Für eine zukünftig wirksamere Selbstverwaltung
Eine Rezension des Buchs "SELBST verwalten!"
Rechtzeitig zu den Sozialwahlen im Mai 2023 haben Bernard Braun, Tanja Klenk und Uwe Klemens einen Band zusammengestellt, der für die Selbstverwaltung als ganz besonderer Form der partizipativen Gestaltung des Sozialstaates wirbt und dabei zugleich alle Probleme, Schwächen und Veränderungsoptionen sichtbar werden lässt. Eine Rezension von Frank Nullmeier.
Alle sechs Jahre finden die Sozialwahlen statt. Doch nur wenige Bürger*innen kennen sie, kaum jemand kann sagen, warum es sie gibt und für welche Aufgabe welche Gruppierungen gewählt werden sollen. In diesem Monat ist es wieder soweit, es werden die Vertreter*innen der Versicherten für fünf Verwaltungsräte der Ersatzkassen TK, DAK Gesundheit, BARMER und hkk sowie für die Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung Bund gewählt. Wahlberechtigt sind 52 Millionen Bürger*innen, damit sind die Sozialwahlen die drittgrößten Wahlen nach Bundestags- und Europawahlen. Bei den Krankenkassen wird zudem erstmals die Möglichkeit geschaffen, auch online zu wählen.
Mit den Sozialwahlen steht immer auch die Selbstverwaltung in den Sozialversicherungen auf dem Prüfstand. Sie stellt ein Modell der Beteiligung von Versicherten und Arbeitgebern an öffentlich-rechtlichen Körperschaften als eigenständigen Organisationen im Sozialstaat dar und damit eine Steuerungsform jenseits von Markt und Staat und zugleich in Anbindung an die Arbeitsmarktverbände und im Rahmen staatlicher Vorgaben. Die Kritik an den Sozialwahlen (Zulassung von „Friedenswahlen“, geringe Beteiligung, Kosten) und an der Selbstverwaltung (zu intransparent, bedeutungslos angesichts immer weiterer staatlicher Vorgaben für die Sozialversicherungen, nur Verbändepartizipation von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und anderen Versichertenorganisationen bei Ausschluss von Patienten- und Sozialverbänden) ist durchaus massiv. Und sie wandelt sich nur wenig. Auch in Reaktion auf modernisierende Eingriffe des Gesetzgebers tut sich wenig. So ist die Festlegung neu, dass auf den kandidierenden Listen mindestens 40% Frauen vertreten sein müssen, womit ein – auch im Vergleich zu Bundestags- und Landtagswahlen – bemerkenswerter Schritt in Richtung Geschlechterparität gemacht wird. Aber damit werden andere Kritikpunkte nicht aufgewogen.
Entsprechend ist auch die wissenschaftliche Debatte über soziale Selbstverwaltung und Sozialwahlen von der Kritik geprägt. Auch dort, wo Sozialwahlen und Selbstverwaltung für sinnvoll und reformfähig gehalten werden, dominiert eine manchmal defensive und meist nur vorsichtig optimistische Haltung. Bernard Braun, Tanja Klenk und Uwe Klemens haben rechtzeitig zu den jetzigen Sozialwahlen einen Band zusammengestellt, in dem die Selbstverwaltung kritisch analysiert, die positive Funktion einer demokratischen Bestimmung der Vertreter*innen in den Sozialversicherungen aber klar herausgehoben wird. Die Besonderheit dieses Buches besteht darin, aktive Selbstverwalter*innen von Versicherten- und auch von Arbeitgeberseite, Vertreterinnen der Kassenverbände, Bundestagsabgeordnete, die die Funktion des Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen innehatten bzw. innehaben, Fachjournalisten und -publizisten zu Wort kommen und wissenschaftliche Beiträge aus gleich mehreren Disziplinen, der Rechtswissenschaft, der Ökonomie, der Politikwissenschaft, der Verwaltungs- und der Gesundheitswissenschaft, zusammengeführt werden. In insgesamt 21 Beiträgen und einer Einleitung wird eine umfassende Beleuchtung der Situation der Selbstverwaltung mit Schwerpunkt bei der Krankenversicherung geliefert, die ganz unterschiedliche Facetten dieser Form der Verwaltung sichtbar macht. So ist ein Buch entstanden, das für die Selbstverwaltung als ganz besonderer Form der partizipativen Gestaltung des Sozialstaates wirbt und dabei zugleich alle Probleme, Schwächen und (begrenzte) Veränderungsoptionen sichtbar werden lässt.
Selbstverwaltung muss sich als Verwaltung durch Ehrenamtliche zunächst gegen die hauptamtliche Leitung und Verwaltung in den Krankenkassen, die das operative Geschäft bestimmen und sich gern die Selbstverwaltung zunutze machen möchten, behaupten. Zum eigentlichen Gegenüber der Selbstverwaltung wird aber eher der Gesetzgeber, der immer detaillierter rechtlich vorstrukturiert, die Entscheidungsspielräume einengt und die Selbstverwaltung zu einer bloßen Fassade zu machen droht. Ohne Handlungsmöglichkeiten besteht aber auch keine Chance, einen eigenständigen, der Selbstverwaltung zurechenbaren Output zu schaffen und darüber Legitimation zu erzeugen, so die Beiträge von Thomas Wüstrich und Thomas Gerlinger. Und ohne vorzeigbaren Output auch keine Chance, Interesse an Wahlen zu erzeugen, in den Medien vorzukommen (dazu der Beitrag von Tim Szent-Ivanyi), womit mangels hinreichender Wahlbeteiligung auch die Input-Legitimation der Selbstverwaltung gering bleibt. Wo dagegen Arbeit im Schnittfeld der Interessen und Rechtspositionen von Versicherten, Arbeitgebern und Kassen geleistet werden kann, wie in den Widerspruchsausschüssen, kommt die Vertretungsfunktion der Selbstverwaltung noch zur Geltung, wie der Beitrag von Armin Höland und Felix Welti und das Interview mit Roland Schultze zeigen. Welche Anstrengung es bedurfte, während der Pandemie weitere Einengungen des Handlungsraums der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung zu verhindern, schildern mehrere Beiträge, darunter die Einleitung von Uwe Klemens als alternierendem Verwaltungsratsvorsitzenden des GKV-Spitzenverbandes, eindrücklich.
Zugleich hindern die Interessenkonflikte zwischen Arbeitgeber*innen- und Arbeitnehmer*innenseite, deren Institutionalisierung konstitutiv für die Selbstverwaltung war, diese letztlich daran eine gemeinsame inhaltliche Position aufzubauen, die geeignet wäre, im vermachteten und von monetären Interessen überdeterminierten Gesundheitssystem eine entscheidende Größe zu entwickeln. Und diese fehlende Schlagkraft wird dann von anderer Seite zum Argument gegen die Selbstverwaltung und zugunsten weiterer staatlicher Eingriffe gemacht. Während in anderen Politikfeldern die Gewerkschaften auf andere gesellschaftliche Kräfte zugehen, wie z.B. die Klimabewegung, so müsste die vom alten Verständnis der Versicherten als Arbeitnehmer*innen geprägte Denktradition in der Sozialversicherung überwunden werden, um eine neue, offene Form des Selbstverwaltungskorporatismus unter Einbeziehung von (Patienten- und Sozial-)Verbänden, die sich gerade nicht über Arbeitnehmer*inneninteressen definieren, zu ermöglichen (vorsichtig in diese Richtung der Beitrag von Wolfgang Schröder). Solange die Wähler*innen mehr oder minder nur zwischen Gewerkschaftslisten und Listen mit dem Namen von Krankenkassen im Titel wählen können, fehlt es an hinreichenden Hinweisen darauf, warum man welche Liste eigentlich wählen sollte, welche Ausrichtung der Gesundheitspolitik angestrebt wird.
Selbstverwaltung im Gesundheitswesen ist weitaus komplexer als das, was bei Sozialwahlen sichtbar wird, wo es nur um die Verwaltungsräte der Krankenkassen geht. Vorbildlich kurz und klar schildert der Artikel von Claudia Maria Hofmann, dass sowohl die Selbstverwaltung bei den Kassenverbänden bis hin zum GKV-Spitzenverband zu berücksichtigen ist als auch die Gemeinsame Selbstverwaltung, wie sie insbesondere aus dem Gemeinsamen Bundesausschuss bekannt ist, der über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden entscheidet und daher auch mit Vertreter*innen der Leistungserbringer besetzt ist. Hierhin reichen die Sozialwahlen nicht, obwohl dort die politische Musik spielt. In Österreich, so kann dem Beitrag von Tanja Klenk entnommen werden, ist die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung aufgrund der Verschränkung des Kammerwesens und der Sozialversicherung wesentlich als Verbändepartizipation konzipiert, bei den Kammerwahlen spielen allerdings Parteien die entscheidende Rolle, womit man eher dem Verständnis von Wahlwettbewerb folgt, das von Bundes- und Landtagswahlen bekannt ist. Obwohl im Gesundheitswesen eine vergleichsweise sehr hohe Konfliktintensität und -bereitschaft existiert, möchten die Verbände der Arbeitswelt aber nicht den Schritt in eine wettbewerblichere Selbstverwaltungs-Welt wagen. Deshalb kommt es bei den meisten Kassen auch gar nicht zu Urwahlen. Dass aber reale Wahlvorgänge notwendig und auch Online-Wahlen juristisch zu rechtfertigen sind, zeigen die rechtswissenschaftlichen Beiträge von Winfried Kluth und des ehemaligen Verfassungsrichters Hans-Jürgen Papier. Die Selbstverwaltung bedarf daher weiterer Reformschritte, das zeigt dieser Band in der ganzen Breite seiner Argumentationen. Politisch wird es aber wohl nur mit kleinen Schritten weitergehen, auch die Beteiligung an den Sozialwahlen 2023 wird dabei eine Rolle spielen. Die Entwicklung von Selbstverwaltung und Sozialwahlen in ihrer historischen Dimension darzulegen und immer wieder neu die wissenschaftliche Forschung zu Reformmöglichkeiten anzuregen, ist dem kontinuierlichen Engagement einiger Sozialforscher*innen zu verdanken, ganz besonders ist hier der Gesundheitswissenschaftler Bernard Braun zu nennen. Und das heißt: Die Wirkungsweise der Selbstverwaltung aus allen disziplinären Sichten genauer studieren und daraus Anregungen für eine zukünftig wirksamere Selbstverwaltung gewinnen.
Frank Nullmeier 2023, Für eine zukünftig wirksamere Selbstverwaltung, in: sozialpolitikblog, 04.05.2023, https://difis.org/blog/?blog=62 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Frank Nullmeier ist stellvertretender Direktor des DIFIS und leitet die Abteilung Bremen. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen im SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Sozialpolitikforschung und Wohlfahrtsstaatstheorie, interpretative Politikanalyse und Process Tracing sowie Politische Theorie.
Bernard Braun | Tanja Klenk | Uwe Klemens (Hrsg.) SELBST verwalten! Wie Ehrenamtliche unser Gesundheitswesen mitgestalten. Kohlhammer, 2022