sozialpolitikblog
Ein Einbahnstraßenschild. Es ist länglich, blau und in einem weißem großen Pfeil, der nach rechts zeigt, steht "Einbahnstraße".
Madeleine Hofmann, 10.11.2022

Einbahnstraße Generationensolidarität?

Wenn wir die Sozialpolitik der Bundesrepublik voranbringen wollen, müssen wir über Generationengerechtigkeit sprechen. Wie also sieht eine generationengerechte Sozialpolitik aus? 


„Jede Generation soll sich am besten um ihre eigene Rente kümmern.“

„Wenn junge Leute Teilzeit arbeiten wollen, sollen sie ihre Rente selbst finanzieren.“ Erst vor Kurzem wurden mir diese Aussagen bei einem Kongress auf dem Eröffnungspanel regelrecht entgegengeschleudert. Gerade beim Thema Rente wird in Diskussionen nämlich leider gerne vernachlässigt, was bei konstruktiven Dialogen über Gesellschaftspolitik unverzichtbar ist: der gute Ton, Logik, Fakten, Solidarität. Ausgerechnet Solidarität. Ausgerechnet bei der Rente. Wo unser Rentensystem doch auf dem Generationenvertrag basiert – und der wiederum eben gerade auf Solidarität.

Wann immer über Gerechtigkeit gesprochen wird, wird hitzig und emotional debattiert. Jeder Mensch entscheidet entsprechend seiner Erfahrungen, was er für gerecht oder ungerecht hält. Und Gerechtigkeit hat schließlich viele Aspekte. Es gibt (Un-)Gerechtigkeiten zwischen Geschlechtern, (Un-)Gerechtigkeiten zwischen Generationen, (Un-)Gerechtigkeiten zwischen Einkommensgruppen. Dies sind nur einige Beispiele – und sie alle sind nicht voneinander zu trennen. Schließlich ist niemand nur weiblich, nur alt oder nur reich. Genau wie es Ungerechtigkeiten nicht nur im Sozialsystem, sondern eben auch bei der Bildungs-, bei der Wohnungs- und der Klimapolitik gibt. Und auch diese Bereiche sind schließlich miteinander verbunden.

Um Fortschritte in einem Politikbereich zu erzielen, muss man sich nach und nach mit den einzelnen Konfliktlinien befassen, das Knäuel der Konflikte behutsam auseinander sortieren, Lösungen für die Konflikte finden, die zusammen mit den Lösungen für andere im Gesamtbild eine Verbesserung für möglichst viele Gruppen bedeuten. Wenn wir die Sozialpolitik der Bundesrepublik voranbringen wollen, müssen wir über Generationengerechtigkeit sprechen. Schließlich sollen verschiedene Generationen im erwerbsfähigen Alter Mitglieder der Generationen absichern, die nicht erwerbstätig sind. Wie also sieht eine generationengerechte Sozialpolitik aus?

Generationengerechte Sozialpolitik

Aus Generationensicht ist bei der Bandbreite an durch das Solidaritätsprinzip unterstützten Maßnahmen hierzulande erstmal für jeden und jede etwas dabei. Aus dem Topf, in den Bürger*innen und Staat einzahlen, wird schließlich sowohl zum Beispiel in die Rentenversicherung als auch ins Elterngeld investiert. Auch wenn es bei der Verteilung der angesparten Mittel große Unterschiede gibt. So hatte die Rentenversicherung laut Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 2021 einen Anteil von 29,1 Prozent an den gesamten Sozialausgaben – die Kinder- und Jugendhilfe hingegen nur 4,8 Prozent, Eltern- und Betreuungsgeld 0,7 Prozent. Doch so einfach lässt sich keine Generationenbilanz ziehen. Zum einen sind nicht alle Maßnahmen, die einer Gruppe zugutekommen auch nach ebendieser benannt. Zum anderen profitiert in unserem sozialen Bundesstaat nie jemand von einer ihm oder ihr zugutekommenden Leistungen allein, sondern nur von einem ganzheitlich funktionierenden System. Generationengerechte Sozialpolitik heißt also nicht, gleich viel Geld in Leistungen für jede Generation zu investieren (hier kämen wir im Übrigen auch in Definitionsnot beim Generationenbegriff), sondern mit dem investierten Geld das Überleben und Funktionieren unseres Sozialsystems für die Zukunft sicherzustellen.

 

Wie kann das aussehen? Nun, teure Rentenpakete sind zum Beispiel in der Regel ziemlich unsolidarisch, haben eine miese Kosten-Nutzen-Bilanz. Nicht nur halsen sie den jungen Generationen immense zukünftige Lasten auf; das viele Geld, das sie kosten, fehlt auch, um wirklich nachhaltig in unser Rentensystem zu investieren, um möglichst vielen Menschen eine bessere Absicherung zu garantieren. Statt die Tatsache, dass mit Rentengeschenken in einer alternden Gesellschaft leicht Wähler*innenstimmen zu gewinnen sind, wieder und wieder für Parteiinteressen auszunutzen, muss das Rentensystem von den Regierenden mit Weitblick behandelt werden. Eine Möglichkeit, bei Politiker*innen diesbezüglich ein Umdenken zu bewirken, könnte sein, Abgeordnete selbst in die gesetzliche Rentenversicherung mit einzubeziehen. Betroffenheit schafft Dringlichkeit.

 

Klar ist: Bei generationengerechter Sozialpolitik geht es ums Miteinander, nicht um ein Gegeneinander. Unser Pflegesystem führt es vor: Hier gehen falsche und zu niedrige Investitionen ganz deutlich zulasten aller Generationen. Schließlich leiden nicht nur diejenigen, die gepflegt werden müssen unter schlechten Bedingungen, sondern auch diejenigen, die für ebendieses System aufkommen müssen – ob mit Steuergeld, privaten Ersparnissen, um Angehörige zu versorgen, oder Zeit für häusliche Pflege, die wiederum für Erwerbsarbeit oder die eigene Gesundheit fehlt.

 

Ebenso deutlich zeigt sich die Abhängigkeit der Generationen bei der Armutsdebatte. Schlimm genug, dass jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut aufwächst. Doch wer als älterer Mensch glaubt, damit nichts am Hut zu haben, täuscht sich: Das Risiko, dass ein Kind, das in Armut aufwächst, im Erwachsenenalter arm bleibt, ist hoch, womit einhergeht, dass es nicht nur auch von Altersarmut bedroht sein wird, sondern möglicherweise in allen Lebensphasen durch staatliche Leistungen unterstützt werden muss – während es gleichzeitig selbst nicht in der Lage ist, in den Sozialtopf einzuzahlen. Wir alle sind also auf junge Generationen angewiesen, die nicht in Armut leben.

Politik für die jüngere Generation

Einigen der Herausforderungen für das Funktionieren unseres Sozialsystems können wir mit einer generationenübergreifenden Arbeitspolitik begegnen. Fangen wir damit an, das Mindestalter für den Mindestlohn abzuschaffen, Auszubildende und Praktikant*innen nicht von ihm auszuschließen. Damit wäre nicht nur den Betroffenen mit fairer Bezahlung und Wertschätzung geholfen, sondern auch all jenen, die sich über fehlende Fachkräfte und unbesetzte Ausbildungsplätze beschweren sowie letztlich allen, deren Wohlergehen auf einem funktionierenden sozialen Sicherungssystem beruht. In eine ähnliche Richtung geht eine strengere Regelung der Zulässigkeit von befristeten Arbeitsverträgen. Insbesondere sollte kein „sachlicher Grund“ für eine Befristung vorliegen, schlicht weil das entsprechende Arbeitsverhältnis an eine Ausbildung oder ein Studium anschließt. Die aktuelle Regelung führt dazu, dass junge Menschen überproportional häufig befristet angestellt sind – was häufig mit schlechteren Fortbildungs- und Beförderungschancen einhergeht sowie mit extrem eingeschränkter Planbarkeit im Privaten. Sei es auf dem Wohnungsmarkt, wo befristet Beschäftigte schlechtere Chance auf einen Mietvertrag oder Kredit haben, oder bei der Altersvorsorge, die eher auf der Strecke bleibt, wenn ungewiss ist, wie stabil das eigene Einkommen im Folgejahr sein wird. Als Solidargemeinschaft können wir uns diese Regelung schlicht nicht leisten. Sie wird auf dem derzeitig leergefegten Arbeitnehmer*innenmarkt nicht gebraucht, sondern schreckt im Gegenteil sogar ab. Wer lässt sich schließlich auf eine langjährige Ausbildung oder ein Studium ein, wenn am Ende quasi als Strafe dafür eine Befristung winkt? Dies sind nur einige Beispiele für Verbesserungen, die den Lebensstandard aller Generationen maßgeblich erhöhen können – und damit den Kontostand der Sozialkassen.

 

Die größte Gefahr für unseren Sozialstaat aber, ist Forderungen nachzugeben, wie denen auf dem Eröffnungspanel des Kongresses: Wenn wir fordern, man solle sich „selbst“ oder um „sein eigenes“ kümmern, erzeugen wir Vereinzelung statt Gemeinschaft, wollen wir mit den anderen nichts mehr zu tun haben, keine Verantwortung übernehmen. Ein solcher Gedanke passt nicht zum Sozialstaat, nicht zur Solidargemeinschaft und er ist keine Grundlage für einen langfristigen Vertrag zwischen den Generationen. Der besteht nämlich aus mehreren Parteien und funktioniert nur, wenn sich alle nicht nur ihrer Forderungen, sondern auch ihrer Pflichten bewusst sind.


Madeleine Hofmann 2022, Einbahnstraße Generationensolidarität?, in: sozialpolitikblog, 10.11.2022, https://difis.org/blog/?blog=31

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