Was bringt der Kompromiss bei der Kindergrundsicherung?
Das Bundeskabinett hat den Gesetzentwurf für die Kindergrundsicherung beschlossen. Was von dem großen sozialpolitischen Vorhaben geblieben ist und ob künftig mehr Menschen die Leistung in Anspruch nehmen, darüber spricht Prof. Dr. Constanze Janda von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer im sozialpolitikblog-Gespräch.
Interview: Johanna Ritter
Nach wochenlangem Ringen hat sich das Bundeskabinett auf einen Gesetzentwurf für die Kindergrundsicherung geeinigt. Was ändert sich für armutsbetroffene Kinder und ihre Familien, wenn das Gesetz in Kraft tritt?
Es ist ein umfangreicher Gesetzentwurf, der einiges verändert. Es werden verschiedene Leistungen zusammengeführt, die bis jetzt verstreut über die unterschiedlichen Sozialgesetzbücher sind: Kindergeld, Kinderzuschlag, Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, Leistungen nach dem SGB II, also das Bürgergeld. Die Idee ist, dass man als armutsbetroffenes Kind beziehungsweise Eltern leichter herausfinden kann, ob man einen Anspruch auf die Leistungen für Kinder hat, diese leichter beantragen kann und dann leichter erhalten soll. Ebenso angelegt ist, dass die Leistungen für die Kinder nicht mehr im Jobcenter bearbeitet werden. Das sieht der Gesetzgeber als stigmatisierend an und stattdessen soll das jetzt über die sogenannte Familienservicestelle, die bei der Bundesagentur für Arbeit angesiedelt ist, gelöst werden. Eine andere Frage ist, ob sich das in der Realität umsetzen lässt.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat erste Zahlen vorgelegt. Demnach soll es künftig bis zu 636 Euro für Kinder armutsbetroffener Eltern geben. Ist das Ergebnis eine angemessene Antwort auf die bestehende Kinderarmut?
Nur teilweise. Der fixe Kindergarantiebetrag soll das bisherige Kindergeld ersetzen. Das ist der Anteil, den alle Kinder erhalten. Aktuell sind es 250 Euro, das es ist in den letzten Jahren deutlich erhöht worden. Und darüber hinaus gibt es den Zusatzbetrag, der für armutsbetroffene Familien gedacht ist. Er führt verschiedene staatliche Leistungen zusammen: Bürgergeld, Kinderzuschlag sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepakets. Es wurde auch angekündigt, das jetzt noch mal genau die Leistungen, die es bisher aus dem Bildungs- und Teilhabepaket gab, überprüft werden. Die vollständige Neuberechnung des Existenzminimums für Kinder ist bisher an den zur Verfügung gestellten Haushaltsmitteln gescheitert. Aber eine gewisse Erhöhung der Gesamtaufwendungen geht mit der Änderung einher und viele Familien mit kleinem oder fehlendem Einkommen werden höhere Leistungen erhalten.
Bei der Bündelung verschiedener Leistungen ist es heute also gar nicht so einfach zu sagen, wie hoch genau die materielle Verbesserung für einzelne Kinder aussehen wird?
Richtig. Es wird den Staat aber auf jeden Fall mehr kosten, weil mehr Menschen Leistungen in Anspruch nehmen. Das betrifft vor allem die Menschen, die zu viel Einkommen haben, um Bürgergeld zu beziehen, aber zu wenig, um den Lebensunterhalt decken zu können, die also berechtigt sind, den sogenannten Kinderzuschlag zu beziehen. Dieser Zuschlag wurde bisher von sehr wenigen Menschen beantragt, weil vielen ihr Anspruch darauf gar nicht bewusst ist und es komplexe Regeln gibt, was die Einkommenshöhe und die Schwellenwerte für Wohngeld und andere Bedarfe betrifft. Der Kreis der Leistungsempfänger wird also sehr wahrscheinlich größer. Und das ist ja auch ein Ziel des Gesetzes.
Sie sehen also das Potential in der Reform, dass mehr Menschen Leistungen in Anspruch nehmen.
Ja. Allein durch die öffentliche Debatte ist es bei vielen Menschen präsenter geworden, dass es diese Leistung gibt. Es wird in Zukunft einen Kindergrundsicherungs-Check geben, den die Familienservicestelle durchführen wird. Das ist eine elektronische Vorprüfung, ob Personen Anspruch auf Leistungen haben. Diese Idee ist gut, aber das Problem wird in der Umsetzung bestehen: Um diesen Check durchzuführen, müssen Betroffene ihr Einverständnis zur Verarbeitung ihrer Daten geben. Viele kennen sicher diese Aufklärungsbögen über den Datenschutz. Das heißt, es wird eine Aktivität von den Familien gefordert und ich könnte mir vorstellen, dass es dann einzelne gibt, die davon überfordert sind. Das wird also eine Frage der Kommunikation sein, ob es gelingt.
Das heißt, es gibt noch Fallstricke bei der Inanspruchnahme der Leistung?
Genau, es sind wirklich detailreiche Regelungen. Bei einer anderen Leistung hat man das besser gelöst: Mit der Grundrente, für Menschen die trotz langjähriger Berufstätigkeit auf Grundsicherung angewiesen sind, hat der Gesetzgeber ein Mechanismus eingeführt, der automatische Daten zum Einkommen vom Finanzamt abgleicht. Das scheint mir viel einfacher und niedrigschwelliger ausgestaltet zu sein. So könnte es doch auch bei der Kindergrundsicherung sein. Als Familie bekäme man nach dem Datenabgleich Post, in der steht: Sie sind leistungsberechtigt, kommen Sie bei der Familienservicestelle vorbei. Es wäre aus meiner Sicht mindestens so wichtig wie das Überarbeiten und Bündeln einzelner Leistungen, dass es eine zentrale Stelle gibt, an die sich Familien, vor allem armutsbetroffene Familien, wenden können und dort auf Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen treffen, die für alle Fragen ansprechbar sind und sich um verschiedene Leistungen kümmern.
Die Kindergrundsicherung soll zahlreiche Einzelleistungen vereinen. Ist das gelungen oder gibt es weiterhin Doppelstrukturen?
Es wird weiterhin Doppelstrukturen bei den Leistungen geben. Ein Beispiel sind alleinerziehende Elternteile, die ein bestimmtes Mindesteinkommen überschreiten und einen Unterhaltsvorschuss beantragen, weil der andere Elternteil den Unterhalt nicht zahlt. Sie müssen diesen Vorschuss weiterhin bei der Kommune – in der Regel beim Jugendamt – beantragen. Das liegt daran, dass die Kindergrundsicherung eine nachrangige, existenzsichernde Leistung ist. Das bedeutet, dass man vorher alle anderen Mittel und Einkünfte, die man erzielen kann, ausschöpfen muss, unter anderem Unterhaltszahlungen. Diesen Vorschuss, der gewährt wird, wenn Unterhalt nicht gezahlt wird, hätte man vielleicht auch vollständig in die Kindergrundsicherung integrieren können. Separat werden sogenannte Mehrbedarfe beantragt, zum Beispiel zusätzliche Kosten für Ernährung aus medizinischen Gründen oder Extra-Kosten für die Anschaffung und Ausleihe von Schulbüchern. Das betrifft vor allem Familien im Bürgergeldbezug. Wenn sie für Ihre Kinder Bedarfe haben, die nicht über das Kindergeld gedeckt sind, dann müssen sie die Mehrbedarfe, wie heute schon, beim Jobcenter beantragen. Das heißt, die Menschen müssen sich dann doch an mehrere Stellen wenden.
Sie haben schon mehrfach Familienservicestelle, die bei der Bundesagentur für Arbeit angesiedelt sein wird, angesprochen. Kritiker*innen warnen vor einem gigantischen Verwaltungsumbau. Ist die Schaffung eine neue Anlaufstelle riskant für die Umsetzung? Und reicht die vorgesehen Ausstattung für die Stelle?
Die Familienkasse, die heute schon das Kindergeld auszahlt, wird zur Familienservicestelle und künftig für die Kindergrundsicherung zuständig. Ein Verwaltungsverwaltungsumbau ist immer ein Wagnis, weil etablierte Strukturen und Abläufe aufgebrochen werden. Aber ich finde, ein Umbau ist auch erforderlich, weil wir jetzt die Situation haben, dass die Vielzahl von Anlaufstellen und Abläufen dazu führt, dass viele Leute die Leistungen, die ihnen zustehen, nicht in Anspruch nehmen. Um das zu verbessern, muss man die Zuständigkeiten bündeln. Das setzt voraus, dass genügend Beschäftigte für eine solchen Umbau da sind, und da ist der öffentliche Dienst wie alle anderen Branchen vom Fachkräftemangel betroffen. Die Beschäftigten müssen außerdem rechtzeitig geschult werden. Außerdem müssen Strukturen für den Datenaustausch geschaffen werden. Bei der Existenzsicherung von Kindern kann man sich keinen Fehlgriff leisten.
Gibt es blinde Flecken in der Debatte um die jetzt beschlossene Umsetzung?
Ja, die gibt es. In der politischen Debatte wurde ja auch immer wieder angesprochen, dass Familien auch etwas anderes brauchen als zusätzliche Geldleistungen. Zugang zu guter Arbeit und Bildung zum Beispiel. Ich finde diese Debatte unglücklich, weil es oft so wirkt, als wäre das eine Alternative zu höheren Leistungen. Dabei muss beides zusammenwirken. Dazu gehört auch die Stärkung der sozialen Dienste. Davon hängt viel ab. Gehe ich zu einer gut organisierten und gut ausgestatteten Stelle mit engagierten Mitarbeitenden, die Bedarfe verstehen und weiterhelfen können oder an eine Stelle, wo Sachbearbeitende, aus Überlastung oder anderen Gründen, nur ihr Programm abspulen und armutsbetroffenen Familien weniger weiterhelfen?
Der Entwurf sieht vor, den Sofortzuschlag für geflüchtete Kinder zu streichen. Sind sie Verlierer*innen dieser Reform?
Man kann sagen, dass sie den politischen Preis in dieser Reform bezahlen. Es ist eine bedenkliche Tendenz, dass in der Debatte Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.
Die politische Debatte war aufgeheizt und nicht selten wurden Vorurteile über armutsbetroffene Menschen und marginalisierter Gruppen verbreitet und verfestigt. Was lässt sich daraus für die sozialpolitische Debatte lernen?
Ja, es wird Misstrauen gegenüber armutsbetroffenen Menschen geschürt. Dabei ist das zum Beispiel hinreichend durch Studien belegt worden, dass arme Eltern Leistungen, die sie für ihre Kinder erhalten, ihren Kindern zugutekommen lassen. Man muss viel stärker in die Debatte rücken, warum Menschen arm sind und warum ihre Kinder oft arm bleiben. Dann kommt man zu einem ganzheitlicheren Blick auf die Leistung und versteht, dass man sowohl mehr Geld als auch andere Leistungen braucht. Man kann auch aus dem politischen Verlauf zur Umsetzung einer solchen Reform lernen. Es zeigt sich, dass immer Kompromisse gefunden werden müssen. Aber mein Eindruck ist im Moment, dass die Kompromisse zulasten derer gefunden werden, die keine große Lobby haben und eben auch nicht die Kraft haben, ihre Forderungen und ihre Bedarfe laut in der Öffentlichkeit zu äußern. Das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz ist aber nicht haushaltsabhängig, sondern man muss den Haushalt so aufstellen, dass man dieses Recht sicherstellen kann.
Constanze Janda 2023, Was bringt der Kompromiss bei der Kindergrundsicherung?, in: sozialpolitikblog, 05.10.2023, https://difis.org/blog/?blog=80 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Constanze Janda ist Inhaberin des Lehrstuhls für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaft an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im deutschen und europäischen Sozialrecht, insbesondere im Medizin- und Pflegerecht, Rentenversicherungsrecht und dem Recht der existenzsichernden Leistungen, sowie seinen Schnittstellen zum Migrationsrecht. Im Wintersemester 2023/2024 ist sie Fellow am DIFIS.
Bildnachweis: Klaus Landry