Forschungsfeld 3: Transnationale soziale Sicherung in der Migrationsgesellschaft

Forschungsinteresse

Grenzgänger*innen, EU-Bürger*innen, Fachkräfte aus Drittstaaten, Bildungsausländer und nicht zuletzt Geflohene gelangen in die Bundesrepublik um hier zu leben, zu studieren und zu arbeiten, um (vielleicht auch mit Familien) hier zu bleiben oder um nur kurzzeitig hier ihre Anliegen zu verfolgen. Aus sozialpolitischer Perspektive erscheint der anhaltende Zuzug verschiedener Migrant*innengruppen als Stabilitätshoffnung für die Systeme sozialer Sicherung angesichts demografischen Wandels und prognostizierten Fachkräftemangels.

Gleichzeitig fordert Migration aber moderne Wohlfahrtsstaaten auch heraus: Die Systeme sozialer Sicherung sind im nationalstaatlichen Rahmen gewachsen und reiben sich an vielen Stellen mit den globalen Mobilitätsmustern und Erwartungen. Zugänge und Ansprüche sind an Kriterien gebunden, die von Migrant*innen oftmals nicht leicht zu erfüllen sind. Vielfältige bürokratische Hürden und Zuständigkeiten erschweren die Inanspruchnahme. Je nach Art des Aufenthaltstitels, Aufenthaltsdauer, Herkunftsland und Erwerbsbiographie gestalten sich Möglichkeiten der sozialen Sicherung, arbeitsrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und Regelungen sehr unterschiedlich. Entsprechend variieren auch die Chancen auf Teilhabe bzw. Risiken von Exklusion und Prekarität für Migrant*innen ganz erheblich.

Transnationale soziale Sicherung stellt also nicht nur Wohlfahrtsstaaten, sondern auch Migrant*innen vor erhebliche Herausforderungen. Während Migrant*innen individuelle, auch transnationale Strategien entwickeln, um ihre soziale Sicherung zu gewährleisten, müssen moderne Wohlfahrtsstaaten ihre sozialen Sicherungssysteme auf veränderte Anforderungen in der Migrationsgesellschaft einstellen. Sie müssen dabei nicht nur internationales, EU-Recht sowie zahlreiche seit Jahrzehnten gewachsene bi- und multilaterale Abkommen berücksichtigen, sondern handeln auch unter dem politischen Druck einer öffentlichen Debatte, in der die Legitimität sozialstaatlicher Rechte von Migrant*innen zunehmend in Frage gestellt wird.

Angesichts einer weiterhin stabilen wie auch demografisch notwendigen Migration nach Deutschland ist es wichtig, die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Migration, sozialpolitischen Ein- und Ausschlüssen sowie transnationalen Strategien sozialer Sicherung besser zu verstehen. Ein größeres Wissen in diesem Feld ermöglicht es, zur Entwicklung einer auch in der heutigen Migrationsgesellschaft funktions- und anpassungsfähigen Sozialpolitik und -verwaltung beizutragen.

Forschungsfragen

Im Forschungsfeld 3 werden Fragen zur Bedeutung verschiedener Formen grenzüberschreitender Mobilität für Gegenwart und Zukunft sozialstaatlicher Sicherungssysteme sowie Wechselwirkungen zwischen Migration, individuellen Sicherungspraktiken und den formalen Systemen sozialer Sicherung bearbeitet. Dabei interessieren sowohl anwendungsorientierte als auch stärker grundlagenorientierte Fragestellungen.  

Das Verständnis von Migrationsprozessen und ihren Wechselwirkungen mit den Systemen sozialer Sicherung ist mehrdimensional und bezieht gleichermaßen die Ebene nationaler, EU-rechtlicher, inter- und supranationaler Regelungen und Aushandlungsprozesse, die Ebene dezentraler lokaler Umsetzung sowie individuelle Strategien und Praktiken von Migrierten im Umgang mit sozialen Rechten in Herkunfts- wie Zielländern ein.

Die geplanten Forschungsaktivitäten, Publikationen und Transferformate des Forschungsfelds bewegen sich damit im Rahmen dreier übergeordneter Themengebiete und entsprechenden Fragerichtungen

Themengebiet 1: Transnationale Governance und Regime

Forschungsfragen

  • Wie werden transnationale Regelungen und Regime ausgehandelt?
  • Welche Rolle spielen öffentliche und privatwirtschaftliche Akteure auf lokaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene bei der Koordinierung sozialer Ansprüche und Schutzmaßnahmen über territoriale Zuständigkeiten hinweg?

Hintergrund:

Die rechtlichen Rahmenbedingungen von Migration wie auch deren Umsetzung und Anwendung werden auf verschiedenen Ebenen ausgehandelt und kodifiziert. Je nach Migrationskategorie (Arbeitsmigration, Flucht, Familienzusammenführung, Hochqualifizierten-Migration etc.), sind in diese Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse ganz unterschiedliche Akteure mit ihren jeweiligen Interessen involviert. Außerdem haben je nach Regelungsgegenstand internationales Recht, EU-Recht oder nationales Recht Geltung – oftmals eine Kombination der verschiedenen Ebenen, gefiltert durch nationale institutionelle Rahmenbedingungen, Routinen und Kulturen. Rechtliche Regelungen und deren Anwendung, Interpretation und Umsetzung führen zu bestimmten Ergebnissen. Dabei kommt es auch immer wieder zu nicht-intendierten Effekten und erklärungsbedürftigen Phänomenen.

Themengebiet 2: Die lokale Aushandlung sozialer Rechte

Forschungsfragen

  • Wie werden Regelungen auf der lokalen Ebene ausbuchstabiert?
  • Welche Wirkungen haben sie für Migrant*innen?

Hintergrund:

Während Kriterien für den Ein- oder Ausschluss von Migrant*innen in Systeme sozialer Sicherung i.d.R. durch rechtliche Regelungen auf Bundesebene - oft in Kombination mit EU-rechtlichen/internationalen Einflüssen - formuliert werden, finden sich auf der lokalen Ebene dennoch Möglichkeiten, diese Regelungen im Rahmen von Ermessensspielräumen spezifisch auszugestalten. So können Kommunen in Form ihrer verschiedenen, an Migrationsfragen beteiligten Ämter restriktiver oder liberaler vorgehen, sie können Zugänge und Ansprüche durch bürokratische Hürden erschweren oder sie können beispielweise Zugangshürden senken, indem Verwaltung interkulturell geöffnet und Mitarbeitende kultursensibel geschult werden. Auch die gezielte Koordination der Tätigkeiten verschiedener migrationsrelevanter Ämter wie etwas Ausländerbehörde, Sozialamt, Jobcenter und Integrationsbereich kann sich auf die Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten von Migrant*innen auswirken. Nicht zuletzt spielt auch die politische/Verwaltungskultur, die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, die historische Erfahrung mit Migration eine wichtige Rolle beim Er- oder Verschließen von Zugängen zu sozialer Sicherung.

 

Themengebiet 3: Migrantische Sicherungspraktiken

Forschungsfragen

  • Wie greifen Migrant*innen auf formale Strukturen zu?
  • Wo bestehen/fehlen Zugänge und inwieweit nutzen sie auch transnationale Sicherungsstrategien zwischen Herkunfts- und Zielland?

 

Hintergrund:

Während bei den ersten beiden Forschungsfragen der Fokus stärker auf einer institutionellen Ebene liegt – welche Regelungen entstehen durch welche Einflüsse in welchem Kontext mit welchem Ergebnis – soll unter dieser Forschungsfrage untersucht werden, wie Migrant*innen selbst als individuelle oder kollektive Akteur*innen auftreten, welche Strategien sie verfolgen und welche Instrumente sie nutzen, um ihre soziale Sicherung zu gewährleisten.  Es steht hier also eine Agency-Perspektive im Vordergrund, die zugleich auf die Wechselwirkungen von Handlungsansätzen mit die Migrant*innen umgebenden Opportunitäten sowie ihren eigenen auch transnationalen Ressourcen eingeht.

Das Querschnittsthema „Das Sozialrecht der Europäischen Union“ setzt einen sozialrechtlichen Rahmen jenseits der Nationalstaaten, der auch den breiteren Kontext für unser Forschungsprogramm bildet und auf allen untersuchten Ebenen an Relevanz gewinnt.

Ausführliche Informationen zur Verortung des Forschungsfelds 3 mit Blick auf weiterführende Perspektiven der Sozialpolitikforschung s. Forschungsprogramm des Deutschen Instituts für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung

Aktuelles Kernteam

Dr. Kirsten Hoesch (Forschungsfeld-Koordinatorin), DIFIS (Universität Duisburg-Essen)
Prof. Dr. Ilker Ataç (Fellow), Professor für Politik in der Sozialen Arbeit, Hochschule Fulda
Prof. Dr. Helen Baykara-Krumme (Mitglied), Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Migration und Teilhabe, Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Margit Fauser (Mitglied), Professorin für Soziologie, Transnationalisierung, Migration und Arbeit, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Felicitas Hillmann (Mitglied), Institut für Stadt- und Regionalplanung, TU Berlin
Dr. Polina Manolova (Mitglied), Universität Duisburg-Essen
Dr. Katrin Menke (Mitglied), Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Michael Sauer (Fellow), Professur für Sozialpolitik, Hochschule Bonn-Rhein-Sieg
Dr. Thorsten Schlee (Fellow), Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Karen Shire (Mitglied), Professor of Comparative Sociology and Japanese Society, Universität Duisburg-Essen

Aktivitäten

Veranstaltungen

Durchgeführte Veranstaltungen:


Geplante Veranstaltungen:

  • April 2025: "Konflikte um „Sozialleistungsmissbrauch“", Online-Veranstaltung zur Präsentation der DIFIS-Studie
  • 23.06.2025: "Arbeits- und Lebensbedingungen im Kontext von Migration im Ruhrgebiet – gestern und heute",
    Hoesch-Museum Dortmund, 12-17 Uhr, Die Veranstaltung wird in Kooperation mit der FH Dortmund, Fachbereich angewandte Sozialwissenschaften, Professur für Migration, Integration und Partizipation und dem Hoesch-Museum Dortmund durchgeführt und richtet sich an Interessierte aus Praxis und Wissenschaft. 
    Es werden u.a. die Ergebnisse eines Lehrforschungsseminars (Interviews mit ehemaligen „Hoeschianern“ mit Migrationsbiographie) vorgestellt und mit Bezug zu neueren Entwicklungen und Herausforderungen im Kontext von Arbeitsmigration diskutiert. 
  • Sommer 2025: "Kommunale Fachkräfteallianzen: Wege zur nachhaltigen Gestaltung der Fachkräftezuwanderung“, Transferveranstaltung Wissenschaft-Praxis an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) in Kooperation mit der Initiative „Match Pflege“. 


Publikationen

DIFIS-Studien
  • Migrant*innen und Sozialleistungen: Kontinuitäten und Spannungsfelder in Diskursen, Verwaltungshandeln und sozialrechtlichen Ein- und Ausschlüssen [voraussichtlich Januar 2025] (Duisburger Institut für Sozial- und Sprachwissenschaft, DISS)

DIFIS-Impulse

  • Implementierung des Chancen-Aufenthaltsrechts und die Rolle von lokalen Akteur:innen [voraussichtlich Januar 2025] (Ilker Ataç)
  • Diskriminierung jenseits der Kategorien: Erfahrungen osteuropäischer Einwanderer in urbanen Sozialräumen (Arbeitstitel) [voraussichtlich März 2025] (Thorsten Schlee/Polina Manolova)

Sozialpolitikblog