Ungleiche Umverteilung: Familien im Vergleich
Armutsgefährdete Familien in Deutschland erhalten geringere Sozialleistungen als ihnen zustehen und zahlen höhere Abgaben als sie müssten – für Familien mit höheren Einkommen gilt das Gegenteil. Das zeigt eine Studie aus dem DFG-Projekt FaSo. Die Ergebnisse werfen ein Schlaglicht auf die diskutierten Änderungen bei der Kindergrundsicherung, dem Kinderfreibetrag und den Steuerklassen bei Paaren.
Familienmitgliedschaft bringt in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern finanzielle Vor- und Nachteile mit sich. Dem Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen, die Familien gewährt werden, stehen finanzielle Verpflichtungen gegenüber, die die Leistungen, die jemandem ohne Familie zustehen, reduzieren, wie insbesondere durch bedarfsgeprüfte Leistungen. Dieses „Plus und Minus“ in der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung haben wir im Forschungsprojekt „Die Relevanz von Familie für Sozialrechtsansprüche im internationalen Vergleich: Zwischen Gewährung von Leistungen und Einforderung familiärer Solidarität“ (FaSo) untersucht. Gefördert wurde das von Patricia Frericks geleitete Projekt von April 2020 bis Januar 2024 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Mit Hilfe des Mikrosimulationsmodells der Europäischen Union EUROMOD haben wir die gesamte Bandbreite an Umverteilungsregelungen inklusive Steuern, Sozialleistungen und Sozialversicherungsbeiträgen untersucht. Wir konnten zeigen, zu welchem Grad Familienmitgliedschaft die Umverteilung von Sozialstaaten gegenüber Individuen ohne offiziell anerkannte Familie verändert. Hierzu haben wir mit dem Hypothetical Household Tool (HHoT) von EUROMOD eine große Zahl an Familienformen modelliert und die Differenzen im Nettoeinkommen simuliert. Auf diese Weise konnten wir berechnen, inwieweit die Umverteilungsregelungen Ungleichheiten in der Umverteilung für verschiedene Familien vorsehen. Wir konnten also die sozialen Ungleichheiten in Bezug auf Familien aufzeigen. Denn Wohlfahrtsstaaten unterscheiden bei der Umverteilung nach verschiedenen Kriterien, wie nach Familienstand, Kinderzahl und Alter der Kinder, Einkommen und Einkommensverteilung. Diese haben wir für alle Länder der EU und Großbritannien herausgearbeitet und verglichen.
Zudem weicht die Umverteilung, wie sie in den verschiedenen sozialstaatlichen Regelungen vorgesehen ist, oft von der faktischen Umverteilung ab. Dadurch können die vorgesehenen Ungleichheiten in der Umverteilung abnehmen oder sich noch verschärfen. In einer unserer Studien im Rahmen des FaSo-Projekts haben wir deswegen für verschiedene Familienformen untersucht, welche Umverteilung jeweils vorgesehen ist und, mittels EU-SILC Daten, wie sich die tatsächliche Umverteilung hiervon unterscheidet (Frericks/ Höppner, 2024 sowie Frericks/ Höppner, im Erscheinen). Für diese Analyse haben wir Familien danach unterschieden, wie viele Kinder sie haben, wie hoch das Familieneinkommen ist, wie die Einkommen in der Familie verteilt sind, ob es eine oder zwei Erziehungsberechtigte gibt und ob diese verheiratet sind oder nicht.
Armutsgefährdete Familien haben geringere verfügbare Einkommen als vorgesehen
Die Ergebnisse zeigen, dass in den hierfür untersuchten Ländern (Deutschland, Österreich, die Niederlande, Spanien, Schweden, Finnland, Lettland und Slowenien) armutsgefährdete Familien, also Familien mit einem Haushaltseinkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens, niedrigere tatsächliche verfügbare Einkommen haben als ihnen nach den sozialstaatlichen Regelungen zustünden.
Woran liegt das? Um dies zu klären, haben wir einen genaueren Blick auf Sozialleistungen auf der einen Seite und Steuern und Sozialversicherungsbeiträge (kurz Abgaben) auf der anderen Seite geworfen. Demnach erhalten armutsgefährdete Familien geringere Sozialleistungen als dies nach den Regelungen der Fall sein sollte. Das zeigt sich bei Alleinerziehenden noch deutlicher als bei Paaren (siehe zu genaueren Ergebnissen Frericks/ Höppner, 2024 sowie Frericks/ Höppner, im Erscheinen). Die Differenz bei den Sozialleistungen lässt sich nur durch deren Nichtinanspruchnahme erklären.
Außerdem zeigen unsere Ergebnisse, dass in Deutschland armutsgefährdete Familien mehr Abgaben leisten als sie müssten. Das ist im europäischen Vergleich ein interessantes Ergebnis, da wir dieses Muster sonst nur in Österreich finden – in den anderen untersuchten Ländern zahlen Familien zumeist weniger Abgaben als vorgesehen, wodurch die dort „zu wenig“ erhaltenen Sozialleistungen zum Teil ausgeglichen werden. Für Deutschland ist anzunehmen, dass die komplexen Regelungen zur Einkommenssteuer, deren Wahrnehmung Wissen oder kompetente Unterstützung erfordert und die für viele Familien fehlende Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung zu diesem Phänomen beitragen. Und von den 26,5 Millionen unbeschränkt Steuerpflichtigen in Deutschland, so zeigen es Daten des Statistischen Bundesamtes für 2019, ließen sich nur 14,4 Millionen zur Einkommensteuer veranlagen (Statistisches Bundesamt 2024). Unter denen, die keine Steuererklärung abgeben oder mögliche Steuererleichterungen nicht nutzen, müssen folglich viele Familien sein, die von einer Steuererklärung profitieren würden.
Blicken wir im europäischen Vergleich auf Familien mit mittleren (zwischen 60 und weniger als 150 Prozent des mittleren Nettoeinkommens) und vor allem höheren Haushaltseinkommen (ab 150 Prozent des mittleren Nettoeinkommens), so zeigt sich, dass diese Familien höhere verfügbare Einkommen aufweisen als es laut Regelungen der Fall sein sollte. Inwieweit dies an administrativen (Fehl-)Entscheidungen, Betrug oder Simulationsfehlern liegt, lässt sich im Rahmen unserer Studie noch nicht eindeutig beantworten.
Aktuelle sozialpolitische Reformen im Spiegel der Forschungsergebnisse
Wie sind aktuelle sozialpolitische Reformen, die Familien betreffen, vor dem Hintergrund unserer Ergebnisse zu bewerten? Im Januar 2024 hat Bundesfinanzminister Christian Lindner eine Erhöhung des Kinderfreibetrags ohne weitere Erhöhungen des Kindergeldes angestoßen. Das würde die Schieflage in der tatsächlichen Umverteilung zwischen Familien mit niedrigen und solchen mit mittleren und vor allem höheren Einkommen verstärken.
Eine andere Reform, die die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, ist die Kindergrundsicherung (BMFSFJ 2024). Sie hat das Potential, die Ungleichheit in der Umverteilung zwischen armutsgefährdeten Familien und solchen mit mittleren und höheren Einkommen zu verringern. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts zeigte jüngst, dass die Nichtinanspruchnahme beim Kinderzuschlag, der Familien mit geringen Einkommen fördern soll, bei über 80 Prozent liegt (Baisch et al. 2023). Mit der Kindergrundsicherung würde das Problem der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen abgemildert, da die Kindergrundsicherung eine Mehrzahl bestehender Sozialleistungen bündeln und die Antragsstellung vereinfachen soll.
Darüber hinaus wäre vielen Familien mit geringen Einkommen geholfen, wenn sie steuerlich vorteilhafte Regelungen im Zuge der Einkommensbesteuerung niedrigschwelliger wahrnehmen könnten. Die Vorschläge zur Beendigung des Ehegattensplittings sind noch zu widersprüchlich, um sie vor dem Hintergrund unserer Ergebnisse einzuordnen. Die Änderungen werden jedoch zweifelsohne massive Verschiebungen in den Umverteilungsansprüchen und deren Umsetzung in Bezug auf Familien hervorrufen.
Mit dem FaSo-Projekt haben wir angestoßen, die Familien zugewiesene Position in der sozialpolitischen Umverteilung angemessener zu analysieren und Erkenntnisse zu den in den Regelungen und deren Umsetzung angelegten sozialen Ungleichheiten in Bezug auf Familie zu liefern. Nur so kann die Bedeutung sozialpolitischer Reformen im jeweils relevanten Kontext verstanden werden.
Literatur
Baisch, Benjamin, Müller, Dagmar, Zollner, Corinna, Castiglioni, Laura & Boll, Christina (2023), Barrieren der Inanspruchnahme monetärer Leistungen für Familien, Abschlussbericht, München: Deutsches Jugendinstitut.
BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2024), Die neue Kindergrundsicherung - eine Leistung für alle Kinder, https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/familie/familienleistungen/kindergrundsicherung(13.3.2024).
Frericks, Patricia & Höppner, Julia (2024), The unequal conversion of intended redistribution into factual redistribution in Europe and its impact on social inequalities between families, Acta Sociologica, DOI: 10.1177/00016993231224223
Frericks, Patricia & Höppner, Julia (im Erscheinen), Weniger Haben als Soll. Differenzen zwischen de jure und de facto Umverteilung für arme Familien im europäischen Vergleich, in: Opielka, Michael & Wilke, Felix (Hg.): Der weite Weg zum Bürgergeld, VS Springer.
Statistisches Bundesamt (2024), Steuererklärung: Durchschnittliche Rückerstattung lag bei 1 095 Euro, https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Steuern/Lohnsteuer-Einkommensteuer/im-fokus-steuererklaerung.html(13.3.2024).
Patricia Frericks und Julia Höppner 2024, Ungleiche Umverteilung: Familien im Vergleich, in: sozialpolitikblog, 13.05.2024, https://difis.org/blog/?blog=114 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Patricia Frericks ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung. Gegenwärtig leitet sie das FG Soziologie und Ökonomie sozialer Dienste und Einrichtungen an der Universität Kassel und war zuvor an den Universitäten Helsinki, Hamburg und Utrecht tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Transformation sozialer Marktwirtschaften und sozialer Ungleichheiten in Europa, der sozialen Sicherung (insb. Renten) und der care-Arbeit.
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Dr. Julia Höppner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin an der Universität Kassel im Fachgebiet Soziologie und Ökonomie sozialer Dienste und Einrichtungen. Im WS 2023/24 vertritt sie die Professur „Lebenslauforientierte Sozialpolitik“ an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, insbesondere der Alterssicherung und Familienpolitik sowie der vergleichenden Forschungsmethoden.
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