Sozialstaatsforschung von unten
Rezension zu "Spannungsfeld Nichtinanspruchnahme" von Jennifer Eckhardt
Nichtinanspruchnahme als Thema einer Sozialstaatsforschung von unten. Warum nehmen Menschen Sozialleistungen nicht in Anspruch? Jennifer Eckhardt untersucht dieses Thema nicht nur als Frage gelingender Armutsbekämpfung, sondern auch als Legitimationsproblem des Sozialstaats.
Warum nehmen Menschen Sozialleistungen nicht in Anspruch? Jennifer Eckhardt untersucht dieses Thema nicht nur als Frage gelingender Armutsbekämpfung. Nichtinanspruchnahme ist auch ein Legitimationsproblem des Sozialstaats. Wenn Menschen Leistungen, auf die Sie ein Recht haben, nicht einlösen, kann das auf grundlegende Zweifel hinweisen und „Ausdruck sozialstaatlicher Dysfunktionalität“ (18) sein. Ob aber bestehende sozialstaatliche Kompromisse zwischen Kommodifizierung und De-Kommodifizierung explizit abgelehnt werden oder herrschende Normen und Regelungen doch unterstützt werden, ist an der Nichtinanspruchnahme selbst nicht zu erkennen. Eckhardt begibt sich in ihrer Studie, die im Rahmen ihrer Dissertation an der TU Dortmund entstanden ist, auf die Suche nach Antworten.
In Deutschland gibt es nur wenige Untersuchungen zur Nichtinanspruchnahme, während „non-take-ups“ in anderen europäischen Ländern als Problemfeld breiter untersucht werden. Dabei weisen auf Survey-Daten beruhende Studien auch für die Bundesrepublik auf einen erheblichen Anteil von Personen hin, die Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen. Beim Arbeitslosengeld II, der heutigen Grundsicherung, wird von einem Non-take-up von 30-40 Prozent, bei der Grundsicherung im Alter sogar von 60 Prozent ausgegangen (Sielaff und Wilke 2022; Buslei et al. 2019).
Eckhardt nähert sich dem Thema durch eine qualitative Studie. Im Mittelpunkt steht die Auswertung episodischer Interviews mit elf Personen zwischen 21 und 69 Jahren, die einen bestehenden Anspruch auf Sozialleistungen (vorwiegend Arbeitslosengeld II/Hartz IV) nicht einlösen. Dabei wählt sie eine subjektorientierte Perspektive. Sie nähert sich der Frage also von den Wissensbeständen und Deutungen der Personen, die die Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Es ist eine Perspektive, die sich z. B. im Anschluss an Vobruba (2009) und Bareis, Cremer-Schäfer und Klee (2015) als eine Perspektive „von unten“ verstehen lässt und die nur selten in der Forschung berücksichtigt wird. Dabei könnten Deutungsmuster und Handlungsweisen der Adressat*innen von Sozialpolitik der Dominanz funktionalistischer Ansätze in der sozialpolitischen Forschung etwas entgegensetzen.
Subjekte im transformierten Sozialstaat
Ihre rund 300 Seiten umfassende Untersuchung beginnt Eckhardt mit einem sozialgeschichtlichen Kapitel entlang der zentralen Kategorie der (Hilfe-)Bedürftigkeit. Ihr Fokus liegt dabei auf der Transformation des Sozialstaats der letzten 30 Jahre, die Eckhardt mit den Stichworten Neoliberalisierung und Aktivierung kennzeichnet. In der neuen Konstellation sind es die Individuen, die für die gesellschaftlichen Strukturen verantwortlich gemacht werden, und nicht umgekehrt.
Die Transformation wird aber keinesfalls allein in veränderten Institutionen, Leistungen und zugehörigen Regelungen deutlich, sondern geht mit veränderten Subjektivierungen einher. Subjekte und gesellschaftliche Strukturen sind also aufs Engste miteinander verbunden: der transformierte Sozialstaat bringt bestimmte Subjekte hervor und wird andersherum auch selbst erst durch veränderte Subjekte Wirklichkeit. Eckhardt bestimmt das Verhältnis zwischen Sozialstaat und Bedürftigen als ein „Wechselspiel zwischen Unterwerfungs- und Freiheitspraxen“ (72), in denen sich auch eigensinnige Verhaltensweisen und Wahrnehmungen des Sozialstaats entwickeln. Sie argumentiert hier sowohl mit den Klassiker*innen Foucault und Butler als auch mit wissenssoziologischen Annahmen von Berger und Luckmann, Poferl und Schröer oder Bosančić.
Fallanalysen
Den Hauptteil der Arbeit nehmen elf Fallstudien ein (Kapitel 7). Die Personen befinden sich in unterschiedlichen sozialen Positionen, vom konservativ-etablierten Milieu über das traditionelle und das moderne Prekariat bis hin zur kulturellen Avantgarde reicht ihre Zuordnung. Da ist z. B. Marlene Dutte (Namen sind pseudonymisiert), die vor dem Eintritt in die Rente ein Jahr auf Sozialleistungen verzichtet hat. Sie hat 34 Jahre als Beiköchin gearbeitet und war nach einer Insolvenz ihres Arbeitgebers auf Sozialleistungen angewiesen. Die immer wieder neuen Nachfragen von Arbeitsagentur und Jobcenters nach Bargeld, Schmuck, Autos oder teuren Gemälden, die Aufforderungen Dokumente beizubringen, das „Geschubse“, die Behandlung „wie so´n Hund“ (151), die sie als entmenschlichend erlebt, führen schließlich zum Abbruch der Inanspruchnahme.
Oder da ist der 56-jährige Christian Penck, der sich schon in der DDR in Opposition zu staatlichen Anforderungen gesehen hat. Seinen Anspruch auf aufstockende Grundrente lehnt er entschieden ab, weil er befürchtet, wieder in das System zu geraten, das er als Hauptauslöser eines psychischen Zusammenbruchs (mit Burn-Out, schwerer Depression und stationärem Aufenthalt) ansieht. Das Machtgefälle im Jobcenters beschreibt er folgendermaßen: „Da haste manchmal Leute sitzen, die denken, sie sind Halbgötter. Und du bist der letzte Scheiß.“ (180). Fall für Fall geht Eckhardt hier die Biographien durch, die einen reichen Einblick in Lebensführungen in sozialstaatlicher Rahmung geben.
Muster des Verzichts
Danach verdichtet Eckhardt ihre Erkenntnisse spannend und schlüssig in fünf „Mustern des Verzichts“. Sie rekonstruiert zentrale sozialstaatliche Deutungen, auf die sich die Personen beziehen und zu denen sie sich positionieren.
Während im ersten Muster der „Affirmation und Zurückweisung entgrenzter Staatlichkeit“ die sozialstaatliche Ordnung grundlegend anerkannt wird und sich die Personen nur selber als „nicht-reguläre“ (283) Hartz-IV-Empfänger*innen sowie gleichzeitig als „leistungsfähig und leistungsbereit“ (284) entwerfen, wird im zweiten Muster der „solitären Distanz zu sozialstaatlichen Zwängen“ „das ,Spiel‘ um Geben und Nehmen nicht mitgespielt und die wahrgenommenen Formierungsversuche werden negiert“ (286). Es zeigt sich eine tiefe Skepsis gegenüber dem Sozialstaat und seinen Kategorisierungen und Regelungen, die in einem schwierigen Kampf um das Behaupten der Selbstbestimmung mündet.
Im dritten Muster der „emanzipativen Versicherung der Menschenwürde“ erleben Personen die „Verantwortungszuweisung als für die eigene Lage selbst verantwortlich“ zu sein aufgrund biografischer Brüche als völlig deplatziert. Sie befinden sich in einem harten Kampf um die Behauptung einer „gewissen Normalität“ (288) gegen die Gefahren des sozialen Ausschlusses. Das vierte Muster der „systemkritischen Demonstration der Alternative“ ist gekennzeichnet durch die Suche nach kollektivem öffentlichen Protest. Hierunter verbirgt sich also politisches Handeln: „Nur auf Sozialleistungen verzichtend ist es so möglich, expansiv zu demonstrieren, dass ein alternatives Leben möglich ist“ (291).
Auch das fünfte Muster, das Eckhardt als „kunstvoll-asketischen Beweis des Unrechts“ definiert, ist durch eine Form des Protests gekennzeichnet; doch wendet er sich nach innen, auf die Einzelnen, und greift zu künstlerischen Mitteln. Askese wird zum zentralen Begriff der Sorge um sich selbst und zeigt sich z. B. im akribischen Kümmern „sich täglich waschen zu können, gut zu essen und keine Suchtmittel zu sich zu nehmen“ (292).
Hinter Nicht-Inanspruchnahme verbergen sich also ganz unterschiedliche Selbstpositionierungen und Deutungen des Sozialstaats. „Der Verzicht der Bedürftigen stellt sich […] als heterogen und von Widersprüchen durchzogen dar, ist oft geprägt durch Formen des eigensinnigen Ausscherens und der Umdeutung vorherrschender Wissensordnungen und trägt ebenso Elemente der Entsprechung von normativer Ordnung“ (294). In einem grundlegenden Bezug entsprechen sich aber alle Interviewten - in der Ablehnung der Zuweisung von Bedürftigkeit. Als bedürftig wollen sie nicht angesehen werden, Bedürftigkeit geht für sie einher mit Abhängigkeit, Passivität und Unmündigkeit.
In der genaueren Analyse dieses „Bedürftigkeitsdispositivs“ mündet Eckhardts Untersuchung und weist zuletzt auf eine Ambivalenz hin: Nichtinanspruchnahme ist auch ein (ungewollter?) Effekt der dominanten sozialstaatlichen Aktivierungslogik. Denn diese negiere die grundsätzliche Bedürftigkeit des Menschen und entkoppele den Menschen damit von seiner Umwelt. In der Annahme eigener und fremder Bedürftigkeit sieht Eckhardt einen Weg der Weiterentwicklung von Sozialstaatlichkeit.
Strukturierung von Ausschluss
Durch die Rekonstruktion der Muster und damit verbundenen Deutungen des Sozialstaats gelingt es Eckhardt, den Sozialstaat „von unten“ zu verstehen und Strukturforschung aus subjektorientierter Perspektive zu betreiben – fernab aller programmatischen Rhetorik.
Mit dieser Untersuchung trägt Eckhardt zweifellos neues Wissen zum Verstehen des Sozialstaats in einem bisher viel zu wenig erforschten Feld bei. Mit ihrem Fokus auf Deutungen des Sozialstaats bleiben aber auch viele Fragen offen: Inwieweit trägt der Sozialstaat ganz schlicht durch die zahlreichen Barrieren, die er aufbaut, zur Nichtinanspruchnahme bei und welche immanenten Logiken kommen dadurch zum Ausdruck? Auch könnte vertieft werden, welche konkreten Ausschlüsse und Bearbeitungen mit der Nichtinanspruchnahme verbunden sind – zumal die teils dramatischen Folgen immer wieder aufblitzen, z. B. die massiven materiellen Einschränkungen, die Sprach- und Machtlosigkeiten („konsequentes Haushalten bis zur Ermangelung grundlegender Bedürfnisse“, „Überleben im Moment [wird] zur Maxime“, 288). Schließlich würden mit einem solchen Fokus wahrscheinlich auch die Haushalte und sozialen Kontexte, in denen die Personen ihren Alltag führen, eine größere Rolle spielen und damit die klassenbezogenen Konsequenzen deutlicher werden: Denn die Nicht-Nutzenden sind auch in der Nicht-Nutzung ungleich.
Literatur
Bareis, Ellen; Cremer-Schäfer, Helga; Klee, Shalimar (2015): Arbeitsweisen am Sozialen. Die Perspektiven der Nutzungsforschung und der Wohlfahrtsproduktion „von unten“. In: Bareis, Ellen; Wagner, Thomas (Hg.): Politik mit der Armut. Europäische Sozialpolitik und Wohlfahrtsproduktion „von unten“. Münster: Westfälisches Dampfboot, 310-340.Buslei, Herman; Geyer, Johannes; Haan, Peter; Harnisch, Michelle (2019): Starke Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung deutet auf eine hohe verdeckte Altersarmut. DIW Wochenbericht 2019/49.
Sielaff, Mareike; Wilke, Felix (2022): Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen. Welche Rolle spielt die soziale Einbettung? Vortrag auf der DIFIS Social Policy Biennale, 06.10.2022, Bremen.
Vobruba, Georg (2019): Die Gesellschaft der Leute. Kritik und Gestaltung der sozialen Verhältnisse. Wiesbaden: Springer VS.
Christoph Gille 2023, Sozialstaatsforschung von unten, in: sozialpolitikblog, 23.03.2023, https://difis.org/blog/?blog=55 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Christoph Gille ist Professor für Soziale Arbeit im Kontext von Armut und Ausgrenzung an der Hochschule Düsseldorf. Er ist Co-Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von Armut, Arbeits- und Wohnungslosigkeit, dem Zusammenspiel von Sozialer Arbeit und Sozialpolitik und akteursbezogenen Forschungsperspektiven.
Jennifer Eckhardt Spannungsfeld Nichtinanspruchnahme. Wenn Bedürftige auf den Sozialstaat verzichten. Beltz Juventa