Medikalisierung und Psychologisierung sozialer Probleme: Herausforderungen und Chancen für Sozialpolitik (MEPYSO)

Geförderte Institution: Universität Siegen, Fakultät I Sozialwissenschaften Zur Projektseite Twitter


Projektverantwortliche: Dr. Nadine Reibling, Fakultät I Sozialwissenschaften, Universität Siegen (E-Mail schreiben)

Das Ziel der interdisziplinären Nachwuchsgruppe MEPYSO ist es zu untersuchen, welchen Einfluss die Interpretation sozialer Probleme auf die Machbarkeit und die Wirkungen von Sozialpolitik hat. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung aus angelsächsischen und skandinavischen Ländern, dass die Bedeutung medizinischer und psychologischer Erklärungen für soziale Probleme in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen hat. Die Nachwuchsgruppe wird zunächst untersuchen, in welchem Ausmaß sich diese Medikalisierungs- und Psychologisierungsprozesse auch im deutschen Diskurs zeigen und wie sie sich für drei ausgewählte soziale Probleme – Arbeitslosigkeit, Armut, und frühkindliche Entwicklung – unterscheiden. Hierzu wird eine qualitative und quantitative Analyse des wissenschaftlichen, medialen und politischen Diskurses zu diesen drei Problem vorgenommen. Das Projekt leistet damit eine erste problemübergreifende, empirische Beschreibung der Medikalisierung und Psychologisierung von sozialen Problemen in Deutschland. In einem zweiten Schritt sollen dann die individuellen und gesellschaftlichen Folgen medizinischer und psychologischer Erklärungen untersucht werden. Experimental- und Befragungsdaten sowie ein interdisziplinäre Expertendialog sollen Aufschluss darüber geben, wie Politik und Praxis die Chancen medizinischer und psychologischer Interpretationen sozialer Probleme nutzen und negative Effekte für Betroffene und für die Legitimität des Wohlfahrtsstaates verringern kann.

Die Nachwuchsgruppe liefert damit empirisch fundierte Antworten auf die folgenden Fragen:

  • Welche Rolle spielen medizinische und psychologische Erklärungen für Armut, Arbeitslosigkeit und frühkindliche Entwicklung?
  • Worin bestehen die Potenziale solcher Erklärungen für sozialpolitische Interventionen?
  • Wie lassen sich mögliche Risiken wie negative, psychosoziale Folgen für Leistungsempfänger, Stigmatisierung und ein Legitimationsverlust klassischer Sozialpolitik vermeiden?

Auftaktveranstaltung der Nachwuchsgruppe

Auftaktveranstaltung der FIS- Nachwuchsgruppe „Medikalisierung und Psychologisierung sozialer Probleme“ am 8. März 2018 an der Universität Siegen

Am 8. März 2018 fand die Auftaktveranstaltung der FIS-Nachwuchsforschungsgruppe „Medikalisierung und Psychologisierung sozialer Probleme“ statt. Drei Jahre beschäftigt sich die Forschergruppe, die Dr. Nadine Reibling leitet, damit, welche Rolle Medizin und Psychologie bei sozialpolitischen Maßnahmen gegen Armut, Arbeitslosigkeit und frühkindliche Entwicklungsprobleme aktuell spielen und welchen Beitrag sie zur Lösung dieser Probleme leisten können.

Die Gäste wurden von Laila Heitmann vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Professor Claus Wendt von der Universität Siegen begrüßt. Der anschließende Vortrag von Nachwuchsgruppenleiterin Dr. Nadine Reibling spannte danach das Feld des Forschungsvorhabens auf. In den nächsten drei Jahren soll erforscht werden, wie und warum die sozialen Probleme Arbeitslosigkeit, Armut und kindliche Entwicklung immer häufiger in einem medizinischen Kontext diskutiert und analysiert werden. Welche Triebfedern gibt es für diese Entwicklung und welche Chancen aber auch Risiken resultieren daraus? 

Im Anschluss stellten die Mitglieder der wissenschaftlichen Begleitgruppe, die sich aus Professoren der Disziplinen Medizin, Psychologie, Politikwissenschaften, Rechtswissenschaften, Soziologie, Sozialethik und Wirtschaftswissenschaften zusammensetzt, dar, welche Relevanz und Entwicklungen sie in ihrer Disziplin in Bezug auf die gesundheitliche und psychische Behandlung sozialer Probleme sehen, aber auch welche Probleme und Fragen noch unzureichend erörtert werden. Alle Vortragenden stellten heraus, dass es in der Frage der Medikalisierung und Psychologisierung immer um Grenzsetzungen und Grenzverschiebungen geht. Was ist normal und welcher Grad der Abweichung ist krank? Der Sozialethiker Professor Traugott Jähnichenvon der Ruhr-Universität Bochum blickte in diesem Zusammenhang auf die Verschiebung der medizinischen Auseinandersetzung mit Fragen der frühkindlichen Entwicklung, die schon auf die Zeit vor der Geburt verschoben werden. Die Folgen dieser Entwicklung seien noch nicht abzumessen. Auch die Soziologin Professor Pia Schober von der Universität Tübingen setzte sich mit Fragen der frühkindlichen Entwicklung und medizinischen Erklärungen auseinander. Sie beschrieb die hohen Erwartungen an Kinder und an die frühkindliche Bildungspolitik, die nur erfüllt werden könnten, wenn sich alle politischen Ebenen miteinander vernetzten. Um die Akteure ging es auch im Beitrag von Professor Thomas Gerlinger von der Universität Bielefeld. Der Politikwissenschaftler warf unter anderem die Frage auf, welche Akteure eigentlich von der zunehmenden Medikalisierung profitierten. Würden beispielsweise im Bereich der Arbeitslosigkeit immer häufiger Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen getroffen und Arbeitslose in andere Systeme verschoben, welche Akteure profitieren davon? Auch Professor Bernhard Boockmann vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung der Universität Tübingen ging auf die Medikalisierung der Arbeitslosigkeit ein und verwies darauf, dass gesundheitliche Einschränkungen ein zentrales Beschäftigungshindernis seien. Der Wirtschaftswissenschaftler beschrieb, dass Problematisierung, Thematisierung und die Einleitung tatsächlicher Maßnahmen bei den Arbeitsagenturen in einem Missverhältnis zueinander stünden.

Die abschließende Podiumsdiskussion mit Teilnehmern aus der Region Siegen schärfte dann den Blick für konkrete Chancen und Risiken des gesundheitlichen Zugangs in der Praxis. Burkhard Lawrenz vom Landesverband der Kinder- und Jugendärzte bestätigte den „Trend zur Therapie“. Für ihn seien Therapien und Förderung bei frühkindlichen Entwicklungsproblemen zwar angebracht, er verwies aber auch auf den „Stempel krank und therapiebedürftig“, den diese Kinder oftmals erhielten. Georg Ritter vom Jugendamt Siegen stellte vor allem heraus, dass der gesundheitliche Zugang - auch über die Vorsorgeuntersuchungen - für die frühzeitige Betreuung der Kinder und Familien, mit denen er arbeitet, sehr wichtig sei. Dieses Spannungsfeld von Überforderung und Vernachlässigung beschrieb auch Klaus Fenster von der Industrie- und Handelskammer Siegen (IHK). Einerseits glaubten viele Eltern, ihre Kinder hätten ohne Abitur keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt und bauten enormen Leistungsdruck auf. Andererseits gäbe es viele Jugendliche, die zusätzliche Betreuung benötigten, um eine Ausbildung überhaupt abschließen zu können. Er erörterte, dass das Thema seelische Gesundheit am Arbeitsplatz in den Betrieben sehr ernst genommen werde. Martin Debener vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Nordrhein-Westfalen betonte in diesem Zusammenhang, dass die Geschwindigkeit im Arbeitsleben enorm zunehme, auch durch den technologischen Wandel, der besonders ältere Beschäftige immer mehr unter Druck setze.

Jüngste Veröffentlichungen

Ariaans, Mareike und Nadine Reibling. 2022. Constructions of Unemployed Individuals in German Parliamentary Debates on Active Labour Market Policy Reforms: A Comparative Analysis of 2003 and 2016. Social Policy and Society. 1/18. https://doi.org/10.1017/S1474746421000890.

Linden, Philipp. 2021. Wie viel Geld ist angemessen? Eine Vignettenstudie zur Akzeptanz von Sanktionen im SGB II. WSI 74/6: 454–462. https://doi.org/10.5771/0342-300X-2021-6-454.

Ariaans, Mareike und Nadine Reibling. 2021. Die Rolle von Gesundheit und Krankheit im deutschen Armutsdiskurs – Eine Inhaltsanalyse der Armuts- und Reichtumsberichte. Zeitschrift für Sozialreform 67/2: 123–152. https://doi.org/10.1515/zsr-2021-0005.

Reibling, Nadine, Mareike  Ariaans, Lisa Bleckmann, Lucas Hamel, Stephan Krayter und Philipp Linden. 2020. Kranke Arbeitslose – Gleiche Leistung aber weniger Sanktionen – Ergebnisse des faktoriellen Surveys aus der Nachwuchsgruppe „Medikalisierung und Psychologisierung sozialer Probleme“. FIS-Briefing Nr. 7. https://www.fis-netzwerk.de/fileadmin/fis-netwerk/Nr.7_201030_FIS-Briefing_MEPYSO.pdf.

Krayter, Stephan und Nadine Reibling. 2020. Medicalisation and psychologisation of poverty? An analysis of the scientific poverty discourse from 1956 to 2017. Journal of Poverty and Social Justice 28/3: 361–381. https://doi.org/10.1332/175982720X15979441697421.

Reibling, Nadine. 2019. Engine and Brakes: European Welfare States and the Medicalization of Social Problems. Europe Now. https://www.europenowjournal.org/2019/06/10/engine-and-brakes-european-welfare-states-and-the-medicalization-of-social-problems/.

Linden, Philipp, Nadine Reibling und Stephan Krayter. 2018. Lieber krank und arbeitslos als „nur“ arbeitslos? Die Auswirkungen der Medikalisierung von arbeitslosen Personen auf Stigmatisierungsprozesse. Zeitschrift für Sozialreform 64/4: 431–461. https://doi.org/10.1515/zsr-2018-0022.

Aktuelle Entwicklungen im Projekt

Ausblick: Abschlussveranstaltung mit Positionspapier und Podiumsdiskussion zum Thema Medikalisierung und Psychologisierung im Sozialstaat am 29.04.2022

Im Rahmen der Veranstaltung werden die zentralen Ergebnisse des Projekts und die daraus folgenden Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft vorgestellt. In einer darauf folgenden Podiumsdiskussion mit dem Titel: „Sozialleistungen auf Rezept: Ärztliche und psychologische Expertisen im Sozialstaat - ein Erfolgsmodell?“ sollen die Ergebnisse, Handlungsoptionen und offenen Fragen kritisch und aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert werden. Für weiter Informationen und eine Anmeldung zur Veranstaltung melden Sie sich bei Torsten Schneider (Torsten.Schneider@uni-siegen.de).

Wann? 29.04.2022 09:30–12:30 Uhr, via Zoom

Einen Tag vor der Abschlussveranstaltung, am 28.04.2022, wird die wissenschaftliche Tagung „Die Rolle von Medizin in der modernen Gesellschaft – Einblicke aus aktuellen Beiträgen zur Medikalisierungsforschung“, die von Nadine Reibling mitorganisiert wird, abgehalten. Die Veranstaltung gibt Einblicke in die aktuelle Medikalisierungsforschung und steht in engem Zusammenhang mit der Arbeit der Nachwuchsgruppe. Sie wird durch die AG Gesundheitssoziologie und Medizinische Soziologie der DGMS sowie die Sektion Medizin- und Gesundheitssoziologie der DGS getragen.


März 2022 Neue Veröffentlichung: Konstruktionen des Bilds von Arbeitslosen in deutschen Bundestagsdebatten zu Reformen der aktiven Arbeitsmarktpolitik

In der neuesten Veröffentlichung der Nachwuchsgruppe adressieren Mareike Ariaans und Nadine Reibling den politischen Diskurs rund um Reformen der aktiven Arbeitsmarktpolitik.

Ariaans, Mareike und Nadine Reibling. 2022. Constructions of Unemployed Individuals in German Parliamentary Debates on Active Labour Market Policy Reforms: A Comparative Analysis of 2003 and 2016. Social Policy and Society. 1/18. https://doi.org/10.1017/S1474746421000890.


Januar 2022 Neue Veröffentlichung und Medienecho: Wie viel Geld ist angemessen? Eine Vignettenstudie zur Akzeptanz von Sanktionen im SGB II

Anfang 2022 hat Philipp Linden die Ergebnisse einer Vignettenstudie zur Akzeptanz von Sanktionen im SGB II veröffentlicht. Die Studie fand nicht nur wissneschafltiche sondern auch mediale Aufmerksamkeit. So hat unter anderem die Siegener Zeitung die Ergebnisse der Studie zusammengefasst und das Siegener Lokalradio Herrn Linden zur Bedeutung seiner Forschung interviewt.

Linden, Philipp. 2021. Wie viel Geld ist angemessen? Eine Vignettenstudie zur Akzeptanz von Sanktionen im SGB II. WSI 74/6: 454–462. https://doi.org/10.5771/0342-300X-2021-6-454.

Link zum Medienecho:


April 2021
Vergrößerung der Nachwuchsforschungsgruppe

Torsten Schneider ergänzt das Team der Nachwuchsgruppe und wird neuer wissenschaftlicher Mitarbeiter und assoziiertes Mitglied von MEPYSO.  

November 2020 Gleiche Leistungen, aber weniger Sanktionen – Veröffentlichung aktueller Forschungsergebnisse im FIS-Briefing

Trotz Ausfall des FIS-Forums, aufgrund der Corona-Pandemie, konnten aktuelle Forschungsergebnisse des Projekts im FIS-Briefing Nr. 7 von 2020 veröffentlicht werden.

Link zum Beitrag: 



August
2020 Verlängerung der MEPYSO-Nachwuchsgruppe

Das Fördernetzwerk Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (FIS) hat die 2. Förderphase der Nachwuchsgruppe bewilligt. Das Team freut sich auf spannende Sozialpolitikforschung bis zum 31. Juli 2022. Fokus in unserer zweiten Projektphase ist unsere Projektmonographie und die Ableitung von Politik – und Praxisempfehlungen.