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Eine Frau steht im Regen unter grauen Wolken unter einem zerrissenen gelben Regenschirm und blickt hinauf.
Florian Blank, 08.12.2022

Sozialversicherung und Klimapolitik

In der Debatte um Berührungsflächen von sozialen und ökologischen Fragen, von Umwelt- und Sozialpolitik, klafft eine Lücke: Die Sozialversicherung kommt kaum vor.


Die Frage nach den Berührungsflächen von sozialen und ökologischen Fragen, von Umwelt- und Sozialpolitik wird inzwischen vermehrt aufgerufen – etwa im Rahmen des Sustainable Welfare & Eco-Social Policy Network. Die – sicher kursorische und durch viele zufällige Faktoren geprägte – Beobachtung von wissenschaftlichen Aktivitäten in diesem Feld zeigt, dass eine Vielzahl von Fragestellungen diskutiert wird. Das betrifft unter anderem die Verteilungswirkungen von umweltpolitischen Eingriffen und sozialen Kompensationsmaßnahmen oder die Weiterentwicklung von öffentlichen Dienstleistungen und Infrastruktur in den Bereichen Wohnen, Verkehr und Energie. Trotz der Vielzahl an interessanten und relevanten Zugängen klafft in der Debatte eine Lücke: Die Sozialversicherung kommt kaum vor.

Eine überraschende Leerstelle?

Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Katharina Bohnenbergers Forschungsstandbericht zur Verbindung von Klima- und Sozialpolitik enthält nur fünf Nennungen des Begriffs (Sozial)Versicherung, etwa in Bezug auf Vorschläge neuer Klimarisiko- bzw. Klimasozialversicherungen. Die Lücke überrascht, da Leistungen und Finanzierung, Wirkungen und Weiterentwicklung von Sicherungsinstitutionen für die sozialpolitischen Debatte und die Wohlfahrstaatsforschung zentral sind.

Für den deutschen Sozialstaat gilt nach wie vor, dass die fünf Zweige der Sozialversicherung die wichtigsten Instrumente der sozialen Sicherung sind. Sie sind für rund 62 % der Sozialausgaben verantwortlich (rund 680 Mrd. Euro, 2020, vorläufige Werte). Die Diskussion über die Beziehungen von Sozial- und Umweltpolitik, über die soziale Seite der Bewältigung der größten politischen Herausforderung des Jahrhunderts, blendet also den größten und nach wie vor strukturell prägenden Teil des Sozialstaats weitgehend aus.


Oder doch keine Überraschung?

Näheres Nachdenken über die Prinzipien der deutschen Sozialversicherung führt zu dem Ergebnis, dass die Abwesenheit der Sozialversicherung in der sozial-ökologischen Debatte vielleicht doch keine so große Überraschung ist. Ziel der Leistungen der Sozialversicherung ist die Milderung der Folgen spezifischer Lebensrisiken, die traditionell an den Problemen abhängiger Erwerbsarbeit in einer kapitalistischen Wirtschaft ansetzen (Alter, Arbeitslosigkeit, Berufsunfälle, Krankheit). Von diesem Ursprung ausgehend sind die einzelnen Zweige zwar deutlich weiterentwickelt und durch die Absicherung des Risikos Pflegebedürftigkeit ergänzt worden. Immer noch ist aber bei den Geldleistungen das zentrale Ziel der Lohnersatz mit einem starken Bezug zu den aus Erwerbseinkommen geleisteten Beiträgen. Damit verbunden ist leistungsseitig das Kausalitätsprinzip – es geht weniger darum, eine individuelle Lebenslage zu verbessern, als auf den Eintritt eines definierten Leistungsfalls zu reagieren. Hinzu kommen noch Dienstleistungen, häufig auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit bezogen. Die explizite Umverteilung steht bei der Gestaltung von Finanzierung und Leistungen nicht im Vordergrund.


Die bisher abgesicherten Risiken und ihre Bearbeitung durch die Sozialversicherung fügen sich nicht ohne Weiteres in die aktuelle sozial-ökologische Debatte ein. Die dort diskutierten sozialen Folgen ökologischer Katastrophen und/oder umweltpolitischer Maßnahmen setzen häufig bei Preisen und Konsum an und bei den Auswirkungen auf die Gesamteinkommenssituation der Haushalte – ohne zu fragen, aus welchen Quellen sich das Haushaltseinkommen speist. Die Debatten fokussieren zudem Politikbereiche, die neben der „traditionell“ in der Wohlfahrtsstaatsforschung analysierten Sozialpolitik stehen, etwa öffentliche Infrastrukturen oder Probleme wie Mobilitätsarmut. Die „alten Risiken“ und die Mechanismen zu ihrer Bearbeitung passen auf den ersten Blick nicht dazu, die neuen Entwicklungen scheinen sich nicht immer als Risiken fassen zu lassen, die die Sozialversicherung behandeln kann.

Zusammenhänge von Sozialversicherung, Umweltpolitik und Klimakrise

Dabei bestehen durchaus Zusammenhänge zwischen Klimakrise und umweltpolitischen Maßnahmen und der Sozialversicherung:

  • Nicht die absolute Höhe der Geldleistungen der Sozialversicherung, aber ihr „Wert“ und die wirtschaftliche Situation der Leistungsbezieher*innen werden auch dadurch bestimmt, welche Güter und Dienstleistungen öffentlich zur Verfügung gestellt oder subventioniert werden. Der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs oder energieeffizienter(e) Häuser etwa können auch die Bezieher*innen von Leistungen der Sozialversicherung entlasten.
  • Die direkten Folgen der Klimakrise wie auch die indirekten Folgen in Gestalt umweltpolitischer Maßnahmen (Dekarbonisierung der Wirtschaft) sind für den Arbeitsmarkt und soziale Risiken, die sich um Arbeit gruppieren, höchst relevant. Sie haben Konsequenzen für die Beitragseinnahmen der gesamten Sozialversicherung und für die Ausgabenseite etwa der Arbeitslosenversicherung. Sie führen zu Fragen, welche Risiken in der Sozialversicherung neu abgesichert werden müssen, wie möglicherweise das Problem, bei Extremwettereignissen den Arbeitsplatz sicher erreichen oder überhaupt arbeiten zu können.
  • Im Bereich Gesundheit und Pflege wachsen Herausforderungen, die auf der Leistungsseite auftreten (neue Krankheiten und Gesundheitsrisiken). Außerdem entstehen neue Kosten durch den Umbau des Wirtschaftssektors Pflege und Gesundheit in Richtung Klimaneutralität.
  • Finanzierungsseitig läuft die Sozialversicherung Gefahr, in eine Mittelkonkurrenz zu anderen Politikfeldern zu geraten. Konkurrenz kann auch das Binnenverhältnis sozialpolitischer Politikbereiche betreffen, wenn etwa Kompensationen vor allem auf dem Konto „Grundsicherung“ verbucht werden.
  • Von der Klimakatastrophe können nicht zuletzt auch demografische Folgen ausgehen (Klimafluchtmigration) – die Folgen für die Sozialversicherung ergeben sich hier vor allem vermittelt über den Arbeitsmarkt.


Hier ging es zunächst um das Aufzeigen allgemeinerer Zusammenhänge, die für eine stärkere Beleuchtung der Sozialversicherung in der Fachdebatte sprechen. Wenn die Sozialversicherung ein Instrument zur Bearbeitung auch der Folgen der Klimakrise sein soll, ist weiter zu überlegen, wie die in ihrer Logik bearbeitbaren Risiken und Kausalitäten fortentwickelt werden müssen. Dabei wäre der plausibelste Ausgangspunkt die Frage, wie Arbeit und die mit ihr verbundenen Risiken – Einkommensverlust oder -einbußen, Verlust der Arbeitsfähigkeit – durch die Klimakrise beeinflusst werden. Ein Beispiel für so eine Weiterentwicklung wäre eine Kompensationsleistung bei klimabedingtem Arbeitsausfall. Das scheint auf den ersten Blick zwar sehr speziell zu sein – wenn jedoch nicht an ein „Jahrhunderthochwasser“ gedacht wird, sondern an Hitzewellen, dann wird deutlich, dass Wetterveränderungen nicht nur regional begrenzte Probleme auslösen. Das Saison-Kurzarbeitergeld der Arbeitslosenversicherung für das Baugewerbe ist schon heute eine Leistung, die inhaltlich auf die Witterung bezogen ist („Schlechtwetterzeit“).


Weitergehend ließe sich darüber nachdenken, ob Klimakrise und Umweltpolitik neue soziale Risiken schaffen oder soziale Auswirkungen haben, die nicht als Varianten der bisher abgesicherten Risiken verstanden werden können. Auch hier lässt sich eventuell mit den Instrument Sozialversicherung arbeiten. In diese Richtung gehen erste Überlegungen zu einer Ökosozialversicherung.

Die Bedeutung von Arbeit

Für die Diskussion über die Sozialversicherung scheint problematisch, dass künftige Risiken etwa für den Arbeitsmarkt schwer zu kalkulieren sind. Hier besteht ein Unterschied zu den Verteilungswirkungen konkreter Maßnahmen, die kurzfristig umgesetzt werden. Es droht zudem die Gefahr, dass in den laufenden Diskursen – etwa in der Auseinandersetzung um ein Grundeinkommen – Ressourcen gebunden werden, die für Analysen der existierenden Sicherungssysteme fehlen. Das ist ein Problem, weil die Sozialversicherung ein effizientes Instrument und mit ihrem Fokus auf Erwerbsarbeit auch nicht veraltet ist – der vor Beginn der Corona-Krise erreichte Höchststand sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ist schon wieder übertroffen worden, ebenso der Höchststand der Erwerbstätigkeit insgesamt. Das Arbeitsvolumen der Beschäftigten (und der Erwerbstätigen) in insgesamt geleisteten Stunden erreichte vor der Corona-Krise 2019 einen Höchststand. Ob sich diese Bedeutung von Arbeit – und die Notwendigkeit der Absicherung von Arbeitenden – durch die Klimakrise relativieren wird, ist unklar. Noch weniger ist einschätzbar, ob ein radikaler Wandel des Wirtschaftens (etwa in Richtung „degrowth“) bevorsteht, durch den Erwerbsarbeit einen anderen Stellenwert erhalten könnte.


Die Sozialversicherung sollte jedenfalls nicht einfach abgeschrieben werden. Das Auftreten neuer Risiken lässt die alten Risiken nicht verschwinden und die Sozialversicherung ist anpassungsfähig. Entsprechend sollte die Fachdebatte den „alten“ Sozialstaat nicht aus dem Blick verlieren. Die Sozialversicherung braucht Expertise, damit sie ihre Aufgaben auch unter der Bedingung der Klimakrise erfüllen kann. Und es braucht wissenschaftliche und praktische Fantasie, um die sozialen Folgen der Erderhitzung zu bewältigen und neue Risiken abzusichern.


Florian Blank 2022, Sozialversicherung und Klimapolitik, in: sozialpolitikblog, 08.12.2022, https://difis.org/blog/?blog=41

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