Die Kürzung des Elterngelds betrifft wenige und empört viele
Die Streichung des Elterngelds für wohlhabende Eltern hat hohe Wellen in der öffentlichen Debatte geschlagen. Welche zentralen Argumentationslinien die Debatte kennzeichnen, ob sie empirisch stichhaltig sind und warum der Protest gegen die Reform breite Unterstützung bekam, analysiert Prof. Dr. Almut Peukert von der Universität Hamburg.
In der Geschichte des Elterngeldes wurde schon mehrfach der Kreis der Anspruchsberechtigten verringert. Seit dem 1. Januar 2011, also bereits vier Jahre nach Einführung des Elterngeldes, wird das Elterngeld auf Arbeitslosengeld II, Sozialleistungen und den Kinderzuschlag angerechnet. Parallel dazu wurde eine Einkommensgrenze von 500.000 Euro für Paare und 250.000 Euro für Alleinerziehende eingeführt. Im Jahr 2021 wurde diese auf die aktuell geltende Grenze von 300.000 Euro für Paare und 250.000 Euro für Alleinerziehende gesenkt. Bei dem aktuellen Kürzungsvorschlag sollen nun ab Januar 2024 nur noch Eltern mit einem zu versteuernden Haushaltsjahreseinkommen von bis zu 150.000 Euro Anspruch auf Elterngeld haben. Dies entspricht in etwa einem Bruttojahreseinkommen von 180.000 bis 200.000 Euro.
Ziele und Realitäten des Elterngeldes
Seit 2007 gibt es in Deutschland das Elterngeld als staatliche Lohnersatzleistung mit einer Lohnersatzrate zwischen 65 und 100 Prozent des vorherigen monatlichen Nettoerwerbseinkommens, mindestens jedoch 300 und maximal 1.800 Euro. Mit der Einführung des Elterngeldes waren Ziele wie die Erhöhung der Geburtenrate, die Sicherung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des betreuenden Elternteils und die Förderung einer egalitären Aufteilung der Care-Arbeit durch die Einführung der Partnermonate verbunden (ausführlich Auth/Peukert 2022). Empirisch zeigt sich, dass Mütter häufiger und länger Elternzeit und Elterngeld in Anspruch nehmen (WSI GenderDatenPortal 2023). Gleichwohl steigt der Anteil der Väter, die mindestens zwei Monate Elternzeit nehmen, langsam. So betrug der Anteil der Väter an allen Elterngeldbezügen 26,1 Prozent im Jahr 2022; bei 50 Prozent würden Väter und Mütter gleich häufig Elterngeld beziehen (Statistisches Bundesamt 2023).
Vier Argumente gegen die Reform auf dem Prüfstein
Die vehemente Kritik an der geplanten Einschränkung der Leistungsberechtigten, die aus verschiedensten Richtungen geäußert wurde, basiert auf vier zentralen Argumentationslinien.
Erstens wird argumentiert, dass die Kürzung einen existenziellen Wohlstandsverlust für die betroffenen Eltern darstellt (z. B. Eltern.de 2023). Allerdings bedeuten 150.000 Euro zu versteuerndes Jahreseinkommen ein Monatseinkommen von über 12.500 Euro vor Geburt des Kindes. Das Elterngeld mit dem Maximalbetrag von 1.800 Euro ersetzt in diesen Fällen nur einen sehr geringen Teil des Haushaltseinkommens. Die Familien wären weiterhin verhältnismäßig wohlhabend. Diese Kritik verschiebt damit die Rahmung von tatsächlich betroffenen wohlhabenden Familien hin zu Mittelschichtsfamilien, deren Einkommen unterhalb der neuen Grenzen liegen.
Es wird zweitens argumentiert, dass Eltern mit entsprechend hohen Haushaltseinkommen als ‚Leistungsträger*innen‘ nicht hinreichend in ihrer Familiengründung unterstützt und anerkannt werden. Dahinter steht die Frage, welche Menschen staatlich (nicht) unterstützt werden, Kinder zu bekommen. Allerdings überzeugt es auch nicht, dass sich diese Gruppe wegen der fehlenden 1.800 Euro für maximal 14 Monate gegen eine Familiengründung oder ein weiteres Kind entscheidet.
Als drittes Argument wird angeführt, dass das Elterngeld die ökonomische Unabhängigkeit der Elternteile gewährleisten soll. Dies betrifft momentan vor allem berufstätige Mütter, die durch das Elterngeld von ihrem Partner wirtschaftlich unabhängiger bleiben können. Laut BMFSFJ sind circa 60.000 Paare von der Kürzung betroffen, wenn man die derzeitigen Elterngeldbezieher*innen zugrunde legt, und damit rund 4,5 Prozent aller elterngeldbeziehenden Paare. Betrachtet man hingegen, wie viele Paare bis 50 Jahre sich insgesamt in dieser Einkommensgruppe befinden, dann könnten bis zu 435.000 Paare von der Kürzung betroffen sein (IW 2023), sofern sie sich alle für eine Familiengründung oder -erweiterung entscheiden. Das gleichstellungspolitische Anliegen der Gewährleistung von ökonomischer Unabhängigkeit wird durch die Kürzung für diesen (kleinen) Teil von Elternpaaren konterkariert. Damit überzeugt das Argument. Zu bedenken ist allerdings, dass es sich um eine relativ kleine Gruppe der Elterngeldbezieher*innen mit einem hohen Lebensstandard handelt.
Viertens wird aus verschiedenen (politischen) Richtungen argumentiert, dass die Kürzung eine ungleiche Arbeitsteilung zwischen den Eltern fördert, weil die betroffenen Frauen aus dem Arbeitsmarkt und in die familiale Care-Arbeit gedrängt würden. Grundlage dieser Argumentation ist die Annahme, dass das Elterngeld erfolgreich die Gleichstellung von Müttern und Vätern fördert (ausführlicher dazu Auth/Peukert 2022) und die Kürzung dies infrage stellt. Allerdings spricht viel dafür, dass das Elterngeld für hohe Haushaltseinkommen auch bisher nicht entscheidend in den Aushandlungen zur Aufteilung der Elternzeit ist. Bei den potenziell betroffenen Paaren ist die Einkommensverteilung sehr ungleich: Mit ca. 140.000 Euro verdienen Männer im Durchschnitt das Doppelte im Vergleich zu ihren Partnerinnen mit ca. 65.000 Euro im Jahr (IW 2023). Diese Daten lassen erwarten, dass die Mehrzahl der Paare mit ungleicher Einkommensverteilung traditionalen, geschlechterungleichen Zuschreibungen von Erwerbs- und Familienarbeit und einer ökonomischen Logik folgen. Wenn der Mann (deutlich) mehr verdient als seine Partnerin, wird diese wahrscheinlich den Großteil der Kinderbetreuung übernehmen – mit und ohne Elterngeld.
Warum unterstützen auch Nicht-Betroffene die Petition „NEIN zur Elterngeld-Streichung“?
Mit der aktuellen Einschränkung des Kreises der Anspruchsberechtigen hat sich Bundesfamilienministerin Lisa Paus gegen eine pauschale Kürzung der Höhe des Elterngeldes für alle Anspruchsberechtigten entschieden. Die Petition „NEIN zur Elterngeld-Streichung“ hatte innerhalb von drei Tagen mehr als 400.000 Unterschriften gesammelt und damit mehr Leute mobilisiert als diejenigen, die von der Kürzung betroffen sind. Die vier zentralen Argumente gegen eine solche Reform des Elterngeldes halten einer näheren Prüfung kaum stand. Wie erklärt sich also die breite Unterstützung für die Petition „NEIN zur Elterngeld-Streichung“?
Meine These ist, dass sich hier verschiedene Problemlagen verbinden: Ein ohnehin politisch umstrittenes Thema trifft auf Enttäuschungen einer medial gut mobilisierbaren, gebildeten Mittelschicht über die Familienpolitik. Diese Enttäuschung speist sich aus Frust von Eltern über mangelnde Kita-Plätze, chronische Einschränkungen der Betreuungszeiten wegen Fachkräftemangel, mangelnde Qualität in der Kita-Betreuung und nicht zuletzt aus der Erschöpfung durch die politische Ignoranz gegenüber Familien während der COVID-19-Pandemie (Bücker 2023). Zudem trifft es (werdende) Eltern ab Januar 2024, die also bereits mit dieser staatlichen Leistung geplant haben, das heißt, es entsteht für die betroffenen wie für die übrigen Eltern der berechtigte Eindruck, dass sie sich nicht auf staatliche Leistungen in ihrer Familienplanung verlassen können.
Elterngeld nicht weiter isoliert diskutieren
Um die Planungssicherheit von Familien zu erhöhen, kann die Politik noch kurzfristig reagieren. Wenn Anfang Dezember der Bundestag den Bundeshaushalt für 2024 beschließt, kann die Verringerung der Anspruchsberechtigten erst ab 2025 oder zumindest ab Mitte 2024 umgesetzt werden, sodass betroffene Familien dies einplanen können.
Langfristig ist eine grundsätzliche Reform des Elterngeldes gefragt, die sozial-, familien- und gleichstellungspolitisch umfassender denkt (Wrohlich 2023). Dies betrifft insbesondere die Anhebung des Mindest- und Maximalbetrages, die paritätische Gestaltung der Elterngeldmonate sowie eine Orientierung an den Lebenshaltungskosten, die Berücksichtigung von Vermögen und geleisteter Care-Arbeit bei der Berechnung des Elterngeldes. Dazu kommen vielfältige weitere Aufgaben für die Bundesregierung: die Einführung der Kindergrundsicherung (nicht als Sparmodell) und der Familienstartzeit (der ‚Vaterschaftsurlaub‘ ist gemäß der EU-Richtlinie 2019/1158 ohnehin fällig), die Reform des Ehegattensplittings, die politische Realisierung einer qualitativ guten und quantitativ ausreichenden Betreuung für Kinder vom Kita- bis zum Grundschulalter durch fair entlohnte Fachkräfte und politische Lösungen für die Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern.
Statt einer fragmentarischen Elterngelddiskussion ist eine umfassende Diskussion notwendig, wie wir in Deutschland in Zukunft sozial-, familien- und gleichstellungspolitisch familiale Sorgearbeit ermöglichen und geschlechtergerecht wie sozial gerecht gestalten.
Literatur
Auth, Diana & Peukert, Almut (2022). Gender Equality in the Field of Care: Policy Goals and Outcomes During the Merkel Era. German Politics, 31(1), 177–196. https://doi.org/10.1080/09644008.2021.2007884.
Bücker, Teresa (2023, 6. Juli). Ist es radikal, das Elterngeld für Reiche zu streichen? Süddeutsche Zeitung Magazin. Zugriff am 21. September 2023 unter https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale/teresa-buecker-elterngeld-kuerzung-kindergrundsicherung-92907.
Eltern.de (2023, 17. Juli). Elterngeld-Kürzung: So denken Paare und Familien über die Streichung. Zugriff am 21. September 2023 unter www.eltern.de/familie-urlaub/beruf-und-finanzen/elterngeld-kuerzung---nun-sollen-wir-noch-mehr-benachteiligt-werden--13552140.html.
Institut der deutschen Wirtschaft (2023). Elterngeld: Neue Grenze ist zu knapp bemessen. Zugriff am 26. September 2023 unter www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/martin-beznoska-wido-geis-thoene-neue-grenze-ist-zu-knapp-bemessen.html.
Statistisches Bundesamt (2023). Elterngeld 2022: Väteranteil steigt weiter auf 26,1 %. Pressemitteilung Nr. 123. Wiesbaden. Zugriff am 26. September 2023 unter www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/03/PD23_123_22922.html.
WSI GenderDatenPortal (2023). Sorgearbeit. Zugriff am 29. September 2023 unter www.wsi.de/de/sorgearbeit-14618.htm.
Wrohlich, Katharina (2023). Elterngeld: Stärkere gleichstellungspolitische Ausrichtung wünschenswert. ifo Schnelldienst, 76(9), 9-11.
Almut Peukert 2023, Die Kürzung des Elterngelds betrifft wenige und empört viele, in: sozialpolitikblog, 04.10.2023, https://difis.org/blog/?blog=79 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Almut Peukert ist Juniorprofessorin für Soziologie, insb. Arbeit, Organisation und Gender am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Careforschung, Geschlechtersoziologie und Wohlfahrtsstaatenforschung. Gemeinsam mit Wolfgang Menz leitet sie derzeit den Hamburger Forschungsverbund „Sorgetransformationen“.
Bildnachweis: Fany Fazii, Die Fotogräfinnen