Das Leistungsverständnis von Grundsicherungsbezieher*innen
Obwohl sich die Grundsicherung als Transfer am Prinzip des Bedarfs ausrichtet, ist Leistung auch für Grundsicherungsbezieher*innen wichtig. Das zeigen Interviewdaten aus dem Projekt „Gerechtigkeitsvorstellungen von erwerbstätigen Arbeitslosengeld II-Beziehern“ (GEVOAB).
Nicht selten erfahren Erwerbslose oder Grundsicherungsbezieher*innen dieses erwerbsarbeitszentrierte Leistungsverständnis als Abwertung ihrer gesellschaftlichen Position. Denn die Vorstellung darüber, ob jemand etwas leistet, wird so maßgeblich über dessen beruflichen Erfolg bestimmt (Neckel et al. 2004). Wie nun aber Grundsicherungsbezieher*innen ihre eigene Leistung charakterisieren, möchte diese Beitrag kurz anreißen. Dafür werde ich auf Interviewdaten aus dem Projekt GEVOAB („Gerechtigkeitsvorstellungen von erwerbstätigen Arbeitslosengeld II-Beziehern“) zurückgreifen und zeigen, dass bei den befragten Grundsicherungsbezieher*innen zwei konkurrierende Verständnisse von Leistung vorliegen.
Warum Leistung auch für Grundsicherungsbezieher*innen wichtig ist
Die bundesrepublikanische Gesellschaft versteht sich nach wie vor als erwerbsarbeitszentrierte Leistungsgesellschaft und schreibt der individuellen Leistung einen hohen Stellenwert zu. Vor dieser Prämisse stehen auch die ALG II-Bezieher*innen. Obwohl die Grundsicherung als Transfer nicht an Leistung, sondern am Prinzip des Bedarfs ausgerichtet ist, wirkt Leistung innerhalb dieses Rahmens eines bedarfsorientierten Systems als gesellschaftlich weithin geteilte Vorstellung nach.Analytisch lässt sich Leistung als eine Beziehung von Aufwand und Ergebnis fassen. Der Aufwand muss dabei individuell zurechenbar sein, während das Ergebnis als gesellschaftlich erwünscht charakterisiert werden kann. Zwar gibt es bei ALG II-Bezieher*innen keine Relation wie in Sozialversicherungen zwischen einer Vorleistung (Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen und Erfüllung von Wartezeiten) und dem finanziellen Transfer als Sozialleistung bei Eintritt des sozialen Risiko, aber innerhalb des Bedarfsrahmens entsteht doch so etwas wie eine Leistungserwartung: Zunächst wird ein bestimmtes Verhalten von Grundsicherungsempfänger*innen erwartet, das auf eine möglichst schnelle Aufnahme einer Erwerbstätigkeit abzielt und sich rational an diesem Ziel orientiert . Dazu kommt eine gewisse Erwartung, was als (Gegen-)Leistung von ihnen erwartet werden kann: Einhaltung der Termine beim Jobcenter, Mitwirkung bei den Maßnahmen und Eigenmotivation bei der Suche nach Integration in die Erwerbsgesellschaft. Die Mitarbeit ist dabei – wie hinlänglich bekannt – sanktionsbewehrt, wenn auch die weitreichendsten Sanktionen aktuell ausgesetzt sind oder wie die 100%-Sanktion 2019 für verfassungswidrig erklärt wurden oder in dem Gesetzentwurf für das ab 1. Januar 2023 einzuführende Bürgergeld reformiert werden sollen (inklusive einer sechsmonatigen „Vertrauenszeit“; kritisch dazu: Staiger 2022).
Das klare Ziel ist die „Integration“ in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Für die ALG II-Bezieher*innen ist die Situation häufig schwierig, da neben der Erwerbsarbeit kein gesellschaftlich erwünschtes Ergebnis bereitsteht, das ihnen einen positiven Bezug zur Vorstellung der von ihnen erbrachten Leistung erlauben würde. Wie die Betroffenen selbst damit umgehen, wird in der genannten Studie gezeigt. Es bilden sich zwei unterschiedliche Verständnisse von Eigenleistung heraus, die hier anhand von Beispielen aufgezeigt werden.
Die erste Gruppe von Interviewten folgt einem Leistungsverständnis, das sich auf das Ergebnis verlegt und die Leistung nur daran misst, ob dieses Ergebnis eintritt oder nicht. Im ersten Fallbeispiel ist eine deutliche Übereinstimmung mit dem Verständnis von Leistung als Erwerbsarbeit erkennbar. Frau Manske[1] ist alleinerziehende Mutter und arbeitet in Teilzeit in einem Callcenter. Sie erhält aufstockend ALG II und äußert sich wie folgt:
Sehr wichtig. Weil ich will den Kindern das ja auch zum einen vorleben natürlich, nicht dass sie hier werden wie die, die hier immer an den Bushaltestellen herumlungern und ähm für mich selber einfach auch, weil es – ich kann nicht 24/7 zuhause sitzen, mir würde so die Decke auf den Kopf fallen, ich will da was zu tun haben, ich will auch einfach, ähm dass, ich sag mal auch, man braucht das Gefühl, dass man gebraucht wird, dass man eben was Sinnvolles macht natürlich auch.
Der Erwerbsarbeit kommt hier eine hohe Bedeutung zu, die als Aktivität auch den Kindern vorgelebt werden soll und damit eine symbolische Komponente erhält – neben der materiellen Frage. Mit Aktivität ist aber neben der Erwerbsarbeit zudem eine allgemeineres Aktiv-sein verbunden, das gegen eine bestimmte Passivität – im Beispiel des „Herumlungerns“ – gesetzt wird. Die Vorbildfunktion für die Kinder verdeutlicht für Frau Manske die Bedeutung ihrer Leistungsbereitschaft.
Dieses Element des Aktiv-seins ist in dem zweiten Leistungsverständnis verselbstständigt gegenüber dem Ergebnis der Integration in die Erwerbsarbeit. Man kann hier von einem aufwandsbezogenen Leistungsverständnis sprechen: Dies liegt da vor, wo Äußerungen getätigt werden, die nicht auf das Ergebnis abstellen, sondern für die Anerkennung eines betriebenen Aufwandes kämpfen. Zwei Beispiele dazu drehen sich um Ehrenamt und das ‚Zurechtkommen‘ im ALG II-Bezug. Frau Markig lebt alleine und ist mit einer psychischen Erkrankung im AL II-Bezug. Sie übt ein Ehrenamt aus, in dem sie für wohnungslose Menschen kocht und Essen verteilt. Als sie diese Tätigkeit gegenüber dem Jobcenter meldet, wird ihr der Leistungssatz um diese Mittagessen gekürzt. Worüber sie empört ist:
Und ich finde das sind einfach Sachen das funktioniert nicht, man tut etwas für andere und ähm solche Kleinigkeiten werden dann aufgerechnet und manchmal wird man für die Sachen, die man macht, auch noch bestraft.
Nicht nur bedeutete die Kürzung einen finanziellen Schaden. Auch symbolisch sieht sie sich bestraft für eine im Grunde wertvolle Tätigkeit, die sie im Sinne der Gesellschaft erfüllt. Das Ehrenamt ist zweifellos von gesellschaftlicher Bedeutung. Dabei wird systematisch in ihrer Deutung ihre Aktivität und auch das Ehrenamt übersehen. Aktivität ist auch bei ihr positiv konnotiert, weil sie eine gewisse Selbstbestimmung impliziert, die aber nicht anerkannt wird. Eine ähnliche Situation zeigt sich bei Frau Unge, die mit ihrem Mann zusammen in einer Bedarfsgemeinschaft lebt. Beide sind chronisch erkrankt und sehen am Arbeitsmarkt für sich wenig Chancen. Dennoch macht auch sie eine Leistung geltend:
Sie spricht hier von einem persönlichen Stolz. Stolz auf die Anpassung an die knappen finanziellen Mittel für sich und ihren Partner. Die Anpassung ist aufwändig, hart erarbeitet – sie musste sich dazu erziehen – und wird dennoch als solches kaum gewürdigt. Auch die Absicherung über die „Schuldenfrage“, die sie verneinen kann, impliziert die Suche nach Anerkennung für ihre Leistung unter erschwerten Bedingungen.
Konsequenzen für das Bürgergeld
Beide Beispiele zeigen auf, wie nach anderen Deutungen von Leistung gesucht wird. Einerseits entsprechen diese Deutungen einer Lebenswelt der Interviewten, die geprägt ist von einem eingeschränkten Leistungsvermögen im Sinne der Interpretation als Erwerbstätigkeit, andererseits wird auch hier an der Leistungskategorie festgehalten, die weiterhin eine Bezugnahme auf gesellschaftlich geteilte Werte erlaubt. Gewissermaßen stellt die Aufrechterhaltung der Leistung für die Betroffenen eine Verbindung und positive Deutung in Aussicht, die angesichts des ALG II-Bezugs gesellschaftlich in Frage steht.
Für die Diskussion um das Bürgergeld – als Reform des ALG II – wäre es mehr als sinnvoll, auch die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen, um Einblicke in die Lebenswelt aber auch Selbstverständnisse zu erhalten. Diese subjektiven Deutungen sind, wie hier kurz skizziert wurde, deutlich geprägt von den lebensweltlichen Erfahrungen, für die – wenn auch zaghaft – um Anerkennung geworben wird. Leistung ist dabei ein bedeutsamer Bezugsrahmen, der gesellschaftlich Anschluss sucht und dabei eben jene lebensweltlichen Erfahrungen reflektiert, die positive Bezüge zulassen. Auf diese müsste Sozialpolitik in irgendeiner Form reagieren können.
[1] Die Personen sind anonymisiert, die Namen fiktiv.
Literatur
Neckel, Sighard; Dröge, Kai; Somm, Irene (2004): Welche Leistung, welche Leistungsgerechtigkeit? Soziologische Konzepte, normative Fragen und einige empirische Befunde. In: Peter A. Berger; Volker H. Schmidt (Hg.) Welche Gleichheit, welche Ungleichheit? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 137-164.
Promberger, Markus (2009): „Fünf Jahre SGB II – Versuch einer Bilanz“, WSI-Mitteilungen, 11: 604-611.
Jürss, Sebastian (2021): "Da klafft ne Ungerechtigkeit" – zu den Gerechtigkeitsvorstellungen von Aufstocker*innen, SOCIUM SFB 1342 Working Papers. https://www.socialpolicydynamics.de/f/4c1ffee519.pdf
Staiger, Martin (2022): Bürgergeld: Neues Label, altes Denken? Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/22, 109-114.
Sebastian Jürss 2022, Das Leistungsverständnis von Grundsicherungsbezieher*innen, in: sozialpolitikblog, 13.10.2022, https://difis.org/blog/?blog=29 Zurück zur Übersicht
Sebastian Jürss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (SOCIUM) der Universität Bremen. Er promoviert zu Gerechtigkeitsvorstellungen von (erwerbstätigen) ALG II-Bezieher*innen.