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Eine Collage von drei Bildern auf das Wort "Koalition" bezogen (Ampel, Lexikoneintrag und Ortsschild). In der Mitte ist die orangene Aufschrift "Koalitionsvereinbarung" zu sehen.
Wolfgang Schroeder, 22.09.2022

Gewerkschaften und Sozialverbände und ihr Verhältnis zur Ampelregierung

Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung hat ein klares sozialpolitisches Profil: Er bekennt sich zur Stabilisierung des etablierten Sozialversicherungsstaates und schließt damit alternative Modelle zur Weiterentwicklung des Sozialstaats aus. Ob und wie dieses Vorhaben angesichts der veränderten Geschäftsgrundlage in Zeiten multipler Krisen gelingen kann, ist neben der aktuellen Krisen- und Entlastungspolitik maßgeblich von der Entwicklung des Arbeitsmarktes abhängig, denn der Sozialversicherungsstaat kann seine Leistungsfähigkeit nur ausspielen, wenn der Arbeitsmarkt dynamisch und integrativ ist, also gute Arbeit produziert.¹


Zugleich hängt das sozialpolitische Profil der nächsten Legislaturperiode aber auch von den Fähigkeiten des Staates ab, distributive Politik zu praktizieren, was maßgeblich durch seine Ressourcenausstattung bestimmt sein wird. Da die Zuteilung von staatlichen Mitteln aber kein Selbstläufer ist, sondern von der Stärke und der Mobilisierungsfähigkeit der unterschiedlichen Interessengruppen abhängt, werden in diesem Beitrag die Forderungen der sozialpolitischen Verbände - VdK, SoVD, Volkssolidarität sowie der Gewerkschaften - an die Bundesregierung aufgenommen und eingeordnet.


Die sozialpolitischen Verbände unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Mitgliederstärke, aber auch hinsichtlich ihres Sanktionspotenzials, das sie zur Durchsetzung ihrer Interessen einsetzen können. Da der sozialstaatliche Zuteilungsmechanismus in starkem Maße über den Parteienwettbewerb funktioniert, fängt die Sanktionsmacht nicht erst mit der Androhung der Leistungsverweigerung an. Es bedarf also nicht erst des Mittels des Streiks, um wahrgenommen zu werden.


Im ersten Schritt geht es darum, wie sich die Sozialverbände zum Koalitionsvertrag positioniert haben. In einem zweiten Schritt werden die geforderten Maßnahmen, die im Rahmen des Koalitionsvertrages angesiedelt sind oder über diesen hinausgehend für die nächste Legislaturperiode gefordert werden, systematisiert. In einem dritten Schritt steht die aktuelle verbandspolitische Lage der zentralen Player im Zentrum. Im Kern geht es um die Mitgliederentwicklung, denn sie kann eine Annäherung an die Fähigkeit ermöglichen, wie die Potentiale der Akteure beschaffen sind, um zu organisieren und zu mobilisieren.  

Positionen zum Koalitionsvertrag

Der Koalitionsvertrag ist der Rahmen, den sich die Koalitionäre selbst gesetzt haben, um Programm und Profil für die laufende Legislaturperiode abzustecken. Die Besonderheiten eines solchen Vertrages bestehen darin, dass dort meist sehr heterogene Forderungen integriert werden, was auf die zum Teil konträren Interessen der Koalitionäre zurückzuführen ist. Der Vertrag ist weder einklagbar noch ist er die alleinige Grundlage für das Handeln einer Regierung. Im sozialpolitischen Bereich zeichnet sich der Vertrag durch das Ziel aus, den Sozialversicherungsstaat so zu stabilisieren, dass er sich trotz weitreichender technologischer, wirtschaftlicher und ökologischer Transformationsprozesse als Integrationsmaschine bewähren kann. Dafür wird der Zugang zu Arbeit über Bildung, Weiterbildung und präventive Maßnahmen weiterhin als monetäre und politische Basis des deutschen Sozialstaatsmodells betrachtet. Zugleich bedeutet dies auch, dass eine regulierte Arbeitsgesellschaft, die auf Tarifverträgen sowie definierten Mindestnormen aufbaut, ebenso als notwendig erachtet wird.

Wie sehen dies die Sozialverbände?

Die folgende Tabelle liefert eine Übersicht der Einschätzung der Sozialverbände und Gewerkschaften zum Koalitionsvertrag. Berücksichtigt wird dabei zum einen der ehemalige Verband der Kriegsbeschädigten (VdK), der sich heutzutage jedoch „als sozialpolitische Interessenvertretung für alle Bürgerinnen und Bürger“ (vdk.de) versteht. Zudem werden die Positionen des ältesten deutschen Sozialklientelverbandes SoVD sowie die ehemalige DDR-Massenorganisation Volkssolidarität, die vorrangig in Ostdeutschland aktiv ist, in die Analyse eingeschlossen. Darüber hinaus wird auch die Position der im DGB zusammen geschlossen Gewerkschaften  als Interessenvertretung der Beschäftigten in der folgenden Tabelle dargestellt.

Tabelle 1: Position der sozialpolitischen Verbände zum Koalitionsvertrag


Quellen: der-paritätische; vdk.de; sovd.de; volkssolidaritaet.de; dgb.de  

 

Die Rezeption des Koalitionsvertrages durch die Sozialverbände fällt ambivalent aus. Einerseits lässt sich eine auffallend wohlwollende, ins positive reichende Gesamtbewertung des Vertrages, herauslesen. Es wird sehr begrüßt, dass der Sozialversicherungsstaat, respektive seiner erwerbsarbeitsorientierten Grundlagen, gestärkt werden soll. Hierzu gehört auch, dass seitens der Verbände - jenseits der Erwerbs-/Bürgerversicherung - keine sozialpolitische Systemtransformation gefordert wird. Da die Verbände eine Stärkung des umlagefinanzierten Systems begrüßen, lehnen sie ebenso entschieden ein kapitalgedecktes Modul innerhalb der Rentenversicherung ab. Andererseits wird die unzureichende finanzielle Ausstattung des Staates, nicht zuletzt bedingt durch den Verzicht auf Steuererhöhung und das Festhalten an der Schuldenbremse kritisiert. Moniert wird zudem, dass die begrüßenswerten Ziele einer sozialen Gerechtigkeitspolitik weder konkretisiert noch in einen belastbaren Rahmen gebunden seien. Auf diese Lücken reagierend, formulieren die Verbände eindeutige sozialpolitische Forderungen. In der folgenden Tabelle werden einige der zentralen Forderungen abgebildet: 

 

Tabelle 2: Forderungen der sozialpolitischen Verbände an die Regierung


Quellen: der-paritätische.de; Der Tagesspiegel; vdk.de; sovd.de; dgb.de   

 

Keiner der Verbände fordert eine Abkehr vom Sozialversicherungsstaat. Parallel zu den Zielen der Ampelkoalition geht es um konkrete Veränderungen innerhalb dieses Rahmens, der allerdings als sehr reformbedürftig bewertet wird. So pochen die Verbände in ihren konkreten Forderungen auf eine ambitioniertere und integrativere Weiterentwicklung des Sozialversicherungsstaates. Im Zentrum stehen dabei die diversen Spielarten der Bürger- und Erwerbstätigenversicherungen. Hinzu kommen Forderungen, die erhöhte Regelsätze bei der Grundsicherung anvisieren und Sanktionen abschaffen. Die arbeitsmarktpolitischen Forderungen der Verbände zielen darauf, Mindeststandards zu verbessern; die Zahl der atypischen Arbeitsverhältnisse zu reduzieren und die Tarifbindung wieder zu erhöhen. Hinsichtlich der dafür notwendigen Maßnahmen und Instrumente sind diese Vorschläge aber auch meist wenig konkret formuliert.

Zustand der deutschen Sozialverbände

Die Sozialverbände sind in Deutschland gut organisiert, wenngleich zwischen den Verbänden und im Zeitverlauf deutliche Differenzen bestehen. Seit sich in den Nuller Jahren die ehemaligen Kriegsopferverbände dafür entschieden haben, moderne Sozialklientelorganisationen für alle Bürgerinnen gegenüber dem Staat zu werden, lässt sich - mit Ausnahme der Volkssolidarität - eine mehr oder weniger stete Zunahme der Mitgliederzahlen beobachten. Tabelle 3 bietet eine Übersicht über die Mitgliederzahlen der Sozialverbände sowie der Gewerkschaften:

Tabelle 3: Mitgliederzahlen der sozialpolitischen Verbände nach Zeiträumen


Alle Werte gerundet, Quellen: Schroeder et al (2009); vdk.de; sovd.de; volksolidaritaet.de; der-paritätische.de

 

Herausstechend ist der VdK, der sich mit seiner mitgliederorientierten Beratungs-, Kommunikations- und Gemeinschaftsarbeit seit langem auf einem Wachstumskurs befindet. 2021 verzeichnete er die mit Abstand höchsten Mitgliederzahlen seit seiner Gründung; seine öffentlichen Positionen werden in den Debatten stark wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund hat er sich zum relevantesten Sozialverband in Deutschland entwickelt. Der SoVD bleibt zwar deutlich hinter seinen historisch höchsten Mitgliederzahlen zurück, befindet sich aber dennoch auf einem Wachstumspfad. Eine völlig andere Situation findet sich bei der Volkssolidarität. Die ehemalige DDR-Massenorganisation, die einst mehr als 2 Millionen Mitglieder zählte, verlor alleine zwischen 2008 und 2021 mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder und ist damit mittlerweile der mitgliederschwächste Sozialverband. Auch bei den DGB-Gewerkschaften findet sich eine stetiger Mitgliederrückgang. Seit Ende der 90er Jahre haben die Gewerkschaften rund 1/4 ihrer Mitglieder verloren; womit sie nur noch knapp über ihrer historisch niedrigsten Mitgliederzahl in den 50er Jahren liegen. Während also die Erwerbstätigenorganisationen an Mitgliedern verlieren, gewinnen die Organisationen der Sozialstaatsbürgerinnen an Zulauf. In diesen Zahlen drückt sich auch die stärkere Staatsbedürftigkeit der sozialen Sicherheit aus.    

Fazit

Selten gab es soviel Übereinstimmung hinsichtlich der strukturellen Grundlagen des Sozialstaates zwischen den Sozialverbänden inklusive der Gewerkschaften zu den regierungsamtlichen Grundlinien der Sozialpolitik. Dies ist aber keine Entwarnung. Schließlich sind mit den dramatischen Folgen des Ukraine-Krieges (Energiepreise, Inflation etc.), der ökologischen Transformation der Industriegesellschaft sowie mit den demographischen Verschiebungen massive Verteilungskonflikte verbunden, die in den nächsten Jahren eher zu als abnehmen werden. Und diese Konflikte werden sich nicht allein am grünen Tisch verhandeln lassen. Durch starke Organisationen, die sich als Anwalt der Schwächeren einbringen, ist allerdings gewährleistet, dass diese Gruppen eine Stimme haben, um ihre Interessen zu verfolgen.

¹ Diese Analyse berücksichtigt Veränderungen infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine noch nicht.

 

Literatur

Schroeder, Wolfgang/ Munimus, Bettina/ Rüdt, Diana (2009): Seniorenpolitik im Wandel. Verbände und Gewerkschaften als Interessenvertreter der älteren Generation, Frankfurt: Campus Verlag.


Wolfgang Schroeder 2022, Gewerkschaften und Sozialverbände und ihr Verhältnis zur Ampelregierung, in: sozialpolitikblog, 22.09.2022, https://difis.org/blog/?blog=25

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