Der ‚aktivierende Sozialstaat‘ – eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte deutscher Sozialpolitik, 1979–2017

Geförderte Institution: Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik


Forschungsteam: Dr. Nikolas Dörr (), Wanda Schwarze-Wippern, MA, Christof Wittmaack, MA

Der „aktivierende Sozialstaat“ ist seit den 1990er-Jahren zum neuen Leitbild der Sozialpolitik in Deutschland und weiten Teilen Europas avanciert. Im Fokus der öffentlichen Debatte in Deutschland stehen dabei besonders die Reformen der Agenda 2010 und vor allem „Hartz IV“. Während die sozioökonomischen Ursachen dieses sozialpolitischen Wandels (insb. Ölkrisen, Massenarbeitslosigkeit, demografische Entwicklung, Staatsverschuldung) bereits gut erforscht sind, wurden gesellschaftliche und internationale Faktoren bislang weitgehend ausgeblendet. Die alleinige Fokussierung auf die sozioökonomische Situation greift jedoch zu kurz, um diese sozialstaatliche Transformation umfassend erklären zu können.

Die interdisziplinär zusammengesetzte Nachwuchsgruppe untersucht zusammen mit nationalen und internationalen Kooperationspartner*innen den „aktivierenden Sozialstaat“ dementsprechend nicht als eine Summe von Gesetzen, sondern weitergehender als sozialpolitische Reaktion auf einen grundlegenden, langfristigen gesellschaftlichen Wandel und die Veränderung internationaler sozialpolitischer Leitbilder seit Ende der 1970er-Jahre. Ersteres schließt u. a. Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung (v. a. durch Migration) und die Popularisierung des Prinzips „Fördern und Fordern“ mit ein. Letzteres bezieht sich auf die transnationale Rezeption neuer sozialpolitischer Ansätze (u. a. Thatcherismus, Enabling State, Workfare, „New Labour“, Flexicurity).

Die Nachwuchsgruppe besteht aus den Doktorand*innen Wanda Schwarze-Wippern und Christof Wittmaack sowie dem Nachwuchsgruppenleiter Dr. Nikolas Dörr, die die Forschungsfragen in drei Teilprojekten bearbeiten:

Teilprojekt A (Bearbeiter: Dr. Nikolas Dörr)

In diesem Projekt werden aus zeithistorischer Perspektive die Einflüsse internationaler sozialpolitischer Transfers auf die Entstehung und Entwicklung des deutschen Konzepts des „aktivierenden Sozialstaats“ untersucht. Auf Basis umfangreicher Archivrecherchen im In- und Ausland, Zeitzeug*inneninterviews und der Auswertung publizierter Quellen werden Netzwerke und Beziehungskonstellationen untersucht, die einen Transfer sozialpolitischer Ideen und Konzepte ermöglichten. Eine besondere Rolle spielen dabei die sich intensivierenden Beziehungen zwischen Mitte-Links-Parteien im Rahmen des „Dritten Weges“ (insb. „New Democrats“, „New Labour“ und SPD/„Neue Mitte“).

Teilprojekt B (Bearbeiter: Christof Wittmaack)

Das politikwissenschaftliche Teilprojekt untersucht die Entwicklung öffentlicher Meinung zu aktivierender Sozialpolitik im Zeitraum von 1998 bis 2017. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung des historischen Kontextes politischer Entscheidungsprozesse. So wird analysiert, wann und wie öffentliche Meinung durch mediale Meinungsumfragen erfasst wurde und wie sich Präferenzen der Bevölkerung gewandelt haben. Zudem wird die Wahrnehmung öffentlicher Meinung durch politische Entscheidungsträger*innen untersucht.

Teilprojekt C (Bearbeiterin: Wanda Schwarze-Wippern)

Das medienwissenschaftliche Teilprojekt analysiert den Zusammenhang zwischen Massenmedien und der Entwicklung des aktivierenden Sozialstaats in Deutschland. Die Aktivierung in Lohnarbeit steht im Zentrum dieser Entwicklung, weshalb der thematische Schwerpunkt des Projekts auf Arbeitsmarktpolitik liegt. Massenmedien begleiteten neben anderen Akteur*innen aktivierende Reformen und bedürfen in diesem Zusammenhang einer umfassenden Analyse. Von ihrer Relevanz für den Politikwandel ausgehend, wird die Akteursrolle von Massenmedien anhand der Kommentierung der Hartz-Reformen untersucht.

Projektpartner*innen:

  • Prof. Dr. Klaus Petersen, Direktor des Danish Centre for Welfare Studies (DaWS) an der Süddänischen Universität Odense
  • Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS)

Aktuelle Entwicklungen im Projekt

Vom 08. bis 10. Juni 2022 wird die Nachwuchsgruppe die 4. Hermann-Weber-Konferenz zur Historischen Kommunismusforschung zum Thema „‚Im Kalten Krieg entscheiden die Bataillone der besseren Sozialleistungen‘ – Das Verhältnis von Kommunismus und Sozialpolitik seit 1945“ ausrichten. Die internationale Konferenz widmet sich aus interdisziplinärer und globaler Perspektive der Bedeutung von Sozialpolitik während des Kalten Krieges. Darüber hinaus werden die Folgen des Wegfalls der Systemkonkurrenz, so vor allem die Transformationsphase ab 1989 und der sozialpolitische Leitbildwandel hin zum aktivierenden Sozialstaat, thematisiert. Die Nachwuchsgruppe „Der ‚aktivierende Sozialstaat‘ – eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte deutscher Sozialpolitik“ wird dabei von der Gerda-und-Hermann-Weber-Stiftung unterstützt. Die Konferenz wird in den Räumen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin stattfinden. Ausgewählte Konferenzbeiträge werden anschließend im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung publiziert. Weitere Informationen zur Konferenz sowie den dazugehörigen Call finden Sie hier.

Jüngste Veröffentlichungen

  • Dörr, Nikolas. 2021. 50 Jahre BAföG: ein Meilenstein der bundesdeutschen Geschichte. In: Vorwärts, 05. November 2021, https://www.vorwaerts.de/artikel/50-jahre-bafoeg-meilenstein-bundesdeutschen-geschichte. Zugegriffen: 01. März 2022.

  • Dörr, Nikolas. 2021. Der aktivierende Sozialstaat als internationale Transfergeschichte am Beispiel des Schröder-Blair-Papiers 1999. Paper präsentiert auf dem FIS-Forum 2021, Deutsches Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS); Fördernetzwerk Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (FIS) und Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Duisburg, 18. November 2021.

  • Dörr, Nikolas. 2022. „Sie haben die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion für diese Politik.“ Die Veränderung des sozialpolitischen Leitbilds während der rot-grünen Regierung und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion. In Die Geschichte und politische Arbeit der SPD-Bundestagsfraktion seit 1949, Hrsg. Peter Beule, Düsseldorf: Droste (im Erscheinen).

  • Dörr, Nikolas. 2022. „A Plan to End Welfare as We Know it?” Transnationale Kooperationen und Lernprozesse in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in den 1990er-Jahren. In Ökonomische Krisen als Chance? Kooperation und Regulation in historischer Perspektive, Hrsg. Katja Patzel-Mattern und Sebastian Knoll-Jung, Stuttgart: Franz Steiner (im Erscheinen).

  • Schwarze-Wippern, Wanda und Christof Wittmaack. 2021. Nur fordern, wenn's fördert? Arbeitsmarktpolitik und ihre öffentliche Wahrnehmung im Wandel, Paper präsentiert im Rahmen von Science goes PUBlic, Bremen, 04. November 2021.

  • Wittmaack, Christof. 2021. Öffentliche Meinung und die Entwicklung des „aktivierenden Sozialstaates“. Paper präsentiert auf der 8. Sozialwissenschaftlichen Promotionswerkstatt Rhein-Ruhr, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung; Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) und Institut für Soziologie (IfS) der Universität Duisburg-Essen, 01. Oktober 2021.