Alter als auch die Schicht wichtig, aber das Alter erklärt immer noch einen etwas größeren Teil der Varianz. Bei den Nettoleistungen (Leistungen abzüglich Steuern) ist das Alter mit 78 Prozent der Varianz, die durch beide Variablen erklärt wird, wieder sehr viel wichtiger.


Abbildung 1 veranschaulicht unsere Ergebnisse. Die Reliefkarte der Nettowohlfahrtsleistungen ähnelt einer Schlucht mit einem Fluss, der flussabwärts in Richtung des Lesenden fließt: Das rechte Flussufer befindet sich auf der linken Seite von Abbildung 1 und umgekehrt. Der Fluss hat steile linke und rechte Ufer (älteres bzw. jüngeres Alter). Er fließt unterirdisch, wo er noch steiler wird. Mehr als alles andere sind Wohlfahrtsstaaten Sparschweine. Das Alter stellt den Sozialstatus in den Schatten. In jeder Kategorie für den Sozialstatus erhält die älteste Altersgruppe die meisten Nettoleistungen (und die zweitälteste erhält die zweithöchste Summe, außer in der Gruppe mit dem höchsten Sozialstatus). Sobald der Fluss unter der Erde ist, verwandelt er sich schnell in einen Wasserfall, der in den Gruppen mit dem höheren Sozialstatus und mittleren Alters besonders steil abfällt. Alle Altersgruppen unter 18 Jahren und alle Altersgruppen über 63 Jahren sind in jeder Sozialstatus-Kategorie Nettoempfänger von Sozialleistungen. In einer Nettobetrachtung der Umverteilung wirken die europäischen Wohlfahrtsstaaten progressiv. In der untersten Kategorie für Sozialstatus sind alle Altersgruppen Nettoempfänger. Das unterste Statusdezil ist in allen Altersgruppen zwischen 10 und 62 Jahren der höchste Nettoempfänger.


Abbildung 1: Pro-Kopf-Nettosozialleistungen (Leistungen minus Steuern) nach Alter und Sozialstatus in 22 EU-Ländern

. Pro-Kopf-Nettosozialleistungen (Leistungen minus Steuern) nach Alter und Sozialstatus in 22 EU-Ländern            

 Quelle: Vanhuysse et al. (2021).

Im Hinblick auf die Nettoleistungen ist die Umverteilung zwischen den Altersgruppen viel wichtiger als die zwischen den Statusgruppen. Alles in allem sind die europäischen Wohlfahrtsstaaten Umverteilungsmaschinen über den Lebenszyklus: Sie dienen in erster Linie als Kanal, über den Menschen im erwerbsfähigen Alter (insbesondere solche mit höherem Status) jüngere und ältere Menschen im nicht erwerbsfähigen Alter (über alle soziale Statusgruppen hinweg) unterstützen. Empirisch gesehen sind sie weder primär noch ausschließlich für die Armutsbekämpfung und die Reduzierung der Ungleichheit zuständig. Dies hat vielfältige Folgen dafür, wie wir die Funktionsweise der Sozialpolitik verstehen und bewerten.

Vier Implikationen dafür, wie wir Sozialpolitik neu bewerten und verstehen sollten


(1) Ein Plädoyer dafür, den Wohlfahrtsstaat in Schutz zu nehmen

Ein wichtiger Maßstab für die Beurteilung des Erfolgs der europäischen Wohlfahrtsstaaten ist in der Regel, inwieweit sie Armut und Ungleichheit wirksam reduzieren. Inzwischen ist es für die OECD, die Weltbank und die nationalen Regierungen zur Routine geworden, dies zu messen. Es wird häufig festgestellt, dass Gruppen mit höherem Sozialstatus genauso viel oder mehr erhalten als Gruppen mit niedrigerem Sozialstatus – das „Nicht-nur-die-Armen-Paradox“ oder der „Matthäus-Effekt“. Matthäus-Effekte sind real und lassen sich möglicherweise nur schwer beseitigen. Aber unser Befund, dass die Wohlfahrtsstaaten weder in erster Linie noch ausschließlich für die Armutsbekämpfung und den Einkommensausgleich verantwortlich sind, sollte sie von einem Teil der Vorwürfe der Zielverfehlung und Ineffektivität entlasten. Wohlfahrtsstaaten erfüllen eine wichtigere andere Aufgabe: die Glättung des Konsums über den Lebenszyklus.

 

(2) Ein Plädoyer dafür, auch die Wirkung der Nicht-Sozialpolitik auf die Ungleichheit zu prüfen

Unsere Ergebnisse bedeuten nicht, dass Sozialpolitik nicht zur Reduzierung der Ungleichheit eingesetzt werden sollte. Sondern auch andere Formen staatlicher Aktivitäten – “Nicht-Sozialpolitik“ – sollten in die gleichen Bemühungen einbezogen werden, insbesondere die Felder der sogenannten Daseinsvorsorge und der Umweltpolitik. So wirken sich beispielsweise Straßenbau- und andere Infrastrukturprojekte ebenso stark auf die Gleichstellung aus wie Sicherheitsvorschriften, Luftverschmutzungsnormen, öffentliche Investitionen in den Luftverkehr, Geld- und Wechselkurspolitik und Kohlenstoffsteuern. Die von Präsident Macron 2018 angekündigte Kraftstoffsteuer in Frankreich führte zu massiven Protesten der Gelbwesten, da sie als unsoziale Politik mit erheblichen regressiven Auswirkungen wahrgenommen wurde. Wenn die Linderung von Armut und die Verringerung von Ungleichheit als gesellschaftlich wertvoll erachtet werden, könnten auch nicht-sozialpolitische Maßnahmen nach demselben Maßstab beurteilt werden.

 

(3) Ein Plädoyer für eine explizitere Umdeutung des Wohlfahrtsstaates als Umverteilungsmaschine über den Lebenszyklus

Unsere Ergebnisse deuten auf die Notwendigkeit hin, das, was Wohlfahrtsstaaten hauptsächlich tun, neu zu interpretieren. Für viele gelten Wohlfahrtsstaaten als das Hauptmittel zur Reduzierung von Armut und Ungleichheit. Für andere sind sie eine marktkorrigierende Institution und/oder sorgen dafür, dass Menschen weniger von den Ressourcen der eigenen Familie abhängig sind. Wir widersprechen diesen Funktionen nicht: Wohlfahrtsstaaten haben sich aus verschiedenen Gründen entwickelt und erfüllen verschiedene Funktionen. Wir plädieren jedoch aus empirischen Gründen für eine Verschiebung des analytischen Schwerpunkts. Wohlfahrtsstaaten fungieren in erster Linie als institutionelle Lösung für das grundlegende Problem der Finanzierung des Lebenszykluskonsums und so sollten sie auch betrachtet werden. Die europäischen Wohlfahrtsgesellschaften lösen dieses Problem auf besondere Weise: Sie sind Wohlfahrtsstaaten für ältere Menschen in kinderorientierten Gesellschaften, die implizit Eltern ganz stark belasten.

 

(4) Ein Plädoyer für eine politische Ökonomie der Zeit und der Generationen

Der Transfer von Ressourcen zwischen den Generationen ist das Bindemittel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt über die Zeit. Die Finanzierung des Lebenszykluskonsums hängt davon ab, wie die aufeinanderfolgenden Wählergenerationen ihre relative Verhandlungsmacht nutzen. Die künftige Forschung sollte die Generationengerechtigkeit konsequenter unter dem Gesichtspunkt konzeptualisieren, wie die Politik nachhaltig bleiben kann und wie die Generationen durch Transferzahlungen miteinander verbunden sind. Wir brauchen eine neue politische Ökonomie der Zeit und der Generationen.


POLITIKEMPFEHLUNGEN

  1. Auch Politikfelder jenseits der Sozialpolitik, „Nicht-Sozialpolitik“, sollten danach beurteilt werden, inwieweit sie zur Verringerung von Ungleichheit und Armut beitragen.
  2. Wohlfahrtsstaaten sollten in erster Linie als institutionelle Lösungen für das Problem der Finanzierung des Lebenszykluskonsums betrachtet werden.
  3. Zentral ist das Erreichen politischer Nachhaltigkeit: Die jüngeren Generationen müssen weiterhin bereit sein, den Konsum der älteren Generationen zu finanzieren.












Pieter Vanhuysse 2022, Wohlfahrtsstaaten als Umverteilungsmaschinen über den Lebenszyklus, in: sozialpolitikblog, 23.06.2022, https://difis.org/blog/?blog=13

Zurück zur Übersicht

Weitere Posts des*der Autors*in

 

Weitere Beiträge zum Thema

Die Sonne geht zwischen zwei Gipfeln am Horizont auf.
sozialpolitikblog-Gespräch 03.08.2023
Eine Sozialpolitik der Zuversicht
Elendsvermeidung durch Umverteilung von Geld ist wichtig. Doch im Sozialstaat sollten auch Zukunftsaussichten und Perspektiven umverteilt werden, sagt PD Dr. Felix Heidenreich, wissenschaftlicher Koordinator des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung an der Universität Stuttgart im Gespräch mit sozialpolitikblog.
weiterlesen
Ein Überholverbotsschild: Ein roter Kreis in dem links ein rotes Auto und rechts ein schwarzes Auto abgebildet sind.
Patricia Zauchner, 15.06.2023
Die Ablehnung von Rangumkehrungen als Gerechtigkeitsprinzip
Umverteilung von wohlhabenden zu weniger wohl­habenden Menschen soll zu mehr Gleich­heit führen, aber Rang­um­kehrungen in der Einkom­mens­skala werden vielfach ab­ge­lehnt. Rang­umkehrungen werden auch von der Politik gefürchtet und können die Akzeptanz von Um­ver­teilung unter­graben. Der Blog­beitrag von Patricia Zauchner bietet einen kurzen Einblick in ihre Dissertation, die diese Themen untersucht und in Kürze veröffentlicht wird.
weiterlesen