Reform der Krankenhausvergütung: Paradigmenwechsel oder Etikettenschwindel?
Glaubt man den einschlägigen Ankündigungen, so steht Deutschland vor großen Umwälzungen in der Krankenhauspolitik. Ein zentrales Handlungsfeld der bevorstehenden Reform ist die Krankenhausvergütung. Sie steht in Zusammenhang mit einem zweiten Schwerpunkt, einer Strukturreform der Krankenhauslandschaft. Mitte 2023 sollen die Eckpunkte für die Reform stehen, und die parlamentarische Verabschiedung wird schon für Ende 2023 in Aussicht gestellt.
Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat mit verheißungsvollen Worten Appetit auf das Vorhaben gemacht: Es werde die „Überwindung des Fallpauschalensystems“ und das „Ende der Ökonomisierung in den Kliniken“ bringen, und sogar von einer bevorstehenden „Revolution im Krankenhaussektor“ war die Rede.
Kritik an den DRGs
Die Umstellung der Krankenhausvergütung auf DRGs war von Anfang an Gegenstand heftiger Kritik. Diese Kritik ist im Laufe der Zeit lauter geworden, und dies zu Recht: DRGs haben zu Personaleinsparungen, insbesondere bei Pflegekräften, beigetragen, weil deren Leistungen nicht angemessen bei der Berechnung der Kosten berücksichtigt werden. Sie sind damit auch ein wichtiger Grund für die schlechten Arbeitsbedingungen und für den Fachkräftemangel im Krankenhaus. Sie schaffen einen Anreiz zur vorzeitigen Entlassung von Patientinnen und Patienten („blutige Entlassung“) und, dort, wo es sich lohnt, zu einer Erhöhung der Zahl von Eingriffen, auch von solchen, die medizinisch nicht notwendig sind.
Vor diesem Hintergrund wurde in den letzten Jahren eine Reihe von Reformen in Kraft gesetzt, mit denen die unerwünschten Auswirkungen des DRG-Systems begrenzt werden sollten. Erstens ist seit 2020 ein Pflegepersonalquotient in Kraft, der die Arbeitsbelastung je Gesundheits- und Krankenpfleger begrenzt. Zweitens gelten für bestimmte Fachabteilungen Pflegepersonaluntergrenzen. Die Pflegekosten der Krankenhäuser wurden – drittens – aus dem DRG-System ausgegliedert und werden seitdem gesondert vergütet. Aber die Kritik an der Dominanz ökonomischer Interessen in der Krankenhausversorgung blieb.
Reformvorschläge
Auf der Grundlage des Koalitionsvertrags hatte Bundesgesundheitsminister Lauterbach eine aus Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis zusammengesetzte Regierungskommission gebildet, die Vorschläge für eine Krankenhausreform erarbeiten sollte. Mittlerweile hat sie auch Empfehlungen für eine Reform der Krankenhausvergütung vorgelegt. Sie sehen vor, dass die Vergütung künftig auf zwei Säulen ruhen soll, nämlich den DRGs und – neu – sogenannten Vorhaltepauschalen, die die Bereitstellung der Versorgungsinfrastruktur finanzieren sollen. Diese Vorhaltepauschalen sind das Bindeglied zwischen der Vergütungsreform und der Neuordnung der Krankenhauslandschaft. Die Regierungskommission will die einzelnen Krankenhäuser künftig drei Versorgungsstufen zuweisen:
- Häuser der Grundversorgung sollen für die medizinische und pflegerische Basisversorgung zuständig sein;
- Häuser der Regel- und Schwerpunktversorgung sollen darüber hinaus weitere Leistungen anbieten und
- Häuser der Maximalversorgung ein hochdifferenziertes Leistungsangebot vorhalten (z.B. Uni-Kliniken).
Außerdem sollen die Krankenhäuser künftig bestimmten Leistungsgruppen (z.B. Kardiologie) zugeordnet werden. Sie dürfen mit den Krankenkassen dann nur noch die betreffenden Leistungsgruppen abrechnen. Für die jeweiligen Versorgungsstufen und Leistungsgruppen sollen Mindestvoraussetzungen definiert werden, also Vorgaben für die Ausstattung mit Fachabteilungen, Personal, Betten und Medizintechnik, die wiederum die Grundlage für die Berechnung der Vorhaltepauschale darstellen sollen. Die Details eines solchen Mischsystems liegen aber noch im Dunkeln – etwa die Frage nach den relativen Gewichten von Vorhaltepauschalen und DRGs oder nach der genauen Berechnung der Vorhaltepauschalen.
Mit der Zuordnung von Krankenhäusern zu Versorgungsstufen und Leistungsgruppen sollen zum einen Überkapazitäten abgebaut, zum anderen die Spezialisierung und Zentralisierung von Leistungen (jenseits der Grund- und Regelversorgung) gefördert werden. Vor allem sollen kleinere Häuser nicht mehr solche Leistungen erbringen dürfen, die nicht zum Standard eines Fachgebiets gehören. Ein wichtiges Motiv dafür ist die Qualitätssicherung: Derzeit führen zu viele Häuser Eingriffe aufgrund geringer Erfahrung nicht in der wünschenswerten und möglichen Qualität durch – zum Nachteil für die Patientinnen und Patienten.
„Ende der Ökonomisierung in den Kliniken“?
Die Finanzierung von Vorhaltepauschalen soll wirtschaftlichen Druck von den Krankenhäusern nehmen. In welchem Ausmaß dies geschieht, hängt vor allem vom Anteil ab, den sie künftig an der Gesamtvergütung von Krankenhausleistungen haben werden. Allerdings sind mit der bloßen Einführung von Vorhaltepauschalen erhebliche finanzielle Anreize für die Leistungserbringung keineswegs aus der Welt. Diese existieren ohnehin bei privaten Häusern, denn deren eigentliche Zweckbestimmung ist ja gerade die Gewinnmaximierung. Aber auch bei freigemeinnützigen und öffentlichen Trägern beschränken sich wirtschaftliche Interessen nicht auf die Vermeidung von Verlusten. Das Interesse an Gewinnen speist sich bei ihnen nicht zuletzt aus der Notwendigkeit der Investitionsfinanzierung: Dafür sind eigentlich die Länder verantwortlich, jedoch bleiben diese erheblich hinter ihren Verpflichtungen zurück, so dass immer mehr Krankenhäuser die notwendigen Investitionen aus Eigenmitteln bestreiten. Dies ist aber eben nur in dem Maße möglich, wie sie selbst Überschüsse erwirtschaften.
Ob die Ökonomisierung der Krankenhausversorgung mit den beschriebenen Eckpunkten tatsächlich abgebaut wird, steht noch aus einem weiteren Grund in den Sternen. Auch die gegenteilige Annahme kann Plausibilität beanspruchen: Gerade wenn ein Teil der Krankenhauseinnahmen über eine Vorhaltepauschale bereits fixiert ist, kann der Druck für das einzelne Krankenhaus wachsen, den variablen Teil seiner Erlöse über die bekannten Mechanismen – Kostensenkung je Behandlungsfall, Erhöhung der Fallzahlen – zu steigern. Denn nur darüber ließen sich dann noch die Einnahmen steigern.
Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass es kein Vergütungssystem gibt, das Krankenhäuser nicht im eigenen finanziellen Interesse – auch unter Missachtung von Aspekten der Versorgungsqualität – ausnutzen können. Dies gilt nicht nur für DRGs, sondern auch für das mitunter als Alternative zu ihnen vorgeschlagene Selbstkostendeckungsprinzip. Dieses schafft vor allem Anreize zu einer medizinisch nicht indizierten Ausweitung von Leistungen. Jede Reform, die auf eine hochwertige und zugleich wirtschaftliche Leistungserbringung zielt, wird die für eine Behandlung erforderlichen Durchschnittskosten berücksichtigen müssen.
DRGs: Paradigmenwechsel oder „Reform light“?
Welche Konturen die Krankenhausvergütung und die Neuordnung der Krankenhauslandschaft annehmen werden, ist somit noch sehr unklar. Den bisher publik gewordenen lässt sich lediglich entnehmen, dass die Krankenhäuser künftig nicht mehr allein über DRGs vergütet werden sollen. Deren Abschaffung ist also nicht intendiert. Folgerichtig ist auch – durchaus vieldeutig – von einer „Überwindung des Fallpauschalensystems“ die Rede.
Dies verweist auf einen weiteren Aspekt: Im Reformprozess werden sich mächtige Lobbyinteressen zu Wort melden. Bundesgesundheitsminister Lauterbach hatte die Regierungskommission eigens nur aus Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Praxis zusammengesetzt, um Lobbyinteressen bei den Reformvorschlägen (zunächst) außen vor zu halten. Ob dies mit der Besetzung der Kommission gelungen ist, sei einmal dahingestellt. Ungeachtet dessen ist aber klar, dass die Interessengruppen bei der Ausarbeitung der Reform ihr Gewicht in die Waagschale werfen werden – immerhin geht es bei der Krankenhausversorgung um Ausgaben in Höhe von mehr als 100 Milliarden Euro pro Jahr.
Rechnung ohne die Länder gemacht
Hinzu kommt, dass die Länder bei dieser Reform ein gewichtiges Wörtchen mitzureden haben. Denn mit der Konstruktion der Vorhaltepauschalen stellen die Reformvorschläge eine enge Verknüpfung von Krankenhausvergütung und Krankenhausplanung her – und für Letztere sind nun einmal die Länder zuständig. Die beabsichtigte Einführung einer bundesweit vereinheitlichen Krankenhausstruktur stößt auf höchst unterschiedliche Krankenhausstrukturen in den Ländern und wird erhebliche Investitionen erfordern. Die Länder werden ihre Interessen hier einbringen und sitzen mit ihren grundgesetzlich verbrieften Zuständigkeiten an einem sehr langen Hebel. Es ist schwer vorstellbar, dass sie etwas von ihren Kompetenzen in der Krankenhausplanung abgeben werden. Dies haben die Gesundheitsminister Nordrhein-Westfalens und Bayerns und andere zu Beginn der Gespräche bereits deutlich gemacht. Probleme beim Krankenhauszugang würden vor allem auf die Länder zurückfallen.
Noch ist also die Reform der Krankenhausvergütung – vor allem aufgrund der Politikverflechtung im föderalen Mehrebenensystem – eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Ob es zur beabsichtigten Kombination aus Vorhaltpauschalen und DRGs kommen wird und welches Gewicht die beiden Komponenten dann haben werden, bleibt abzuwarten. Aber klar dürfte sei, dass den DRGs auch nach wie vor ein erhebliches Gewicht bei der Vergütung von Krankenhausleistungen zukommen wird. Damit dürften auch die für ein Fallpauschalensystem typischen Fehlanreize fortbestehen:
- die Anreize zur Kostensenkung – gegebenenfalls auch über das medizinisch vertretbare Maß hinaus – und
- die Anreize zu einer Erhöhung der Fallzahlen – auch unter Einschluss von nicht notwendigen Eingriffen und Untersuchungen.
Thomas Gerlinger 2023, Reform der Krankenhausvergütung: Paradigmenwechsel oder Etikettenschwindel?, in: sozialpolitikblog, 20.04.2023, https://difis.org/blog/?blog=59 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld und leitet dort die Arbeitsgruppe „Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheitspolitik und Gesundheitssystementwicklung in Deutschland und in der EU sowie der internationale Vergleich von Gesundheitssystemen.
Diagnosis Related Groups (diagnoseorientierte Fallpauschalen – DRGs) sind ein Instrument, mit dem in Deutschland und in vielen anderen Ländern Krankenhausleistungen vergütet werden. In Deutschland erfolgte die Umstellung auf das DRG-System zwischen 2002 und 2010. Über ein Patientenklassifikationssystem werden die Patientinnen und Patienten einer bestimmten Fallgruppen zugewiesen. Die Fallgruppen werden über Haupt- und Nebendiagnosen gebildet; bei einem Teil von ihnen werden weitere Kriterien zur Differenzierung des Behandlungsaufwands herangezogen (z.B. Alter, Geschlecht, Entlassungsart etc.). Darüber hinaus werden nach einem Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) die durchgeführten Eingriffe und therapeutischen Maßnahmen berücksichtigt.
Den Krankenhäusern werden nicht ihre tatsächlichen Kosten erstattet, sondern eben nur die diagnoseorientierte Fallpauschale, die auf den durchschnittlichen Kosten von Krankenhäusern für die jeweilige Behandlung beruht. Davon erhoffte man sich eine Effizienzsteigerung in der Krankenhausversorgung und einen Abbau von Überkapazitäten. Krankenhäuser, deren Kosten höher sind als die Fallpauschale, machen Verluste. Und umgekehrt. Außerdem können Krankenhäuser durch die Erhöhung der Fallzahlen bei lukrativen Behandlungen ihre Gewinne erhöhen. Somit schafft das DRG-System enorme finanzielle Anreize – auch Anreize, die nicht unbedingt mit einer guten Versorgung kompatibel sind.