sozialpolitikblog
Buchcover des Buches "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt".
Kirsten Hoesch, 25.07.2024

Perspektivwechsel entlang der ‚Phantomgrenze‘

Mit „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ macht Steffen Mau unterschiedliche Sichtweisen in Ost und West auf die Geschichte seit der Wende deutlich und bietet eine Orientierungshilfe, schreibt Kirsten Hoesch in ihrer Rezension. Sie beleuchtet die Neuerscheinung mit Blick auf dessen Diagnose zu soziostrukturellen Unterschieden und Herausforderungen des Wohlfahrtsstaats.

 

„Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg“, so der knappe Klappentext auf der Rückseite von „Ungleich vereint“. Mit diesem kurzen Zitat aus dem Buch wird das – mit 168 Seiten angenehm kompakte und gut lesbare – Werk des Soziologen und Ungleichheitsforschers Steffen Mau in Bezug gesetzt zu einer Debatte, die seit über 30 Jahren ziemlich stabil bestimmten Impulsen, Themenkonjunkturen und Deutungsmustern folgt. Die zugrunde liegende Unterströmung dieses innerdeutschen Gesprächs: Über kurz oder lang wird sich „der“ Osten „dem“ Westen schon angleichen – und dies ist auch das Ziel. Hier nun setzt Maus Analyse an und bricht die „Selbstmumifizierung der Debatte“ (S. 87) auf: Indem er auf gesellschaftlich und historisch gewachsene Verschiedenheit hinweist und sie nuanciert beleuchtet, formuliert er die These der Verstetigung von bestimmten Unterschieden und stellt infrage, dass eine vollständige Angleichung realisiert werden kann und sinnvoll ist.


Bei der Ursachenanalyse erfahren meistens insbesondere politische Haltungen und mögliche Strategien im Umgang damit – Stichwort ,Brandmauer‘ - eine besondere Aufmerksamkeit. Wie tief allerdings weiterhin soziökonomische und sozialstrukturelle Unterschiede fortbestehen – zum einen als Pfadabhängigkeiten der ostdeutschen Transformation, zum anderen als Symptome allgemeiner sozialpolitischer Herausforderungen des deutschen Wohlfahrtsstaates – bleibt oft verborgen. Mau rückt die Verwobenheit dieser Sphären ins Licht und kartographiert die Unterschiede in verschiedenen Dimensionen neu. Spätestens seit der Europawahl und der markanten blauen Einfärbung der Landkarte im Osten ist die Frage nach dem „Warum?“ und „Wie weiter?“ nochmal virulenter geworden. Auch mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen im September kommt das im Juni 2024 erschienene Buch also keinen Moment zu früh. 

Der Westen weiterhin als Norm

Bereits in der Einleitung formuliert Mau seinen zentralen Befund, dass sich trotz Angleichungen zwischen West und Ost weiterhin ein „Fortbestand zweier Teilgesellschaften“ (S. 10) erkennen lässt. Zentral für die Herangehensweise des Buches ist auch die gleich zu Beginn vorgenommene Verortung der Debatte und ihrer Sprecher*innen: Mau legt die oftmals stark westdeutsche Sicht der Entwicklung offen, in der es um Nachahmung geht, um ein „Ankommen“ der Ostdeutschen, eine „politische Einheitlichkeitsfiktion“. Dabei versperrt eine solche Perspektive, die den Westen – bewusst oder unbewusst – zur Norm macht und den Osten als Abweichung begreift, den tiefergehenden und verstehenden Blick auf die Eigenheiten des Ostens – und damit auch auf mögliche neue Lösungsansätze.


Warum es so wichtig ist, unterschiedliche Perspektiven, Deutungen und Repräsentationen sichtbar zu machen, wird an verschiedenen Stellen des Buches offensichtlich. Am eindrücklichsten wird dies an den Ergebnissen einer Umfrage, wonach Menschen mit ostdeutschem Hintergrund Unterschiede und Konflikte zwischen Ost und West viel stärker wahrnehmen als diejenigen mit westdeutscher Biografie (S. 76), insbesondere in der jüngeren Nachwendegeneration (S. 78). Entsprechend wichtig ist es hier zu erwähnen, dass Mau, Jahrgang 1968, selbst in Ostdeutschland aufgewachsen ist, eine tiefgehende Kenntnis der Transformationserfahrungen mitbringt, zugleich aber auch die westdeutschen Perspektive kennt. Verbunden mit einer sozialwissenschaftlichen Analyse zeigt er die Missverständnisse und stabilen Deutungsmuster, die aus diesen unterschiedlichen Blickwinkeln entstanden sind.


Vor diesem Hintergrund betrachtet Mau verschiedene Dimensionen – wie etwa Sozialstruktur, Demographie, (politische) Kultur, (ausgebremste) Demokratisierung, Identität und politische Konfliktlagen. Er zeigt, wo warum Unterschiede fortbestehen, wo sie sich verschärfen, wo dies problematisch ist, aber eben auch, wo diese gut und erwünscht sind (z.B. Kinderbetreuung, Frauenerwerbsquote, Mieten). So verdeutlicht er anhand empirischer Daten Ungleichheiten jenseits oberflächlicher Annäherungen auf und zoomt tief in die Transformations- und Zurücksetzungserfahrungen hinein. Damit ermöglicht er gerade westdeutschen Leser*innen ein besseres Verstehen.


Aber auch der ostdeutschen Sicht bietet er zahlreiche kritische Denkanstöße, etwa wenn es darum geht, zu hinterfragen, inwieweit Ostdeutsche mit Blick auf den historischen Umgang mit der DDR ein überlegenes Wissen des Dabei-gewesen-Seins für sich reklamieren und sich gegen andere Deutungen immunisieren; oder inwieweit am ostdeutschen „Abendbrottisch“ angesichts schwieriger Transformationserfahrungen das Beschweigen der Vergangenheit über eine kritische Auseinandersetzung dominierte. 


Mit Blick auf drohende „Allmählichkeitsschäden der Demokratie“ – so der Titel des vorletzten Kapitels –  ist insbesondere Maus Analyse der politischen Kultur und ihrer historischen Hintergründe, der geringen Verwurzelung der Parteien sowie der spezifischen Funktionsweise von Öffentlichkeit, Partizipation, Protest und lokaler Politik erhellend. Oft sind es auch eindringliche Metaphern und Begriffsschöpfungen („Ossifikation“, „politische Verohnmächtigung“, „unterschiedliche Partizipationsgesellschaften“, „veränderungserschöpfte Teilgesellschaft“), die hängen bleiben und es ermöglichen, zunächst unverständlich erscheinende Phänomene in einem neuen Licht zu betrachten.

Schwächen des Wohlfahrtsstaats werden sichtbar

Während zwar das demographische Ausbluten des Ostens gestoppt wurde, sich die Arbeitslosenquote verringert und die Lebenszufriedenheit vergrößert hat (S. 16), gibt es weiterhin große Unterschiede, unter anderem bei der Vermögensverteilung, der sozialen Mobilität, der Abhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen, der betrieblichen Mitbestimmung, gewerkschaftlichen Organisation und Tarifbindung. Dabei ist das Leben in Ostdeutschland insgesamt deutlich stärker von unsicheren, ökonomisch prekären Lebenslagen geprägt. Mau spricht von einer innerdeutschen „Vermögensmauer“, die steil emporragt – unter anderem weil Vermögensbildung erheblich über Erbschaften geschieht, aber nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftssteuer in Ostdeutschland gezahlt werden. Auch die Langzeitfolgen von postsozialistischer Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und beruflicher Deklassierung zeigen sich bis heute daran, dass die Vermögen der Haushalte in Westdeutschland doppelt so hoch sind wie in Ostdeutschland.


Damit zeigen sich die in Ostdeutschland fortbestehenden sozioökonomischen Benachteiligungen einerseits als spezifische Folge der wirtschaftlichen Transformation, andererseits werden Schwächen des deutschen Wohlfahrtsstaates sichtbar wie etwa die geringen Effekte bei Umverteilung, eine generationsübergreifende Reproduktion sozioökonomischer Verhältnisse und fehlende Mittel/Bereitschaft hier steuernd einzugreifen. Im Ergebnis ist die im internationalen Vergleich in Deutschland „mobilitätsblockierte Gesellschaft“ (S. 128) in Ostdeutschland noch deutlicher konturiert.    


Damit ist implizit auch klar, dass in ökonomischen Krisen ostdeutsche Haushalte deutlich weniger resilient sind. Erstaunlich ist auch die weiterhin „dramatische Elitenschwäche“ (S.24): Auch 34 Jahre nach der deutschen Vereinigung haben nur 50 Prozent der Mitglieder ostdeutscher Landesregierungen einen ostdeutschen Hintergrund.  


Bezogen auf die politische Blaufärbung der ostdeutschen Landkarte, ist angesichts dieser Zahlen kaum noch überraschend, dass die – ebenfalls oft aus dem Westen eingewanderten – rechten ,Polarisierungsunternehmer‘ und ,Affektbewirtschafter‘  darauf abzielen „ein spezifisch ostdeutsches Zurücksetzungsgefühl für sich zu instrumentalisieren“ (S. 82). Zementierte benachteiligte soziale Lagen bieten somit ein wichtiges Erklärungsmuster für Wahlentscheidungen. Und dies ist kein rein ostdeutsches Phänomen, sind doch auch wirtschaftlich schwache Regionen im Westen mit ähnlichen sozialstrukturellen Merkmalen der Wählerschaft anfälliger für AfD-Wahlentscheidungen (S. 100-101)

Verzerrte Wahrnehmung im Westen

So wie oben der ostdeutsche Hintergrund des Autors thematisiert wurde, möchte sich die Rezensentin hier als westdeutsche Leserin zu erkennen geben – eine Einordnung, die man sonst in einer Rezension wohl eher nicht vornehmen würde. Allerdings ist deutlich geworden, dass es für die Wahrnehmung der innerdeutschen Debatte und Bewertung gesellschaftlicher Herausforderungen relevant ist, ob die lebensweltlichen Erfahrungen diesseits oder jenseits der ,Phantomgrenze‘(S.18) – also einer Grenze, die sich entlang bestimmter Indikatoren ergibt -  gemacht wurden. Aus dieser westdeutschen Perspektive erscheint das Buch als eine klarsichtige Orientierungshilfe, die klug auf Wahrnehmungsverzerrungen aufmerksam macht und dieses schwer zu fassende Feld von Zuschreibungen, gefühlten Wahrheiten und ‚distinkten Deutungskulturen‘ (S. 32) mit belastbaren empirischen Daten und historischer Kenntnis verknüpft.


Dabei verweist die so unterschiedliche Bewertung der Ost-West-Unterschiede darauf, dass „im Westen“ einiges nur sehr selektiv wahrgenommen wird. Während die Erfolge rechter Parteien aufrütteln, sind die fortbestehenden ökonomischen und sozialstrukturellen Unterschiede, die höhere Prekarität ostdeutscher Lebensverhältnisse, die Überschichtung der Gesellschaft durch westdeutsche Eliten in dieser Deutlichkeit den meisten Westdeutschen wohl kaum bewusst. Entsprechend verwundert es kaum, dass sich Ostdeutsche häufiger Maßnahmen zur Gleichstellung/positiver Diskriminierung wünschen. Dies erinnert an ähnliche Diskurse und Wahrnehmungsdifferenzen in der Migrationsgesellschaft im Kontext von Diskriminierung, Rassismus, Benachteiligung und ‚affirmative action‘.


Das besprochene Buch, das Mau selbst als „eine kleine politische Schrift zu Gesellschaft, Politik und Demokratie in Ostdeutschland“ (S.14) bezeichnet, durchbricht verbreitete Muster und Reflexe in der Debatte. Dabei ist nicht alles neu, aber die Art der pointierten Verknüpfung, Darstellung und konzisen Argumentation lässt ein neues, klar konturiertes Bild entstehen, das auch den Blick für ganz neue Lösungsansätze weitet.


Hier skizziert der Autor bereits einige Ideen und unterfüttert sie mit eigenen Studienergebnissen. Vielversprechend und interessant sind die Ansätze zur Verbesserung politischer Beteiligung, zum Beispiel durch Bürgerräte. Aber auch die Feststellung, dass sich ohne aktives Gegensteuern wie etwa Quoten, Elitenförderung und Umverteilung die ungleichen Verhältnisse langfristig fortschreiben, ist zentral. Hier hätte man sich eine etwas detailliertere Ausarbeitung konkreter Ansätze des Nachteilsausgleichs gewünscht, gerade weil – wie Mau auch feststellt – aus Westperspektive fast ausschließlich die politischen Problematik adressiert wird, die sozialstrukturellen und sozioökonomischen Unterschiede mit all ihren auch politischen Implikationen jedoch kaum Aufmerksamkeit erfahren.


Großes Verdienst dieses Buches ist es, dass es in seiner doppelten und beweglichen Perspektive als eine Art „Sprach- und Kulturmittler“ fungiert und in die Debatte eine neue Ebene des Verstehens und der daraus zu ziehenden Schlüsse bringt. Es wird klar, dass der Osten nicht – wie in manchen Diskurssträngen postuliert – durch den Westen konstruiert, sondern „er ist auch anders“ (S.71). Aber dies ist kein Makel, sondern ein empirisch messbarer Zustand, bei dem genau zu prüfen ist, wo dessen Veränderung nötig und sinnvoll ist und wo nicht.


Kirsten Hoesch 2024, Perspektivwechsel entlang der ‚Phantomgrenze‘, in: sozialpolitikblog, 25.07.2024, https://difis.org/blog/?blog=124

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