Familienleben im Grundsicherungsbezug
Familien, die mit dem Existenzminimum leben, begegnen im Alltag vielen Zwängen und erleben kritische Lebensphasen. Eine qualitative Studie beleuchtet die Lebenswelten von Familien in der Mindestsicherung und deren Strategien, Armutslagen zu verarbeiten. Fachkräfte in Jobcentern beeinflussen die Lebenssituation von Familien und müssen sich auf die Lebensumstände der Familien einstellen.
Der deutsche Sozialstaat hat in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen, Familien mit geringem Einkommen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. In diesem Zeichen stehen zuletzt die Einführung des Bürgergelds im Januar 2023 und die Pläne zur Kindergrundsicherung. Gleichzeitig werden die Kontrolle und Mitwirkungspflichten der Bezieher*innen von Mindestsicherungsleistungen betont, wie aktuell die Verschärfung von Sanktionen im Rahmen des Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes zeigt.
Unter dem Radar der öffentlichen Debatte läuft der Ausbau der personenbezogenen Dienstleistungen zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit in den Jobcentern. Mit einem gesonderten Fallmanagement (vgl. Meißner 2021) wird versucht, die familiären Lebensumstände der Klient*innen umfassend zu berücksichtigen. Beratungskonzepte, die auf die Familienkonstellation abzielen, zum Beispiel in Form von Gruppenberatungen, sowie Vermittlungs- und Qualifizierungsangebote für Erziehende sollen die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit verbessern.
Bisher fehlen detaillierte Studien, wie gesetzliche Regelungen und Beratungs- und Vermittlungsdienstleistungen im Familienleben wirken, welche Relevanz sie für die Familienbeziehungen und die Orientierungen von Eltern haben. Dieser Forschungslücke habe ich mich im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts gewidmet.
Die ausführlichen Interviews, die ich für das Projekt mit den Eltern von Familien im Grundsicherungsbezug geführt habe, geben Einblicke in den Familienalltag und die Familienbiographien – das Leben vor dem Bezug von Grundsicherungsleistungen und einschneidende Ereignisse im Familienleben. Arbeitslosigkeit und nicht existenzsichernde Beschäftigung sind dabei nicht die einzigen Krisen. In kritischen Lebensphasen fordern Krankheiten der Eltern und Kinder, Erziehungsprobleme oder Konflikte von Paaren das Zusammenleben heraus (vgl. auch Hirseland/Bähr 2021). Typischerweise geht mit diesen Krisen eine institutionelle Einbindung in verschiedene soziale Hilfen einher (vgl. Paik 2021) – das Jobcenter ist in den Lebenswelten eine Institution unter anderen. In meiner Studie habe ich auch die Perspektive von Jobcentern eingeholt und Fachkräfte im sogenannten Fallmanagement, die mit den Leistungsbeziehenden täglich arbeiten und sehr häufig Alleinerziehende, Familien mit kranken Angehörigen oder Familien mit Fluchtgeschichte betreuen, interviewt.
Wie Jobcenter mit Familien im Leistungsbezug arbeiten
Die Grundsicherung für Arbeitssuchende sichert in Form des Bürgergeldes das soziokulturelle Existenzminimum von Erwerbsfähigen und der Personen, die mit diesen in einer „Bedarfsgemeinschaft“ zusammenleben, das heißt materiell füreinander einstehen. Aktuell beziehen in Deutschland 2,7 Millionen Bedarfsgemeinschaften Mindestsicherungsleistungen, in über ein Drittel der Haushalte leben Kinder, ein hoher und im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überproportionaler Anteil sind Haushalte von Alleinerziehenden. Neben Geldleistungen sieht die Mindestsicherung aktive Leistungen der Arbeitsförderung vor. Deren Ziel ist es – nach Maßgabe eines Forderns und Förderns – alle erwerbsfähigen Leistungsberechtigten der Familie in den Arbeitsmarkt zu integrieren und damit auch Erziehende zu aktivieren. Dazu gehört vor allem die Beschäftigungsförderung und (Nach-) Qualifizierung von Alleinerziehenden sowie Elternteilen in Familien mit traditionellen Mustern häuslicher Arbeitsteilung. Auf diese soll mit gezielten Angeboten und Beratungsformen, wie Gespräche mit der gesamten Bedarfsgemeinschaft, Einfluss genommen werden. Sozialpolitisches Leitbild dieser Bemühungen ist ein „Adult Worker Model“, demzufolge alle Erwerbsfähigen unabhängig von Sorgepflichten ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten sollen.
Rechtlich können sich Erziehende bis zum dritten Lebensjahr des Kindes auf Unzumutbarkeit der Aufnahme einer Beschäftigung berufen. Doch auch danach haben die Fallmanager*innen große Ermessensspielräume, einen oder beide Elternteile in Abhängigkeit von der individuellen Betreuungssituation, wie Schulzeiten, besonderer Förderbedarf des Kindes, Krankheiten, in Beschäftigung oder Maßnahmen zu vermitteln. Wie Forschungen zur Grundsicherung (Bähr et al. 2019) zeigen, gehen Fachkräfte je nach Familienkonstellationen, Qualifikationen der Eltern und sonstigen Lebensumständen unterschiedlich vor. Sie wirken auf Veränderungen von beruflichen Orientierungen und Verteilungen im Paar hin, zum Beispiel durch die Vermittlung von Vollzeitstellen oder Ausbildungen an Mütter, oder akzeptieren diese als Privatangelegenheit und konzentrieren ihre Bemühungen auf eine*n der Partner*innen, nicht selten den männlichen Part (vgl. ebd., S. 62ff.).
Familienleben im Leistungsbezug aus der Graswurzelperspektive
Doch welche Perspektive haben die Familien selbst auf ihre Lebenssituation und die Zusammenarbeit mit dem Jobcenter? Um Antworten darauf zu finden, habe ich die Gestaltung von Paar- und Eltern-Kind-Beziehungen unter Bedingung des Grundsicherungsbezugs untersucht und nach den Bedeutungen gefragt, die die Eltern der Beratungs- und Vermittlungsarbeit im Jobcenter beimessen. Das Projekt wählte einen qualitativen Zugang auf Basis von Familieninterviews. Die Methode der Fallrekonstruktion zielt anhand einzelner Fälle auf ein differenziertes Verständnis der familialen Lebensrealitäten und analysiert dafür alltägliche Orientierungen, Beziehungsdynamiken und Familienverläufe. Dadurch wird sichtbar, dass Familien nicht einfach situativ auf materielle Zwänge reagieren oder sozialstaatliche Leistungen passiv in Anspruch nehmen, sondern ihr Handeln mit lebensweltlicher Bedeutung versehen.
Insgesamt 14 Familien nahmen an dem Projekt teil, darunter Paarfamilien, allein- und getrennt Erziehende sowie Patchworkfamilien. Die Eltern haben über zwei Jahre Grundsicherungsleistungen bezogen, einige waren zum Interviewzeitpunkt erwerbslos, andere waren erwerbstätig oder in Ausbildung und stockten ihr Einkommen mit Leistungen der Grundsicherung auf. Die Familien haben alle mindestens ein Kind im Schulalter, viele davon im Grundschulalter und befinden sich folglich in einer Phase mit verstärkten Vereinbarkeitsproblemen. Bei den Allleinerziehenden wurden einzelbiographische Interviews geführt, Paare wurden hingegen gemeinsam befragt.
Daneben habe ich 23 Expert*inneninterviews, davon 18 mit Fach- und Führungskräften in mehreren Jobcentern durchgeführt. Diese geben zusätzliche Einblicke in Problemwahrnehmungen und berufspraktische Orientierungen in der Arbeit mit Familien im SGB II. Die familienlebensweltlichen Perspektiven konnten so mit Perspektiven von Fachkräften kontrastiert werden. (vgl. Hirseland/Flick 2018, S. 8)
Familienstrategien im Austausch mit dem Jobcenter
Die qualitative Armutsforschung rekonstruiert Wahrnehmungen und Bewältigungsweisen und zeigt, wie Leistungsbeziehende soziale Anerkennung und Teilhabe in ihrem Handeln herstellen, zum Beispiel indem sie auf die Norm der Erwerbsarbeit Bezug nehmen (Marquardsen/Scherschel 2022; Weißmann 2016). Dies gilt in erhöhtem Maße für Familien als soziale Gruppe (Daly 2017; Daly/Kelly 2015). So stehen Familien vor der Aufgabe, mit staatlichen Einrichtungen wie dem Jobcenter zu kooperieren und gleichzeitig Grenzen zu den Einrichtungen zu ziehen.
Ein zentraler Befund meiner Studie sind die Strategien, die Familien im Austausch mit dem Jobcenter verfolgen. In einer typischen Strategie, die ich Immunisierung bezeichne, nehmen Eltern das Jobcenter eher als anonyme Institution wahr. Sie weisen Vermittlungsangebote zurück, indem familiäre Umstände pauschal angezeigt werden, zum Beispiel fehlende öffentliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Häufig liegen bei den Familien akute Familienkrisen vor, die sie gegenüber dem*r zuständigen Fallberater*in nicht offenlegen. Der Spielraum für eine fallzentrierte Beratung wird dadurch von vornherein erheblich eingeschränkt.
In personalisierten Strategien steht hingegen der gezielte Kontakt zu einzelnen Jobcentermitarbeitenden, aber auch zu anderen Hilfeakteuren (Sozialarbeitende und Ehrenamtliche) im Vordergrund. Die Eltern berichten von einem Kontakt ‚auf Augenhöhe‘, teils wird dies auch als eine bevorzugte Behandlung im Vergleich zu anderen Klient*innen empfunden. Teils werden die Mitarbeitenden bedeutsam für die Bewältigung von Familienkrisen oder für zentrale biographische Entscheidungen, wie die Aufnahme einer Ausbildung oder ein Studium nach Eintritt des Kindes in den Kindergarten.
In einer typischen dritten Strategie betonen Eltern das Erlernen eines Umgangs mit dem Jobcenter. Dabei geht es vor allem um informelle Regeln, zum Beispiel die Aussagen der Fachkräfte zu hinterfragen, sich nicht auf Angaben über Anspruchsrechte zu verlassen, sich selbst zu informieren und Informiertheit im Austausch mit den Fachkräften zu signalisieren. Längere Bezugsdauern oder der wiederkehrende Leistungsbezug und negative Erfahrungen in Beschäftigungsförderungsmaßnahmen in der Vergangenheit machen die Ausbildung einer solchen Haltung wahrscheinlich. Das Jobcenter erscheint in den Lebenswelten so kaum als Quelle von Hilfe und Unterstützung bei der Integration in das Erwerbsleben.
In detaillierten Fallrekonstruktionen lässt sich nachvollziehen, wie solche Orientierungen und Strategien in den Biographien entstehen und wie sie von den Grundsicherungsinstitutionen mitbedingt werden. Erfahrungen am Beginn des Leistungsbezugs – beispielsweise bei den ersten Begegnungen im Jobcenter – scheinen hierfür langfristig prägend zu sein. Eine immunisierende Haltung findet sich zum Beispiel nicht nur in Phasen akuter Familienkrisen. Häufig reagieren Familien damit auch darauf, dass ihnen bei Vermittlungsgesprächen im Jobcenter Misstrauen entgegengebracht wurde, etwa nach dem Verlust des Arbeitsplatzes. Der häufige Wechsel des*r Fallmanagers*in kann die Immunisierungsstrategie verstärken.
Die Gespräche dokumentieren ebenso, wie Familien in ihrem Handeln auf gemeinsame geteilte Werte und Selbst-Konzepte als Paar und Familie (‚so sind wir‘) Bezug nehmen. Die Austauschstrategien erhalten und bestärken so gesehen innerfamiliale Orientierungen. Zum Ausdruck kommt dies beispielsweise in einem kindbezogenen Spar- und Ausgabeverhalten oder Versuchen, den SGB II-Bezug von den Kindern abzuschirmen, indem Eltern auf Leistungen der Bildung und Teilhabe verzichten und dadurch finanzielle Engpässe in Kauf nehmen.
Fachkräfte müssen auf die komplexen Lebensumstände von Familien Rücksicht nehmen (können)
Die Befunde der explorativen Studie verdeutlichen, dass Familien den Grundsicherungsbezug eigensinnig bewältigen und wie sie sich Freiheitsgrade im Umgang mit Zwängen im SGB II erarbeiten. Die rekonstruierten Strategien der Familien geben kaum Hinweise auf resignative Haltungen im Grundsicherungsbezug und vielmehr auf eine interne Komplexität der Familienwelten. Im Beziehungsgefüge müssen akute Krisen als Familie gemeinsam bewältigt werden und externe, nur begrenzt durchschaubare Vorgaben von Seiten des Jobcenters und anderen öffentlichen Einrichtungen alltagsweltlich gedeutet werden.
In den Interviews mit den Fachkräften zeigt sich, dass diese sich der komplexen Lebensumstände ihrer Klient*innen bewusst sind. Der Vermittlungsvorrang, die hohen Fallzahlen und die entsprechend knappe Zeit für die Beratung engen den Spielraum des Handelns aber erheblich ein. Fachkräfte beklagen fehlendes Wissen über akute Familienkrisen oder bereits installierte Familienhilfen, wodurch Beratungen und Vermittlungsangebote wirkungslos blieben, und weisen auf Probleme der Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen wie dem Jugendamt hin.
Es sind Reformen notwendig, die Jobcenterfachkräfte in die Lage versetzen, die komplexen Umstände in der Beratungsarbeit aufzugreifen. Dies ist umso drängender, da mit den SGB II-Leistungen soziale Kontrollen verbunden sind, sei es beim Abschluss von Eingliederungsvereinbarungen oder bei der Dokumentation von Beratungsgesprächen. Dabei sollte reflektiert werden, dass das Beratungs- und Vermittlungshandeln Folgen in den familialen Lebenswelten hat, die von den Fachkräften nicht immer absehbar sind. Fachkräfte sollten darin gefördert werden, sozialpädagogische Konzepte in die aktive Arbeitsförderung zu integrieren. Vor allem aber müssen die Rahmenbedingungen personenbezogener Dienstleistungen verbessert werden. Konkret wäre hier etwa an den Betreuungsschlüsseln im Fallmanagement sowie an Wegen der rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit mit den verschiedenen sozialen Hilfen für Familien zu arbeiten.
Literatur
Bähr, Holger; Kirchmann, Andrea; Schafstädt, Christin; Sippli, Khira; Späth, Jochen; Boockmann, Bernhard (2019): Bedarfsgemeinschaften und ihre Mitglieder in der Beratungs- und Vermittlungsarbeit der Jobcenter. IAB-Forschungsbericht 6/2019. Nürnberg. Online verfügbar unter http://doku.iab.de/forschungsbericht/2019/fb0619.pdf (06.02.2024).
Daly, Mary (2017): Money-Related Meanings and Practices in Low-Income and Poor Families. In: Sociology 51 (2), S. 450–465. DOI: 10.1177/0038038515616355.
Daly, Mary; Kelly, Grace (2015): Families and Poverty. Everyday life on a low income. Bristol: Policy Press.
Hirseland, Andreas; Flick, Uwe (2018): Explorationen am Rande der Gesellschaft – Methodische Zugänge qualitativer Forschung zu den Innenwelten des ‚Hartz-IV-Bezugs’. Editorial. In: Sozialer Sinn 19 (1), S. 1–10. DOI: 10.1515/sosi-2018-0001.
Hirseland, Andreas; Bähr, Holger (2021): Bedarfsgemeinschaften: Schwierige Lebenssituationen als Herausforderung für die Beratung und Vermittlung. In: IAB-Forum. Online verfügbar unter https://www.iab-forum.de/bedarfsgemeinschaften-schwierige-lebenssituationen-als-herausfor(22.07.2021).
Marquardsen, Kai; Scherschel, Karin (2022): Eigensinn und Armut – Bewältigungsstrategien am Rande der Gesellschaft. In: Kai Marquardsen (Hg.): Armutsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos, S. 533–548.
Meißner, Matthias (2021): Grundsicherung und rechtliche Beratung. In: Florian Blank, Claus Schäfer und Dorothee Spannagel (Hg.): Grundsicherung weiterdenken. Bielefeld: Transcript, S. 209–225.
Paik, Leslie (2021): Trapped in a maze. How social control institutions drive family poverty and inequality. Oakland, Cal.: University of California Press.
Weißmann, Marliese (2016): Dazugehören. Handlungsstrategien von Arbeitslosen. Konstanz: UVK.
Christian Gräfe 2024, Familienleben im Grundsicherungsbezug, in: sozialpolitikblog, 22.02.2024, https://difis.org/blog/?blog=103 Zurück zur Übersicht
Dr. Christian Gräfe ist Soziologe und arbeitet an der Schnittstelle von Familiensoziologie und Wohlfahrtsstaatsforschung mit dem Schwerpunkt auf qualitativ-fallrekonstruktiven Methoden. Nach seiner Promotion forschte er zu Familienarmut an der Universität Osnabrück, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen im Projekt „Sozialstaatsreform von unten. Vertretung schwacher Interessen durch die Soziale Arbeit als Demokratisierung von Sozialpolitik?“.
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