Von Wahlkämpfen und wohlfahrtsstaatlichem Wandel
Demografischer Wandel, Wirtschaftskrisen oder Zuwanderung: Die europäischen Wohlfahrtssysteme standen in den vergangenen Dekaden vor großen Herausforderungen, auf die mit Reformen reagiert wurde. In ihrem nun erschienenen Buch widmen sich Staffan Kumlin und Achim Goerres vor diesem Hintergrund den Fragen: Unter welchen Umständen können – auch unpopuläre – Reformen gegen Widerstände durchgesetzt werden? Wie werden wohlfahrtsstaatliche Herausforderungen und Reformideen von politischen Parteien an die Bevölkerung kommuniziert? Welchen Einfluss hat das auf die Einstellungen und Präferenzen der Bürger*innen? Häufig verbleiben diese Fragen in separaten Forschungssträngen. Ein großes Verdienst des faszinierenden Buches „Electoral Campaigns and Welfare State Change” ist es, diese Puzzlesteine zusammenzubringen. Betrachtet werden sie durch das Brennglas von Wahlkämpfen. Mit außergewöhnlich reichhaltigem empirischem Material und analytischer Tiefe entwickeln Kumlin und Goerres so ein neues Bild von wohlfahrtstaatlichem Wandel in modernen Demokratien.
Das Buch gliedert sich in drei große Teile. Ein erster Teil diskutiert Forschungsproblematiken und verschiedene theoretische Zugänge für wohlfahrtsstaatlichen Wandel. Im zweiten Teil werden Wahlkampfinhalte untersucht, im dritten Teil Reaktionen der Öffentlichkeit. Die vergleichende Perspektive fokussiert dabei – nach einer breiter angelegten Analyse von Wahlkampfthemen in 18 westeuropäischen Demokratien – vor allem auf Deutschland, Norwegen und Schweden. Es soll untersucht werden, inwiefern auch in diesen vergleichsweise wohlhabenden und von Krisen weniger getroffenen Ländern der Reformdruck die Wahlkämpfe mit bestimmte und Bürger*innen berührte. Die fundierten empirischen Analysen fußen u.a. auf der Analyse von Wahlkampfreden (2000-2010) und von den Autoren entwickelten Survey-Experimenten in den drei Ländern.
Wie demokratisch sind sozialpolitische Reformen?
Große wohlfahrtsstaatliche Reformen scheinen eher zu gelingen, wenn sie in Wahlkämpfen auf der Agenda standen und es einen breiten Reformdiskurs gab. Innovativ ist an dem nun vorgelegten Buch, wie diese Erkenntnisse mit Fragen nach der Qualität repräsentativer Demokratien verbunden werden: Gelingt es politischen Akteuren, mit Wahlkampagnen auf den wohlfahrtsstaatlichen Reformdruck zu reagieren und dabei demokratische Prinzipien aufrechtzuerhalten?
Was demokratische Prinzipien sind und welche in diesem Kontext sinnvoll untersucht werden sollten, ließe sich natürlich trefflich diskutieren. Kumlin und Goerres fokussieren erstens auf „democratic linkage“: Wie gut funktioniert es in Demokratien, dass Parteien ihre (unterscheidbaren!) Reformoptionen für drängende Probleme präsentieren, Bürger*innen ihre Präferenzen bilden und danach ihre Wahlentscheidung treffen – und dann im Anschluss an Wahlen die angekündigten Policies auch umgesetzt werden? Zweitens stellen die Autoren „democratic leadership“ in den Mittelpunkt: Politische Entscheidungsträger*innen müssten angesichts großer Herausforderungen im Zweifelsfall auch unpopuläre Reformen wagen und zu legitimieren suchen – wozu es umgekehrt auch Lernbereitschaft von Bürger*innen brauche. Der politischen Kommunikation wird somit neue Aufmerksamkeit in ihrer Bedeutung für Wohlfahrtsreformen in Demokratien geschenkt.
Befunde und zwei Diskrepanzen
Kumlin und Goerres zeigen, dass wohlfahrtsstaatliche Herausforderungen und Reformoptionen auf der Agenda geblieben sind und politische Parteien auf die Herausforderungen reagiert haben. Signifikante Reformen erfolgten dabei weniger kontinuierlich als vielmehr punktuell und dann kräftig, nach aufgestautem Reformdruck.
In den Wahlkampfreden wird wohlfahrtsstaatlichen Themen deutliche Aufmerksamkeit geschenkt. Mit Blick auf die Demokratie sehen Kumlin und Goerres in ihren Befunden ein gemischtes Bild. Einerseits kommunizierten politische Akteure durchaus auch ernste Herausforderungen. Andererseits boten sie nur in eingeschränktem Maße auch hinreichend unterschiedliche, transparent kommunizierte Policy-Alternativen an. Häufig ist die Einschätzung anzutreffen, dass Politiker*innen nur dann über Probleme reden, wenn sie auch zugleich eine Lösung anzubieten haben. Dem kann die Analyse so nicht folgen: Beispielsweise um Themen für die eigene Partei zu „verbuchen“ (issue ownership) werden regelmäßig Problemsichten kommuniziert, ohne sie mit einer Lösung zu verknüpfen. Dabei stößt das Buch nicht in das Horn, dass es keine Parteienunterschiede mehr in den wohlfahrtsstaatlichen Parteienagenden gebe. Der Wahlkampf-Fokus schärft hier vielmehr den Blick auf die politische Kommunikation: Parteien hätten Schwierigkeiten damit, distinkte Positionen in einem komplexen Umfeld an die Wähler*innen zu kommunizieren.
Umgekehrt seien Bürger*innen im Wesentlichen informiert und auch bereit, auf Basis von neuen Informationen ihre Präferenzen anzupassen. Eine Gefahr sehen die Autoren vor allem dahingehend, dass sich Bürger*innen von – dann als übermäßig groß erscheinenden – Problemen beeinflussen ließen, insbesondere mit Blick auf Zuwanderung und Gruppen, die unverdientermaßen Leistungen erhalten würden.
Hierdurch kommen Kumlin und Goerres abschließend auf eine erste Diskrepanz zu sprechen, die ihre Analyse beleuchte. Nämlich dass zwar die Bürger*innen der Zuwanderung eine (zu) hohe Bedeutung für die Zukunft der Wohlfahrtssysteme zuschreiben. Die Zuwanderung bzw. entsprechende Policy-Optionen werden aber nicht in gleichem Maße von den im Buch untersuchten sozialdemokratischen und konservativen Parteien der Mitte thematisiert. Diese Parteien stehen hier vor einem schwierigen Balanceakt, was rechtspopulistische Parteien für sich nutzen können. Später wird die Frage aufgeworfen, ob sich diese Überbetonung durch eine bessere Information der Bürger*innen „korrigieren“ lasse.
Eine zweite Diskrepanz bestehe darin, wie Eliten versus Bevölkerung über sozialinvestive Reformen denken. Zwar ließe sich „social investment“ als Phase der jüngeren wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung klar erkennen: Es zeigt sich nicht (nur) wohlfahrtsstaatlicher Rückbau, sondern auch Ausbau z.B. in den Bereichen Kinderbetreuung und Aktivierungsmaßnahmen. Dieser Wandel spiegele sich auch in Kampagnenthemen und Reformkommunikation. Allerdings werde den Bürger*innen das volle Reformspektrum nicht offen kommuniziert. Nicht alles ist „social investment“: Unpopuläre Reformen werden auch durchgeführt, aber gern verschwiegen. Maskiert somit eine kommunikative „Rosinenpickerei“ von sozialinvestiven Reformen einen parallel stattfindenden Sozialstaatsabbau und die getroffenen „Trade-offs“? Kumlin und Goerres schließen ihr Buch kritisch (mit einem Gedanken, der in seinen praktischen Implikationen hier gern noch hätte weitergeführt werden können): „The relative absence of controversial reform information may pacify the electorate compared to what we might see under a balanced – dare we say truthful – democratic leadership.” (S. 203)
Fazit
Das Buch wendet sich der Zukunftsfähigkeit repräsentativer Demokratie in einer Ära großer wohlfahrtsstaatlicher Herausforderungen zu. Trotz der zum Teil doch recht diversen, mit unterschiedlichen Daten arbeitenden Kapitel zeigt sich der rote Faden.
Die Vergleiche von Deutschland, Norwegen und Schweden sind durchweg lesenswert und interessant. Unweigerlich werfen sie Anschlussfragen auf: Welches Bild würde der Vergleich mit vor noch größeren Herausforderungen stehenden Demokratien zeichnen, der Vergleich mit defekten Demokratien? Was würde der Einbezug von z.B. radikal-rechten Parteien verändern? Unterscheidet sich politische Kommunikation auf anderen Plattformen? Im Fazit wäre es interessant gewesen, die Befunde noch einmal in diesen breiteren Kontext eingebettet zu diskutieren. Die notwendigen Grenzen und Schwerpunktsetzungen der hier präsentierten Analysen werden allerdings vorweg diskutiert und laden zu weiteren Studien ein.[1]
Das Potential insbesondere neuerer policy-analytischer Konzepte und Ansätze (hier z.B. der Multiple-Streams Ansatz) ist für die Sozialpolitikforschung noch keineswegs ausgeschöpft worden. Hier ist das Buch erfrischend, indem es verschiedene Theorien mit Blick auf wohlfahrtsstaatlichen Wandel rekapituliert und dann systematisch mit den empirischen Befunden verknüpft. Es leistet Beiträge zu mehreren Forschungssträngen (u.a. zu Parteien, politischer Kommunikation, sozialpolitischen Reformen und politischem Wandel allgemein) und wird hoffentlich neue Debatten anstoßen.
Kumlin, Staffan & Goerres, Achim (2022) Electoral Campaigns and Welfare State Change: Democratic Linkage and Leadership under Pressure, Oxford University Press.
[1] Erfreulicherweise sind einige der Datensets öffentlich zugänglich gemacht worden und stehen für weitere Analysen zur Verfügung unter: https://osf.io/eh6g8/ (6.2.2023)
Sonja Blum 2023, Von Wahlkämpfen und wohlfahrtsstaatlichem Wandel, in: sozialpolitikblog, 09.02.2023, https://difis.org/blog/?blog=49 Zurück zur Übersicht
Dr. Sonja Blum vertritt derzeit die Professur Vergleichende Politikwissenschaft und Politikfeldanalyse an der Universität Bielefeld. Ihre Arbeits- und Forschungs-schwerpunkte sind u.a. Sozialpolitikforschung, politische Prozesse und Policy-Narrative. Zu ihren jüngsten Publikationen gehört das „Research Handbook on Leave Policy. Parenting and Social Inequalities in a Global Perspective“ (Edward Elgar, 2022, hrsg. mit Ivana Dobrotić und Alison Koslowski).
Bildnachweis: Hardy Welsch