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Vier passende orangene Puzzleteile in einem Quadrat, wobei das Puzzleteil rechts oben noch frei liegt. Auf den linken Puzzleteilen steht die weiße Aufschrift "care".
Sabrina Schmitt, 03.11.2022

Care-Lagen – ein theoretisches Update für das sozialpolitische Konzept der Lebenslagen

Das Lebenslagenkonzept ist trotz (oder gerade wegen) seines fast 100-jährigen Bestehens nach wie vor ein zentraler Ansatz zur Beschreibung von sozialen Lagen in Deutschland – und nicht nur deshalb ist es Zeit für eine theoretische Weiterentwicklung aus einer Care-Perspektive.


Care-Arbeit – ein Indikator für (prekäre) Lebenslagen

Mit dem Konzept der Lebenslagen können Bedingungen, die die Handlungsmöglichkeiten und Teilhabechancen von Personen oder Gruppen beeinflussen, erfasst werden. Als Bedingungen werden dabei individuelle, ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen verstanden. Genutzt wird das Lebenslagenkonzept häufig zur Erfassung der Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen von spezifischen Personengruppen bzw. zur Analyse von Prekarität – wie etwa im Bereich der Altersarmut von Frauen. Die auf der Grundlage des Lebenslagenkonzepts vorgenommenen Analysen sind wichtig, greifen aber eine wichtige Bedingung von Lebenssituationen allenfalls am Rande auf – und zwar die Bedeutung der Care-Arbeit. Ganz allgemein kann im Anschluss an die Sozialwissenschaftlerin Magrit Brückner Care als „Bereich weiblich konnotierter Fürsorge und Pflege, d. h. familialisierter und institutionalisierter Aufgaben der Versorgung, Erziehung und Betreuung“ (Brückner 2010, S. 43) verstanden werden. Der im vorliegenden Beitrag genutzte Begriff der Care-Arbeit umfasst unbezahlte familiale Sorgetätigkeiten sowie bezahlte personenbezogene Dienstleistungen wie etwa Krankenpflege. Zu der Spezifik von Care-Arbeit gehört, dass sie häufig örtliche Präsenz und mentale Verfügbarkeit erfordert sowie durch ihren hohen Grad an Interaktion zu besonderen Belastungen führen kann (siehe Schmitt 2019 für einen Überblick). Mit Blick auf ihre Charakteristika ist es wenig überraschend, dass gerade Care-Arbeit die Lebenssituation von Menschen, und dabei insbesondere von Frauen und weiblich gelesenen Personen, häufig prekär macht. So führt beispielweise die Übernahme von unbezahlter Care-Arbeit für Kinder insbesondere im Lebensverlauf von Frauen zu einem Armutsrisiko – wie Simone Scherger schon in ihrem Blogbeitrag analysiert hat. Auch die Übernahme von Care-Arbeit als personenbezogene Dienstleistung führt vor dem Hintergrund ihrer stetigen Vermarktlichung zu lebenslagenspezifischen Einschränkungen – etwa im Bereich der psychosozialen Gesundheit.

Care-Arbeit kann somit als bedeutsamer Indikator für die Erfassung sozialer Lagen im Rahmen der Sozialberichterstattung aber auch wissenschaftlicher Auseinandersetzungen verstanden werden. An dieser Prämisse setzt das Konzept der Care-Lagen an und schlägt eine Care-orientierte Perspektivierung des Lebenslagenkonzepts vor.  

Care-Lagen als Erweiterung des Lebenslagenkonzepts

Das aus einer empirischen Studie entwickelte Konzept der Care-Lagen (Schmitt 2022) eignet sich dazu, die Lebenssituation von Menschen aus einer Care-Perspektive zu erfassen, fehlende und vorhandene materielle, finanzielle und soziale Ressourcen zu beschreiben und Strukturen zu identifizieren, die für die Verfügbarkeit bzw. Mangel dieser Ressourcen notwendig wären. Care-Lagen gehen dabei nicht von geschlechtsspezifischen, sondern von care-spezifischen Lagen aus. Im Fokus stehen somit die Lebensverhältnisse von Menschen als Sorgende und Versorgte. Um Lebensverhältnisse aus einer solchen Perspektive zu erfassen, werden im Konzept die Indikatoren des häufig verwendeten deskriptiv-empirischen Lebenslagenkonzepts (Voges et al. 2003) um care-spezifische Indikatoren ergänzt. Betrachtet wird auf diese Weise im Konzept der Care-Lagen, welche und wieviel Ressourcen mit der Übernahme von Care-Arbeit verbunden sind und inwiefern diese Handlungsspielräume erweitern oder bis hin zur Prekarität verengen.

Folgende grundlegende Überlegungen liegen dem Konzept zu Grunde:

  • Care-Arbeit ist nicht nur als eine Tätigkeit, sondern auch als allgemeine Bedingung von Menschsein zu fassen. Denn alle Menschen sind im Lebensverlauf sorgebedürftig und sorgen selbst in der einen oder anderen Weise. Als eine solche Conditio humana stellt Care in seiner gesellschaftskritischen Funktion die Gestaltung eines guten Lebens vor dem Hintergrund der Angewiesenheit aller Menschen auf Sorge in den Mittelpunkt. Für die Bewertung von Lebensverhältnissen bedeutet das, dass nicht allein eine wie auch immer festgelegte Versorgung mit Gütern, sondern auch die Möglichkeit, qualitativ hochwertige Care-Arbeit ohne Armutsrisiko zu leisten und zu empfangen, der Maßstab für ein ‚gutes Leben‘ ist.

 

  • Lebensverhältnisse sind relational zu verstehen und zu erfassen – d.h. Ressourcen sind nie nur individuell verfügbar. So ist etwa die Verfügbarkeit von ökonomischen Ressourcen nicht nur an individuelles Einkommen oder Vermögenswerte geknüpft, sondern auch durch die im Haushalt und sozialen Netzwerken erreichbaren finanziellen Mittel (wie etwa das Einkommen eines*r Lebenspartner*in) bedingt. Aus dieser Relationalität entstehen wiederum (geschlechtsspezifische) Abhängigkeiten und Ermöglichungen, die insbesondere bei der Analyse von prekären Lebensverhältnissen relevant sein können.

 

  • Geschlechterleitbilder rahmen Lebenslagen und beeinflussen in diesem Zusammenhang vor allem die Nicht-Nutzung und Aktualisierung von Ressourcen. Sie wirken als Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit etwa auf den Umfang von Unterstützungsnetzwerken und die Verfügbarkeit von Wissensbeständen. Und sind in diesem Zusammenhang für die Analyse von individuellen Ressourcen und die Wirkung von Sozialpolitiken von Bedeutung.

Care-orientierte Indikatoren von Lebensverhältnissen

Als care-orientierte Indikatoren werden im Konzept der Care-Lagen auf der individuellen Ebene beispielweise Ressourcen Einkommen, Bildung und Netzwerke, aber auch physische und psychische Gesundheit diskutiert. Weiterhin werden auf der strukturellen Ebene sozialpolitische Instrumente und deren implizite normative Setzungen als Indikator aufgenommen (vgl. Tabelle 1). Eine erste, unvollständige Operationalisierung von Care-Lagen ist bei Schmitt (2022, S. 241 ff.) zu finden.



Tabelle 1: Indikatoren im Konzept der Care-Lagen (Schmitt 2022, S. 245)

Mit ‚Care‘ weiterdenken

Das Konzept der Care-Lagen ist als ein erster Aufschlag für eine Care-orientierte, erweiterte Analyse von Lebensverhältnissen zu sehen. Für eine tiefergehende Weiterentwicklung wären weitere empirisch gesättigte Perspektiven und konzeptionelle Arbeit wichtig – gerade auch aus der Sozialpolitikforschung. Mit der Kategorie ‚Care‘ ist jedoch nicht nur eine systematische Integration von Care-Arbeit in die Analyse von Lebensverhältnissen verbunden. Sie verweist weiterhin auf die Notwendigkeit eines sozialpolitischen Paradigmenwechsels. Dieser erfordert erstens, noch mehr Zugangswege zu sozialer Sicherung zu schaffen, die nicht nur auf Lohnarbeit basieren. Und zweitens eine Gestaltung von Sozialpolitik, die die Angewiesenheit aller Menschen auf Sorge zum Ausgangspunkt nimmt.  


Sabrina Schmitt 2022, Care-Lagen – ein theoretisches Update für das sozialpolitische Konzept der Lebenslagen, in: sozialpolitikblog, 03.11.2022, https://difis.org/blog/?blog=32

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