Wider die These vom Niedergang des Sozialstaats
Mit „Deutsches Sozialrecht nach 1945“ legt Eberhard Eichenhofer einen Rückblick auf die Geschichte des deutschen Sozialrechts vor, die interdisziplinär anschlussfähig ist. Zudem er wirft einen Blick nach vorn: Wie bleibt der Sozialstaat angesichts der Notwendigkeit einer Transformation reformfähig? Jannis Hergesell und Tim Deeken vom Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA) haben das Buch gelesen und rezensiert.
Wie sind Sozialrecht, Sozialstaat, soziale Sicherheit und Wohlstandsgesellschaft in Deutschland miteinander verwoben? Was bedeuten langfristige Entwicklungslinien für gegenwärtige und zukünftige sozialstaatliche Herausforderungen? Diesen großen Fragen geht der Jurist Eberhard Eichenhofer aus einer sozialrechtswissenschaftlichen Perspektive nach. Sein Buch richtet sich allerdings keineswegs nur an Sozialrechtler*innen. Es adressiert eine breite, an Sozialstaatlichkeit interessierte, interdisziplinäre Leserschaft und widmet sich konkret „dem vom Recht Bewirkten“ (S. 29).
Ausgangspunkt ist dabei eine kritische Auseinandersetzung mit dem in den letzten Jahrzehnten oft postulierten Rückzug des Sozialstaates. Eichenhofer lehnt diese „These vom vorgeblichen Niedergang des Sozialstaats“ (S. 28), der sein Goldenes Zeitalter hinter sich habe und mittlerweile „notleidend und abgewrackt“ (S. 27) sei, ab. Er identifiziert dagegen seit den 1990er Jahren zahlreiche neue sozialstaatliche Aufgaben und eine Ausweitung des Leistungsspektrums, wie etwa die Pflegeversicherung, das Elterngeld, öffentliche Kinderbetreuung oder Integrationsmaßnahmen. Die Rede vom Abbau des Sozialstaates verstelle den Blick auf solche jüngeren wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen. Dabei wäre es gerade angesichts aktueller Herausforderungen wichtig, die Fähigkeit zur Neuorientierung und Krisenresilienz des Sozialstaates zu analysieren. Eichenhofers Buch zielt genau auf solch eine Beschäftigung mit vergangenen Anpassungsleistungen als Basis für die Diskussion und Bewältigung zukünftiger Herausforderungen der sozialen Sicherung ab. Für Eichenhofer sind die Zukunftsthemen vorrangig die Vereinbarkeit von Sozialpolitik und ökologischer Transformation sowie Reformbedarfe für ein nachhaltiges Sozialrecht.
Der Anspruch, die Geschichte des deutschen Sozialrechts (in seinem internationalen Kontext) derart grundsätzlich zu behandeln, geht unweigerlich mit subjektiven Schwerpunktsetzungen einher. So werden einige Themen unerwartet tiefgehend diskutiert, während andere – wie etwa Geschlechtergerechtigkeit – überraschend fehlen. Diese Akzentsetzungen durchziehen das knapp 230-seitige Buch während es Kontinuitäten und Wendepunkte des Sozialrechts herausarbeitet. Im Hauptteil wird die Entwicklung der sozialen Sicherung ab der Nachkriegszeit entlang ihrer Chronologie nachgezeichnet. In den letzten Kapiteln folgt eine meinungsstarke Auseinandersetzung mit sozialökologischen Zukunftsfragen und mit Reformbedarf für ein nachhaltiges Sozialrecht.
Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder und Sozialpolitik in der DDR
Zu Beginn diskutiert der Autor sein Verständnis von sozialer Sicherheit als zentrales Ziel sozialpolitischen Handelns. Die folgende Auseinandersetzung mit der Konstitution des Sozialstaates nach 1945 thematisiert bis heute wirkmächtige sozialstaatliche Weichenstellungen. Dazu zählen etwa die (außer in der sowjetischen Besatzungszone) bewusste Beibehaltung der gegliederten Sozialversicherung als Stabilitätsanker in der Nachkriegszeit oder die „Epochenzäsur“ (S. 52) der dynamischen Rente 1957 im Umlageverfahren mit dem Ziel der Lebensstandardsicherung. Insgesamt zeichnet Eichenhofer ein vielschichtiges Bild der Architektur des Systems der sozialen Sicherung in der frühen BRD. Dieses versteht er als eine durch wirtschaftliche Prosperität ermöglichte Expansion des Sozialrechts und Sozialstaates sowie seiner Institutionen, vornehmlich der Sozialversicherungen.
Gewinnbringend ist ein kenntnisreicher Exkurs zur zeitgenössischen Sozialpolitik der DDR. Durch den kontrastierenden Vergleich der verschiedenen Systeme illustriert Eichenhofer eindrücklich die jeweiligen Kontinuitäten und Brüche der sozialen Sicherung im Anschluss an die Vorkriegszeit. So sieht er die soziale Sicherung in der Einheitsversicherung der DDR ab 1946 auch als eine Legitimationsgrundlage der „Fürsorgediktatur“ (S. 74). Deren umfassende soziale Leistungen waren eine Art Kompensation für fehlende Mitbestimmung, sodass das Ende der DDR eng mit dem Scheitern dieses Konzeptes verbunden wird.
Wiedervereinigung, Krise des Sozialstaates und Reformen
Der nächste Teil befasst sich mit Herausforderungen des Sozialstaates. Die Expansionsphase der europäischen Wohlfahrtsstaaten endet mit den wirtschaftlichen Problemen in der Ölkrise 1973. Eichenhofer thematisiert die in der Folgezeit einsetzenden Debatten um Grenzen des Fortschrittsoptimismus und deren Konsequenzen für die Sozialausgaben. Sorgen um die Zukunftsfähigkeit des Wohlfahrtstaates angesichts demografischer Entwicklungen, wachsende Arbeitslosigkeit, nachlassende internationale Wettbewerbsfähigkeit und neoliberale Narrative prägen in den 80er und 90er Jahren sozialpolitische Aushandlungen um Leitbilder in der sozialen Sicherung. Diese Prozesse führen einerseits zu Leistungsminderungen und der Forderung nach einer „Atempause in der Sozialpolitik“ (S. 124), aber anderseits auch zu neuen Ansprüchen, wie Vorruhestandsregelungen oder Kindererziehungszeiten.
Viel Raum widmet das Buch den sozialrechtlichen und -politischen Folgen der Deutschen Einheit. Diese beschreibt Eichenhofer als „Vereinigungskrise“ (S. 135), die mit ihren massiven wirtschaftlichen Verwerfungen zu einer „soziale[n] Stagnation“ (S. 154) in der Nachwendezeit führte sowie sozialpolitischen Reformbedarf und -stau unverkennbar offenbarte. Die stabilisierende Rolle der Sozialversicherungen in dieser Transformationszeit arbeitet Eichenhofer aber auch hier wieder klar heraus. Er argumentiert, dass es trotz ungekannter Herausforderungen weder zu einem Bedeutungsverlust des Sozialstaates noch zu einer Erosion sozialer Rechte kam.
Nach gleichem Muster zeigt er dann auch die tiefgreifenden sozialpolitischen Reformen der 2000er Jahre auf. Attestiert wird ein allgemeiner Vertrauensverlust in den Sozialstaat, der diese einschneidenden Reformen in Reaktion auf hohe Arbeitslosigkeit, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, geringfügige Beschäftigung, Beitrags- und Abgabenlasten und Frühverrentungen erforderlich machte. Neben der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik steht der weitreichende Umbau der Alterssicherung hin zum Mehrsäulenmodell im Mittelpunkt. Auch an dieser Stelle sieht Eichenhofer einen Umbau anstatt eines Rückzuges des Sozialstaates und somit gerade keinen gravierenden sozialrechtlichen Substanzverlust seit den 2000er Jahren.
Ökologische Transformation und nachhaltiges Sozialrecht – Zukunftsfragen des Sozialstaates
In den letzten beiden Kapiteln verlässt Eichenhofer die geschichtliche Entwicklung und widmet sich Zukunftsthemen, vornehmlich der (sozial)ökologischen Transformation und der Reform zu einem nachhaltigen Sozialrecht. Dabei wechselt auch die Tonalität und das Buch nimmt einen zunehmend appellativen Charakter an. Eichenhofer beschreibt ein gewisses Dilemma: Sozialrecht zielt immer auch auf den Schutz der „Daseinsgrundlagen für Bedürftige und Sozialleistungsbezieher“ (S. 185) ab und unterstützt demzufolge die ökologische Transformation. Jedoch basiert der Wohlfahrtstaat auf wirtschaftlicher Prosperität und Wachstum. Ökologischer Umbau, welcher nicht ohne massive Investitionen zu bewältigen ist, und ebenfalls ressourcenintensive sozialpolitische Herausforderungen stehen hier in einer Konkurrenz um Ressourcen. Steigende Lebenshaltungskosten – insbesondere für Bedürftige – in Folge der ökologischen Transformation sind, aus sozialrechtlicher Perspektive hinsichtlich der Schutz- und Sicherungspflicht kritisch zu bewerten. Eichenhofer argumentiert nachdrücklich für eine sozialpolitisch flankierte „sozialökologische Transformation“, in der es gelingt, potenzielle Konflikte zu vermeiden.
Abschließend steht eine Beschäftigung mit zukünftigen sozialrechtlichen Reformnotwendigkeiten als Fundament für jegliche (gelingende) Transformation. Als Handlungsfelder für ein nachhaltiges Sozialrecht benennt Eichenhofer altbekannte Probleme wie den demografischen Wandel, die damit einhergehende Finanzierungslast und Generationengerechtigkeit sowie die Garantie von Teilhabe als sozialstaatlichem Kernversprechen. Die kaum zu überblickende Komplexität des deutschen Sozialrechts ist dabei die große Herausforderung, die sowohl konstruktive Kritik an sozialrechtlichen Regelungen als auch Akzeptanzprobleme für Gesetzgebung bewirken kann.
Wandel als Kontinuität
Eichenhofer illustriert deutlich, dass Wandel und substanzielle Anpassungen in der 130-jährigen Geschichte der sozialen Sicherung eine Kontinuität darstellen. Gerade in Krisenzeiten hat sich das System der sozialen Sicherung bewährt und das Sozialrecht weiterentwickelt. Dennoch: Um auch zukünftig erfolgreich reformfähig zu bleiben, darf „weder die Geschichtsgebundenheit allen Sozialrechts ignorier[t werden] noch der Banalisierung anheimfallen. Dies geschieht durch Vorschläge, welche der Komplexität von Sozialrecht zu entfliehen suchen, indem sie ein ausgeklügeltes und entwickeltes System durch vorgeblich einfache Lösungen zu ersetzen vorschlagen.“ (S.201)
Insgesamt argumentiert Eichenhofer seine Zurückweisung der „Niedergangsthese“ des Sozialstaates überzeugend. Die Leser*innen profitieren von der beeindruckenden Detailkenntnis des Autors im Sozialrecht seit 1945 sowie der Aufbereitung der Zeitgeschichte der deutschen Sozialpolitik. Eine Folge der interdisziplinären und breiten Ausrichtung des Buchs ist eine zu knappe Anbindung an die jeweiligen Forschungsstände. Die Frage, welche Forschungslücken im Buch konkret angegangen werden, bleibt daher den Leser*innen selbst überlassen und die Antwort hierauf wird je nach fachlichen Hintergrund und Interesse unterschiedlich ausfallen. So finden sich etwa Exkurse zum verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnis zwischen Rechts- und Sozialstaat oder den Auswirkungen der Ideen von Hayeks auf die sozialstaatlichen Leitbilder. Jedoch fehlen zentrale sozialrechtliche und -politische Themen wie die explizite Frage nach geschlechtlicher Gleichberechtigung oder Nicht-Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Der Mehrwert des Buches liegt entsprechend nicht im konkreten Fortschreiben eines Forschungsstandes, sondern in der explizit angestrebten interdisziplinären Perspektiverweiterung.
Tim Deeken und Jannis Hergesell 2024, Wider die These vom Niedergang des Sozialstaats, in: sozialpolitikblog, 18.01.2024, https://difis.org/blog/?blog=97 Zurück zur Übersicht
Bildnachweis: DRV Bund
Dr. Jannis Hergesell ist wissenschaftlicher Referent beim Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA) der Deutschen Rentenversicherung Bund. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Alterssicherungs- und Erwerbsminderungsrentenforschung, Gesundheitssoziologie, Historische Soziologie sowie Arbeitsmarkt(re)integration bei bedingter Gesundheit.
Bildnachweis: Michel Buchmann
Eberhard Eichenhofer Deutsches Sozialrecht nach 1945 Nomos