„Hartz 4“ wird zu „Bürgergeld“ – Großer Wurf oder alles beim Alten?
Grundsicherungsleistungen sind das basale soziale Sicherungsnetz: Sie garantieren, dass keiner verhungern muss oder aus der Gesellschaft vollständig ausgegrenzt wird. Sie greifen, wenn (finanzielle) Notlagen weder aus eigener Kraft noch mit familiärer Hilfe oder vorgelagerten Sozialleistungen überwunden werden können.
In diesen Fällen sorgt der Sozialstaat dafür, dass das „zum Lebensunterhalt Unerlässliche“ gewährleistet ist. Ein Blick in die Daten zeigt, dass er das häufiger tun muss. Problematisch ist daran vor allem der konstant hohe Anteil von Langzeitarbeitslosen, der auch durch das 2005 unter Kanzler Schröder eingeführte Prinzip des „Förderns und Forderns“ nicht nachhaltig abgeschmolzen werden kann.
Vielmehr verweist die Forschung (beispielsweise aus dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung) immer wieder darauf, dass die berufliche Qualifizierung im Zentrum stehen, Entlohnung und Beschäftigungsqualität stabilisiert und die Vermittlungspraxis gezielt ausdifferenziert werden muss, um die heterogenen Gruppe der Grundsicherungsbeziehenden nachhaltig zu reduzieren. Die Notwendigkeit einer Reform von arbeitsmarktpolitischem Instrumentarium und öffentlicher Arbeitsvermittlungsstrategie wird von den Forschenden daher schon seit Jahren angemahnt. Nachdruck hat dieser Forderung das Bundesverfassungsgericht verliehen, das in seinem Urteil vom November 2019 die bisherige Sanktionspraxis für verfassungswidrig erklärte.
Von „Hartz IV“ zum Bürgergeld
Unter dem neuen Namen „Bürgergeld“ hat sich die regierende Koalition nun eine weitreichende Reform der Grundsicherung vorgenommen. Das Ziel ist hoch gesteckt: Nach den Vereinbarungen des Koalitionsvertrags sollen mit dem neuen Bürgergeld nicht nur die Würde des Einzelnen geachtet, sondern die Beziehenden in die Lage versetzt werden, gesellschaftlich teilzuhaben. Darüber hinaus sollen die behördlichen Abläufe vereinfacht werden, indem die Digitalisierung vorangetrieben und die Verwaltung unbürokratischer wird. Die dafür im Detail geplanten Neuregelungen hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im August 2022 in einem Referentenentwurf zum Bürgergeld-Gesetz vorgelegt. Im Vergleich zur jetzigen Grundsicherung soll sich Folgendes ändern:
- Kooperationsplan ersetzt Eingliederungsvereinbarung:
Die Such- und Vermittlungsaktivitäten sollen zukünftig in einem gemeinsam von Leistungsberechtigten und Agenturfachkräften erarbeiteten Kooperationsplan festgehalten werden. Dabei besteht die Möglichkeit, ein Schlichtungsverfahren einzuleiten, wenn sich die Parteien nicht einig werden. Der Kooperationsplan soll außerdem „von rechtlichen Folgen entlastet“ und nicht als Grundlage für eine Leistungsminderung herangezogen werden. - Vertrauenszeit und Sanktionen:
Mit dem Abschluss eines Kooperationsplans beginnt deshalb eine sechsmonatige Vertrauenszeit, in der keine Sanktionen verhängt werden sollen, die beispielsweise auf dem (fehlenden) Suchverhalten der Betroffenen beruhen. Bei Meldeversäumnissen sind Leistungsminderungen allerdings wie bisher unverändert möglich. Solange die Integrationszusammenarbeit funktioniert, ist die Vertrauenszeit auch über die ersten sechs Monate hinaus grundsätzlich unbegrenzt. Sie endet aber, sobald erwerbsfähige Leistungsberechtigte die Absprachen aus dem Kooperationsplan ohne wichtigen Grund nicht einhalten. Pflichtverletzungen führen dann zu einer Minderung des Bürgergelds um 30%.
- Weiterbildung statt Vermittlungsvorrang:
Das bisher zentrale Ziel, Menschen vor allem schnell in (irgendeine) Beschäftigung zu vermitteln, wird aufgegeben. Stattdessen werden Weiterbildung stärker gefördert und der Erwerb eines Berufsabschlusses unterstützt. Hierbei ist ein so genannter Bürgergeldbonus von 75 Euro im Monat geplant, der an Leistungsbeziehende im SGB II ausgezahlt wird, die an Ausbildungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen. Teilnehmende an berufsabschlussbezogenen Weiterbildungen im SGB II oder SGB III sollen ein monatliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro erhalten, wenn sie arbeitslos sind oder aufstockende SGB II-Leistungen beziehen. - Längere Schonfrist und höhere Schonvermögen:
In der Karenzzeit von zwei Jahren wird Vermögen nur dann berücksichtigt, wenn es „erheblich“ ist. Als „erheblich“ gilt es, wenn es in der Summe 60.000 Euro für eine leistungsberechtigte Person sowie 30.000 Euro für jedes weitere Mitglied der Bedarfsgemeinschaft übersteigt. Selbst genutztes Wohneigentum soll in den ersten zwei Jahren grundsätzlich nicht berücksichtigt und danach anhand festgelegter Quadratmetergrenzen unangetastet bleiben. Außerhalb der Karenzzeit bleibt ein Vermögen von 15.000 Euro pro Person der Bedarfsgemeinschaft anrechnungsfrei. - Keine Zwangsverrentung:
Die Pflicht, eine (mit Abschlägen belegte) Rente wegen Alters in Anspruch zu nehmen, um aus dem Grundsicherungsbezug auszuscheiden, entfällt vollständig. - Höhere Freibeträge:
Für Ausbildungsvergütungen oder den Nebenjob für Auszubildende, Schüler*innen und Studierende sollen die Freibeträge erheblich erhöht werden. Die Einnahmen von unter 25-jährigen Schülerinnen, die in den Schulferien ausgeübt werden, bleiben beispielsweise vollständig anrechnungsfrei (bisher galt ein Höchstbetrag von 2.400 Euro pro Jahr). - Regelsatzanpassung:
Die Höhe der Regelsätze soll zum 1. Januar 2023 außerplanmäßig angehoben werden.
Signale eines Richtungswechsels
Die hier nur additiv aufgelisteten Änderungen sind bisher im Entwurfsstatus des BMAS. Worauf sich die Koalitionspartner*innen letztlich einigen werden, ist noch offen, Wenn das Einführungsziel zum 1.1.2023 gehalten werden soll, müssen die Details nun zügig im Kabinett und zwischen den Ressorts geklärt werden. Gleichwohl beinhalten die vorgesehenen Regelungen bereits einige wichtige Signale für einen echten Richtungswechsel, insbesondere in der Vermittlungspraxis. Hierzu zählt vor allem die Neuorientierung in den Förderungen und das Ziel einer vertrauensvollen Zusammenarbeit von Leistungsbeziehenden und Jobcenter-Mitarbeitenden.
Der Fokus auf Weiterbildung und Erwerb eines Berufsabschlusses stellen ebenfalls eine gravierende Neuerung dar. Sie liefern Ansatzpunkte für die Vision, Menschen so zu beraten und zu betreuen, dass sie nachhaltig auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Das ist sowohl vor dem Hintergrund der ausgesprochen heterogenen Gruppe der Leistungsbeziehenden als auch den anhaltenden Megatrends auf dem Arbeitsmarkt (wie Digitalisierung und Fachkräfteengpässe) ein richtiger und wichtiger Ansatz. Allerdings ist der Vertrauensvorschuss zeitlich begrenzt und die Möglichkeiten, Sanktionen zu verhängen, bleiben bestehen. Im Gegensatz zum derzeitigen Status quo (Sanktionsmoratorium für Pflichtverletzungen bis Ende 2022) ist das eher eine Ver- als Ent-Schärfung der Sanktionspraxis. Die grundsätzliche Frage, ob das absolut lebensnotwendige Existenzminimum tatsächlich gekürzt werden darf, wird von der Ampel-Koalition damit erneut befürwortet, obwohl die Wirkung von Sanktionen, insbesondere auf eine beschleunigte Erwerbsaufnahme, hoch umstritten ist.
Die neue Richtlinie zur (Nicht-)Anrechnung und Verwertung von Vermögen und Wohneigentum sind wichtige Stellschrauben, die zumindest bei vorrübergehenden Leistungsbezügen einen abrupten Verlust des sozialen Status verhindern können. Auch von einer Erhöhung der Regelsätze und mehr noch der Möglichkeit einer neuen Regelsatzberechnung würden alle Leistungsbezieher*innen profitieren. Hierzu finden sich im aktuell vorliegenden Referentenentwurf noch keine Vorschläge, weil die Regelbedarfsstufen entweder per Rechtsverordnung festgelegt oder in einem eigenen Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz erlassen werden. Die Neuberechnung der Regelsätze muss im Herbst abgestimmt sein, denn dann wird auch der neue Bundeshaushalt beschlossen. Ein neues Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz bedarf außerdem der Zustimmung des Bundesrats. Der Vorschlag des BMAS muss daher nicht nur die Koalitionspartner, sondern auch die CDU und die Bundesländer überzeugen. Der zeitliche Änderungsdruck ist außerdem auch deswegen hoch, weil die aktuellen Regelsätze schon vor den momentanen Preissteigerungen kaum in der Lage waren, dem eigenen Maßstab eines soziokulturellen Minimums gerecht zu werden. Die aktuelle Situation von Wirtschaft, Konjunktur und Inflation verschärft das zusätzlich. Die gegenwärtige Entwicklung zeigt außerdem, dass kurzfristig Erhöhungen grundsätzlich möglich sein müssen. Das neue Bürgergeld kann auf diesem hoch umstrittenen Feld einen echten Neuanfang markieren. Ob eine Heraufsetzung um zehn Prozent ausreicht, ist zweifelhaft. Neben einer einmaligen Erhöhung ist vielmehr ein klares Leistungsziel, das sich an dem aus der Einkommensverteilung abgeleiteten Armutsschwellwert orientiert, notwendig. Außerdem ist ein fester Anpassungsmechanismus erforderlich, der die Entwicklung der Regelsätze in einem verbindlichen Modus an die aktuelle (!) Einkommens- und Verbrauchsentwicklung bzw. deren Kaufkraft koppelt. Nur so lässt sich die Armutsgefährdung der Leistungsbeziehenden zielgerichtet und unabhängig von politischen Mehrheiten bzw. Eingriffen sichern.
Allerdings muss klar sein, dass die geplanten Regelungen mit Kosten verbunden sind. Es liegt auf der Hand, dass die kurzfristig gedachte politische Strategie, die Kosten der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu reduzieren mit der Vorstellung eines langfristigen und strukturellen Abbaus von Grundsicherungsbeziehenden nicht vereinbar ist. Hier sind Konflikte zwischen den Koalitionspartner*innen absehbar, die sich neben dem arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium auch auf die Regelsatzerhöhung und den Umgang mit Sanktionen erstrecken dürften. Während SPD und Grüne Änderungen befürworten, steht die FDP den Erhöhungen der Regelsätze und einer veränderten Sanktionspraxis kritisch gegenüber. Würde beides am Ende keinen Eingang in das neue Bürgergeld finden, stellt sich die Frage nach Aufwand und Nutzen. Denn dann bliebe das Bürgergeld „Hartz IV“ im leicht angepassten Gewand.
Jutta Schmitz-Kießler 2022, „Hartz 4“ wird zu „Bürgergeld“ – Großer Wurf oder alles beim Alten?, in: sozialpolitikblog, 01.09.2022, https://difis.org/blog/?blog=22 Zurück zur Übersicht
Dr. Jutta Schmitz-Kießler ist Mitarbeiterin am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg Essen und leitet dort das Informationsportal zur Sozialpolitik www.Sozialpolitik-aktuell.de . Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Alter, Alterssicherung und Erwerbstätigkeit im Rentenalter; Armut und soziale Ungleichheit; Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungsverhältnisse; Frauenerwerbsbeteiligung und Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt.
Nach den Daten der Bundesagentur für Arbeit bezogen im Jahr 2021 deutschlandweit knapp 5,3 Millionen Menschen zwischen 15 und 65 Jahren Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. In der Mehrzahl der Fälle (etwa 72%) handelt es sich dabei um Personen, die erwerbsfähig waren, aber auf dem Arbeitsmarkt aus unterschiedlichen Gründen keinen Anschluss fanden. Im Zeitverlauf ist zwar ein leichter, wenn auch nicht ganz kontinuierlicher Rückgang der Empfängerzahl von SGB II Bezieher*innen zu sehen, aber vor dem Hintergrund der ausgesprochen positiven Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt fällt dieser Rückgang eher gering aus. Das lässt sich noch deutlicher ablesen, wenn man die Zahl der Grundsicherungsbeziehenden ins Verhältnis zur Bevölkerung setzt. Die so errechnete Empfängerquote von Leistungen der Grundsicherung ist in den letzten zehn Jahren nur moderat gesunken, von 9,5 % im Jahr 2011 auf 8,1 % im Jahr 2021.