Limitarismus: Reichtum als sozialpolitisches Problem
Der Limitarismus ist eine relativ neue Position innerhalb der Gerechtigkeitstheorie. Die Grundidee besteht darin, dass Akteure nicht nur reich, sondern auch zu reich sein können. Das ist immer dann der Fall, wenn ihr Reichtum auf normativ problematischen Grundlagen beruht oder normativ problematische Konsequenzen besitzt. Christian Neuhäuser diskutiert die Argumente für eine mögliche Begrenzung von Reichtum und für Reichensteuern unter Berücksichtigung des Konzeptes des Limitarismus.
Der Limitarismus ist eine relativ neue Position innerhalb der Gerechtigkeitstheorie. Die Grundidee besteht darin, dass Akteure nicht nur reich, sondern auch zu reich sein können. Das ist immer dann der Fall, wenn ihr Reichtum auf normativ problematischen Grundlagen beruht oder normativ problematische Konsequenzen besitzt. Der Ansatz wurde vor allem von Ingrid Robeyns (2017; 2022) entwickelt und wird inzwischen von einer Reihe von Autor*innen vertreten (Zwarthoed 2018; Neuhäuser 2018, 2019; Gough 2020; Timmer 2021). Es handelt sich nicht um eine vollständige Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, sondern vielmehr um eine Theorie mittlerer Reichweite, die mit verschiedenen allgemeineren Theorien vereinbar ist.
Argumente für Reichtumsbegrenzung
Robeyns hat zwei Reichtumsprobleme benannt. Erstens trägt Reichtum ab einem gewissen Punkt nichts mehr zum gelingenden Leben reicher Menschen bei. Dann lässt sich dieser Reichtum sehr viel besser nutzen, um wichtige unerfüllte Grundbedürfnisse anderer Menschen zu befriedigen. Das betrifft beispielsweise viele Bedürfnisse in Armut lebender Menschen. Da Reichtum für das gelingende Leben reicher Menschen selbst nichts leistet, hat er für sie keine auch nur annähernd gleichwertige Bedeutung. Robeyns (2017) zufolge spricht daher nichts dagegen, diesen Reichtum abzuschöpfen und für die Erfüllung dringlicher Grundbedürfnisse anderer zu nutzen.
Das zweite Problem mit Reichtum sieht Robeyns darin, dass reiche Akteure einen starken Einfluss auf politische Prozesse haben und damit die demokratische Grundidee unterwandern, dass die politische Stimme aller Bürger*innen gleich viel zählen sollte. Reiche Akteure können ihren Einfluss direkt durch Partei- und Wahlspenden ausüben oder Lobbyist*innen und Think Tanks finanzieren. Sie können auch über ihr Eigentum an privaten Medien politisch wirken. Darüber hinaus können sie ihre wirtschaftliche Macht nutzen, indem sie mit dem Abbau von Arbeitsplätzen und dem Export von Kapital drohen. Das alles gilt Robeyns (2022) zufolge für einzelne superreiche Akteure, aber auch für Gruppen reicher Akteure, die sich beispielsweise in Verbänden zusammenschließen.
Inzwischen sind noch eine Reihe von Argumenten für den Limitarismus hinzugekommen. In meinem Buch „Reichtum als moralisches Problem“ argumentiere ich, dass die gesamtgesellschaftliche Orientierung an Reichtum zu einer Statusgesellschaft führt, die der Selbstachtung der Menschen als gleichrangige Gesellschaftsmitglieder entgegensteht. Außerdem führt Reichtum nicht nur zu politischer, sondern auch zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Machtkonzentration, die mit dem republikanischen Gedanken der Gleichrangigkeit unvereinbar ist. Ein weiteres Argument für den Limitarismus verweist darauf, dass die politische Bearbeitung des Klimawandels mit erheblichen Kosten einhergeht und auch den Verzicht auf CO2-intensive Formen des Konsums erfordert. Die Begrenzung und Umverteilung von Reichtum kann daher dazu beitragen, eine effektive Klimapolitik wahrscheinlicher zu machen (Timmer 2021).
Ein großer Vorteil des Limitarismus besteht darin, dass es sich eben um keine sehr spezialisierte Theorie der ökonomischen Gerechtigkeit handelt, sondern er sich auf die Beschränkung von Reichtum konzentriert. Er ist daher mit republikanischen, egalitären, suffizienztheoretischen und auch linkslibertären Theorien der Gerechtigkeit vereinbar. Das hat unmittelbar Auswirkungen auf die mit dem Limitarismus verbundenen sozialpolitischen Forderungen. Diese Forderungen werden von der großen Mehrheit gerechtigkeitstheoretischer Positionen gestützt. Dem Limitarismus und seinen sozialpolitischen Konsequenzen stehen eigentlich nur rechtslibertäre und mit Blick auf Gerechtigkeit grundlegend skeptische Positionen kritisch gegenüber.
Reichensteuern
Die sozialpolitischen Konsequenzen des Limitarismus sind recht klar. Ab einer über die normativen Argumente bestimmten Grenze haben Menschen keinen Anspruch auf ihren Reichtum und er kann vollständig abgeschöpft werden. In der Theorie läuft das auf die Möglichkeit eines Spitzensteuersatzes auf Einkommen, Vermögen und Erbschaften von 100 Prozent hinaus (Robeyns 2017; Neuhäuser 2019). Obwohl die sozialpolitischen Konsequenzen des Limitarismus auf den ersten Blick sehr eindeutig erscheinen, gibt es auch drei Herausforderungen. Erstens ist es nicht leicht, die relevante Reichtumsgrenze festzulegen. Zweitens sind nicht beabsichtigte Nebenfolgen wohlfahrtstheoretischer Art zu berücksichtigen. Drittens ist mit einem erheblichen politischen Widerstand gegen sozialpolitische Reformen zu rechnen.
Das erste Problem besteht darin, dass verschiedene Argumente für den Limitarismus auch verschiedene Reichtumsgrenzen nahelegen und oft nicht klar ist, wie genau diese Grenze zu bestimmen ist. Wann genau trägt Reichtum nichts mehr zum gelingenden Leben bei, wann gefährdet er die gleiche wechselseitige Achtung aller Gesellschaftsmitglieder und wann unterläuft er die Demokratie? Eine Möglichkeit mit diesem Problem umzugehen, besteht in einem vorsichtigen Ansatz, der negativ und induktiv verfährt (Neuhäuser 2018). Dieser Ansatz geht von konkreten Fällen aus, in denen diese Probleme auf jeden Fall eintreten. Das betrifft dann beispielsweise den Einfluss superreicher Akteure auf demokratische Prozesse. Es betrifft Formen des obszönen Luxuskonsums, wie mit Gold lackierte Steaks, um ein besonders krasses Beispiel zu nennen, die keinen Rückhalt in irgendeiner wohlbegründeten Vorstellung des gelingenden Lebens haben. Es betrifft auch soziale Praktiken, die klarerweise Statushierarchien begründen, wie beispielsweise Gated Communities. Über diese Fälle lassen sich erste relativ hohe Grenzen festlegen, die dann über weitere sozialwissenschaftliche Studien sukzessive geschärft und dabei schrittweise herabgesetzt werden können.
Das zweite Problem geht darauf zurück, dass Steuern unerwünschte negative Effekte haben können. Reiche Menschen könnten beispielsweise ihre wirtschaftlichen Aktivitäten einstellen und nicht weiter investieren, wenn sie wissen, dass die erwarteten Gewinne stark oder sogar vollständig abgeschöpft werden. Auf dieses Problem gibt es drei Antworten. Erstens ist die empirische Evidenz für diese Behauptung dünn. Viele Menschen sind auch aus anderen Gründen als der Profitmaximierung wirtschaftlich aktiv. Zweitens ist unklar, wie groß der schädigende Effekt in konkreten Fällen wirklich wäre. Eine hohe Steuer könnte beispielsweise auch dazu beitragen, dass Oligopole und quasimonopole Strukturen aufgebrochen werden. Drittens kann es durchaus sein, dass es in bestimmten Fällen wirtschafts- und sozialpolitisch klüger ist, die Steuer nicht auf hundert Prozent zu setzen. Dann ist jedoch immer noch eine deutlich höhere Spitzensteuer möglich, als gegenwärtig veranschlagt (Robeyns 2019). Im Falle des Erbes von Unternehmen sind darüber hinaus abmildernde Lösungen wie zinslose Staatskredite auf die anfallende Steuerlast möglich (Neuhäuser 2022).
Entscheidend ist aber das dritte Problem des fehlenden politischen Willens und der zu erwartende Widerstand gegen höhere Einkommens- und vor allem Vermögens- und Erbschaftssteuern. Derzeit fehlt es an einer wirkungsmächtigen politischen Bewegung, die beispielsweise eine aus limitaristischer Sicht angemessen hohe Erbschaftssteuer zu einer echten politischen Option macht. Zwar gibt es verschiedene soziale Bewegungen, wie Tax Me Now und das Netzwerk Steuergerechtigkeit sowie vereinzelte parteipolitische Diskussionen und ein relativ hohes akademisches Interesse an der Frage der Erbschaftssteuer. Aber es wird kaum Breitenwirkung entfaltet. Die Ursachen hierfür sind auch noch nicht gut untersucht. Es könnte in der Ideologie des neoliberalen Paradigmas, an gezielter Falschinformation über den Kreis der Betroffenen, elitären Diskursstrukturen oder allgemein der Komplexität des Themas liegen.
Für den Limitarismus als ökumenische Gerechtigkeitstheorie mit sozialpolitischem Anspruch ist es daher entscheidend, dieses dritte Problem der großen Divergenz zwischen einem relativ breiten Konsens in der akademischen Gerechtigkeitstheorie und den Überzeugungen der Wahlbevölkerung zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit besser zu verstehen. Denn der Großteil der Wahlbevölkerung wäre von einem höheren Steuersatz für Reiche ja gar nicht betroffen. Das betrifft beispielsweise eine Erbschaftssteuer. Hier ist die Frage noch weitestgehend unbeantwortet, ob die Mehrheit der Menschen aufgrund faktisch falscher Überzeugungen, ideologischer Indoktrination, machtpolitischer Verhältnisse oder reflektierter Gerechtigkeitsvorstellungen eine kritische Haltung gegenüber solch einer Steuer hat. Für effektives politisches Handeln für mehr Gerechtigkeit ist es natürlich entscheidend zu wissen, wo man überhaupt ansetzen muss.
Literatur
Gough, Ian (2020): Defining Floors and Ceilings: The Contribution of Human Needs Theory, Sustainability: Science, Practice and Policy, 16(1), pp. 208–19.Neuhäuser, Christian (2018): Reichtum als moralisches Problem. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Neuhäuser, Christian (2019): Wann ist man zu reich? Über Gier, Neid und Gerechtigkeit. Ditzingen: Reclam Verlag.
Neuhäuser, Christian (2022): Inheritance tax, justice and family businesses. In Hans-Christoph Schmidt am Busch, Daniel Halliday & Thomas Gutmann (Eds.), Inheritance and the Right to Bequeath. Legal and Philosophical Perspectives (pp. 198-214). London: Routledge.
Robeyns, Ingrid (2017): Having too much. In Jack Knight & Melissa Schwartzberg (Eds.), Wealth - Yearbook of the American Society for Political and Legal Philosophy (pp. 1–44). New York: New York University Press.
Robeyns, Ingrid (2019): What, if Anything, is Wrong with Extreme Wealth?, Journal of Human Development and Capabilities 20(3), pp. 251–266.
Robeyns, Ingrid (2022): Why Limitarianism?, Journal of Political Philosophy, 30(2), pp. 249-270.
Timmer, Dick (2021): Limitarianism: Pattern, Principle, or Presumption?, Journal of Applied Philosophy, 38(5), pp. 760-773
Zwarthoed, Danielle. 2018. Autonomy-Based Reasons for Limitarianism, Ethical Theory and Moral Practice, 21(5), pp. 1181–1204.
Christian Neuhäuser 2023, Limitarismus: Reichtum als sozialpolitisches Problem, in: sozialpolitikblog, 16.03.2023, https://difis.org/blog/?blog=54 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Christian Neuhäuser lehrt praktische Philosophie an der TU Dortmund und arbeitet zu Theorien der Würde, Verantwortung und Gerechtigkeit.