Sozialethik heute – aus katholischer Sicht
Wie kann man aus theologischer Perspektive begründet etwas über Sozialpolitik aussagen? Das 63. Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften widmet sich der Selbstreflektion, nimmt Grundsatzdebatten auf und überrascht mit einer Öffnung zum ökosozialen Denken. Frank Nullmeier hat es gelesen und rezensiert.
Sozialethik wird zu einem Großteil in der Theologie der beiden christlichen Konfessionen betrieben. In der Philosophie spricht man eher von Sozialphilosophie. Aufgrund des christlich-universellen Anspruchs des Katholizismus spricht die katholisch geprägte Sozialethik von sich als Christlicher Sozialwissenschaft und Christlicher Sozialethik, was einen Protestanten, und das ist der Rezensent, merkwürdig berührt. Aber jenseits der Semantik sind die Probleme in der katholischen Sozialethik inzwischen nicht anders als in der evangelischen: Wie kann man aus theologischer Perspektive begründet etwas aussagen von der Diskussion über Wertbegriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bis hin zur Analyse konkreter sozialpolitischer Regelungen?
Für Oswald von Nell-Breuning, den wohl wirkmächtigsten katholischen Sozialethiker, war dies noch kein Problem. Seine Argumente beruhten auf einer neuscholastisch-naturrechtlichen Grundlage, griffen also gerade nicht auf biblische Texte zurück. Die sozialethische Stellungnahme beruhte im Solidarismus auf einem thomistischen Verständnis der Ordnung des Sozialen. Der Rekurs auf das Alte oder Neue Testament und die theologische Traditionsbildung gar war nicht vorgesehen. Diese naturrechtliche Argumentation, in der Gesellschaftstheorie und normative Grundlegung ineinander verschachtelt waren, ist heute – so die allgemeine innertheologische Ansicht – nicht mehr vertretbar.
Mit dieser Abkehr von einer explizit naturrechtlichen Begründung von sozialpolitischen Forderungen tritt aber das Problem auf, das die evangelische Sozialethik schon länger prägte: Wie kann von einer explizit theologischen Basis aus mit Rückgriff auf biblische Texte, „katholisch gesprochen: auf Schrift und Tradition“ (11), ein Weg zu konkreten Aussagen zur Sinnhaftigkeit einer bestimmten Sozialpolitik überzeugend beschritten werden? Denn die Texte entspringen einem ganz anderen historischen Kontext als die Sozialpolitik, zu der Aussagen gemacht werden sollen, und sie sind in ihrer Interpretation immer umstritten. Kommt es dabei nicht nur zu einem selektiven Herausgreifen von Bibelstellen und theologischen Ableitungen, die einer vorab bereits feststehenden politischen Einstellung entsprechen?
Diese Fragestellungen werden von dem Problem überlagert, ob in einer insgesamt zunehmend religiös unmusikalischen Gesellschaft noch theologische Überlegungen verständlich sind und argumentative Kraft erzeugen können. Aus der Sicht der Religionen wird daraus die defensive Haltung, dass der allgemeinen Öffentlichkeit nicht zugemutet werden kann, sich auf nicht-säkulare Denksysteme einzulassen. So wird von theologischen Herleitungen sozialpolitischer Stellungnahmen verlangt, dass sie durch Übersetzung und Sicherung der Anschlussfähigkeit ihre Herkunft mehr oder minder unsichtbar machen. Was spezifisch christlich-katholisch oder christlich-evangelisch ist, soll so vorgestellt werden, dass es auch als allgemeines Argument akzeptiert werden kann. Dann ist aber die Frage, was die ohnehin nicht einfache Herleitung sozialethischer Aussagen aus den christlichen Urtexten und aus deren theologischen Interpretationen noch für eine Funktion haben kann.
Eine Selbstreflexion der Entwicklung der katholischen Sozialethik in den letzten zehn Jahren hat sich der 63. Band des Jahrbuchs für Christliche Sozialwissenschaften vorgenommen und dabei die unterschiedlichen Reaktionsmuster für eine in die Defensive geratene Sozialethik diskutiert. Herausgegeben wurde dieser Band von Marianne Heimbach-Steins, die auch eine der Herausgeber*innen des Lehr- und Studienbuchs „Christliche Sozialethik. Grundlagen – Kontexte – Themen“ (Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2022) ist und viel zur Konsolidierung der Sozialethik beigetragen hat. Im Band sind überarbeitete Vorträge versammelt, die im Rahmen einer internationalen Fachtagung im Juli 2021 in Münster aus Anlass des 70. Gründungsjubiläums des dortigen Instituts für Christliche Sozialwissenschaften stattgefunden haben.
Im Titel des Bandes „Christliche Sozialethik – eine sozialwissenschaftliche und theologische Disziplin“ wird bereits eine Weichenstellung erkennbar. Man will sich weiter den Sozialwissenschaften öffnen. Sozialethische Stellungnahmen müssen aus dem gegebenen Stand sozialwissenschaftlichen Wissens schöpfen können, mindestens mit ihm vereinbar sein, am besten aber auch noch den Stand der Sozialforschung weiter vorantreiben. Das ist eine Tendenz, die im besonderen Maße das Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik (NBI) der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main verkörpert. Die Hochschule fördert genuin sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Die Selbstverortung als sozialwissenschaftliche Disziplin kann nur begrüßt werden, stärkt sie doch die Möglichkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit in der Sozialpolitikforschung im weiteren Sinne.
Die Frage, wie normative Standards gelungenen Soziallebens vor einem religiösen Hintergrund entwickelt werden können, wird sehr unterschiedlich beantwortet. Es seien hier nur zwei der im Jahrbuch vertretenen Positionen herausgegriffen: Bernhard Emunds, Leiter des NBI, verfolgt ebenso wie sein Vorgänger in diesem Amt, Friedhelm Hengsbach, den Weg, ethische Betrachtungen nur „jenseits Katholischer Soziallehre“ (47), also jenseits einer naturrechtlich-thomistischen Tradition, anzustellen, aber dennoch nicht auf eine stärker biblisch-dogmatische Herleitung zu setzen. Einerseits unterstellt sich die christliche Sozialethik damit den philosophischen Ethiken. „Angesichts der Pluralität demokratischer Gesellschaften folgt daraus, dass die ethischen Argumente der Christlichen Sozialethik primär Argumente philosophischer Ethiken sind. Mit theologisch-ethischen Aussagen […] können Christliche Sozialethiker*innen in öffentlichen Debatten nichts begründen; sie taugen nur als Anregungen, bestimmte, häufig übersehene Dimensionen der debattierten politischen Herausforderung in den Blick zu nehmen, oder als kreative Impulse, aus denen Lösungen für aktuelle politische Herausforderungen entwickelt werden können.“ (26) Entsprechend kann es nur darum gehen, Begriffe, Bilder und Motive der alten katholischen Soziallehre und der katholischen Tradition aufzugreifen und als Anregungspotential in die politische Öffentlichkeit einzubringen. Muss es nur darum gehen, „Gott“ und andere theologische Termini zu vermeiden und stattdessen in die Konstruktion der Ethik christliche Gehalte einzubringen, ohne diese Herkunft sichtbar zu machen? Eine Art Mimikry christlicher Sozialethik im Gewand des Allgemein-Philosophischen? Aber einen solchen Weg will Emunds nicht gehen, er setzt auf einzelne Bilder, Begriffe und Narrationen aus dem Reservoir der religiösen Tradition, will also das Christliche durchaus sichtbar werden lassen, doch mit einem verminderten Geltungsanspruch. Interessant wäre zu erfahren, wie dieser Rückzug gegenüber philosophischen Ethiken sich damit verträgt, dass einige der wichtigsten säkularen Ethiken, so jene von John Rawls oder Charles Taylor, auf christlichen Überzeugungen aufruhen.
Ein Gegenmodell bietet Markus Vogt, der in vielen Schriften, zuletzt in „Christliche Umweltethik. Grundlagen und zentrale Herausforderungen“ (Freiburg, Basel, Wien: Herder 2021), die ökologische Thematik in die katholische Sozialethik eingefügt und weiterentwickelt hat. Im Jahrbuch führt er aus: „Christliche Sozialethik ist ein originärer Ort der Gottesrede im Blick auf die gesellschaftliche Glaubenspraxis gelebter Freiheit.“ (145) Gegen die naturrechtliche Tradition und gegen das Einräumen eines Vorrangs philosophischer Ethik setzt er auf eine explizit gottesbezogene Formulierung der Sozialethik. Zwar gebe es die Notwendigkeit von Übersetzungsleistungen, aber man dürfe nicht von den „religiös geprägten Gehalten, Erfahrungskontexten und Praxisbezügen abstrahieren“ (131), sondern müsse diese über den Binnenraum der eigenen Kirche hinaus bekannt und verständlich machen. Vielleicht ist die von Emunds angesprochene Pluralität in heutigen Gesellschaften ja die Grundlage dafür, dass dies aussichtsreich ist – denn den religiösen Gemeinschaften steht keine säkulare Einheitskultur gegenüber. Das Säkulare ist selbst in sich fragmentiert oder plural aufgegliedert.
Konkrete Positionen zu aktuellen sozialpolitischen Fragen sind von dieser Grundsatzdebatte nicht immer berührt. Es lässt sich stark theologisch oder auch theologisch enthaltsam für eine und dieselbe sozialpolitische Maßnahme argumentieren. In diesem Band überrascht, in welchem Maße sich die katholische Sozialethik, so Beiträge von Michelle Becka, Anna Maria Riedl und Jochen Ostheimer, bereits einem ökosozialen Denken geöffnet hat. Umwelt- und Sozialpolitik werden zusammengedacht. Die Sozialethik kann so zu einer Ökosozialethik werden. Solidarität ist nicht nur global auszurichten, sie muss in Zukunft auch die Grenzen eines anthroprozentrischen Denkens und Handelns sprengen. Die katholische Sozialethik scheint bereit zu sein, normative Grundlagen für eine ökologische Sozialstaatlichkeit zu entwickeln.
Frank Nullmeier 2023, Sozialethik heute – aus katholischer Sicht, in: sozialpolitikblog, 31.08.2023, https://difis.org/blog/?blog=74 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Frank Nullmeier ist stellvertretender Direktor des DIFIS und leitet die Abteilung Bremen. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen im SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Sozialpolitikforschung und Wohlfahrtsstaatstheorie, interpretative Politikanalyse und Process Tracing sowie Politische Theorie.
Bildnachweis: privat
Heimbach-Steins, Marianne (Hrsg.); Höffner, Joseph (begründet): Christliche Sozialethik – eine sozialwissenschaftliche und theologische Disziplin Münster: Aschendorff Verlag.