Rechtsanspruch auf Ganz­tags­betreuung im Grund­schul­alter – alle Eltern im Blick behalten
Fachkräftemangel und finanzielle Defizite erschweren die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Betreuung für Kinder im Grundschulalter. Doch statt am Rechtsanspruch zu wackeln, sollten die Bedarfe von Eltern besser verstanden werden, finden die Autorinnen des neu erschienenen DJI-Kinderbetreuungsreports, Katrin Hüsken und Kerstin Lippert.
Kinder in Deutschland haben ab Vollendung des ersten Lebensjahres bis zur Einschulung einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung. Gerade in den Jahren vor der Einschulung machen laut Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) fast alle Eltern von dem Anspruch Gebrauch (94 Prozent der Eltern von Vierjährigen und 95 Prozent der Eltern von Fünfjährigen). Mit dem Eintritt in die Schule ändert sich die Situation. Der verpflichtende Schulunterricht endet an deutschen Grundschulen häufig bereits mittags. Viele Eltern nutzten bis zur Einschulung jedoch Betreuungsangebote bis in den Nachmittag hinein und haben ihre Erwerbstätigkeit und ihren Familienalltag entsprechend eingerichtet. Diese Eltern stehen nun vor dem Problem, eine neue Betreuungslösung für ihr Kind zu finden.
Vor weitere Herausforderungen stellt sie dabei die Angebotslandschaft für Schulkinder, die im Vergleich zum vorschulischen Bereich deutlich heterogener ist. Neben Horten als Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und (offenen, teilgebundenen oder gebundenen) Ganztagsschulen gibt es regional sehr unterschiedlich organisierte kürzere Angebote, wie beispielsweise Übermittagsbetreuungen oder verlässliche Grundschulen, die Unterricht und Betreuung von Kindern bis 13 Uhr sicherstellen. Für eine Verbesserung der Situation der Eltern von Grundschulkindern soll der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter sorgen, der ab 2026 stufenweise eingeführt wird.
Anders als bei Kindern vor der Einschulung, für die der konkrete Umfang des Betreuungsanspruchs vom Gesetzgeber nicht geregelt wurde, wurde im Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) ein Anspruch in Höhe von acht Stunden an fünf Tagen pro Woche festgelegt. Außerdem richtet sich der Rechtsanspruch auf eine Bildung und Betreuung in Horten und Ganztagsschulen. Mit diesen Formaten werden qualitativ hochwertige Angebote verbunden, wobei die Diskussion, was darunter zu verstehen ist, weiterhin anhält. Aktuell gilt für Horte ein Fachkräftegebot, während für den schulischen Ganztag genauso wie für die Angebote der Übermittagsbetreuung einheitliche Qualifikationsstandards für das Personal fehlen.
Betreuungsangebote wurden ausgebaut, doch der Bedarf wird nicht gedeckt
In der DJI-Kinderbetreuungsstudie (KiBS) gaben im Frühjahr 2022 73 Prozent der befragten Eltern eines Grundschulkindes an, für ihr Kind ein über den Unterricht hinausgehendes Betreuungsangebot nutzen zu wollen. Dieser Anteil beschreibt den Gesamtbedarf an außerunterrichtlichen Angeboten bei Eltern von Kindern im Grundschulalter und erfasst nicht nur Ganztagsbetreuungen, sondern auch kürzere Angebote wie die Übermittagsbetreuung. Im selben Jahr besuchten 68 Prozent der Grundschulkinder ein solches Angebot. Jede zwanzigste Familie (fünf Prozent) hatte demnach zwar einen Bedarf an einem Angebot, konnte aber keines nutzen.
Der Anteil der Eltern mit einem ungedeckten Bedarf hat sich in den vergangenen Jahren dank des fortschreitenden Ausbaus der außerunterrichtlichen Angebote verringert. Allerdings zeigen die KiBS-Befunde auch, dass nicht alle Familien die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu einem Betreuungsangebot haben. Gerade Familien mit Migrationshintergrund oder einem niedrigeren Bildungsabschluss haben Schwierigkeiten, ihren Betreuungswunsch in eine tatsächlichen Nutzung umzusetzen. Zusätzlich ist nach Berechnungen der TU Dortmund auf Basis der 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung für Ostdeutschland bis 2024 und für Westdeutschland bis 2027 mit einem Anwachsen der Zahl der Grundschulkinder zu rechnen. Daher sind weitere Ausbaubemühungen nötig, um zumindest das aktuelle Versorgungsniveau in Zukunft beibehalten oder verbessern zu können.
Ist der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung die Lösung?
Die politische Diskussion um den Ausbau der Bildungs- und Betreuungsangebote für Grundschulkinder ist sehr stark auf den Ganztag fokussiert. Der Ganztagsbedarf, also der Anteil der Eltern, die entsprechend der Vorgaben im GaFöG eine ganztägige Betreuung wünschen, hat sich seit 2020 kaum verändert. Im Jahr 2022 lag er bei 64 Prozent. Jedoch belegen die KiBS-Daten seit mehreren Jahren, dass sich einige Eltern – insbesondere in Westdeutschland – eine Betreuung in einem deutlich geringeren Umfang wünschen und auch nutzen. So lag etwa der Bedarf an einer Übermittagsbetreuung bei elf Prozent in Westdeutschland und zwei Prozent in Ostdeutschland. Sie wollen also, zumindest derzeit, zwar eine unterrichtsergänzende Betreuung, aber keine ganztägige.
Die Tücken der Berechnung fehlender Plätze
Verschiedene Untersuchungen beschäftigten sich in den vergangenen Jahren mit der Frage, wie viele Plätze geschaffen werden müssen, um den Rechtsanspruch erfüllen zu können. Dazu wird in einem ersten Schritt zumeist der Anteil der Kinder, die ein Angebot nutzen, dem Anteil der Eltern mit Bedarf gegenübergestellt. Doch es kommt darauf an, wie man vergleicht: Wird dabei, wie in der im November 2023 veröffentlichten Studie des IW, abgeglichen, wie viele Eltern von Grundschulkindern aktuell eine Ganztagsbetreuung in Ganztagsschulen und Horten in Anspruch nehmen und wie viele Eltern noch generellen Bedarf an einer Betreuung haben, also auch an kürzeren Betreuungsformen, führt dies zu einer nicht unerheblichen Überschätzung des Ausbaubedarfs. In seiner Publikation kommt das IW zu dem Ergebnis, dass im Schuljahr 2021/2022 für 18 Prozent der Grundschulkinder Ganztagsbetreuungsplätze fehlten – was rund 529.000 Plätzen entspräche. Die Zahl fehlender Ganztagsplätze würde sich jedoch ungefähr halbieren, wenn bei den Analysen berücksichtigt würde, dass neun Prozent der Eltern eine kürzere Betreuung wünschen und diese in der Regel bereits für ihr Kind nutzen. Der Anteil der Eltern, die einen Ganztagsbedarf hatten, der nicht abgedeckt war, betrug 2022 zehn Prozent.
In einem zweiten Schritt ist eine Prognose nötig, wie sich die Elternbedarfe in den kommenden Jahren entwickeln werden. Die KiBS-Daten zeigen, dass diese – entgegen früherer Annahmen – seit 2019 nicht weiter gestiegen sind. Ob diese Entwicklung auf die Auswirkungen der Coronapandemie zurückzuführen ist oder ob sich das Wachstum auch ohne diese verlangsamt hätte, kann mit den vorliegenden Daten nicht beantwortet werden. Ein Anwachsen der Bedarfe an Ganztagsbetreuung in den kommenden Jahren in allen Bundesländern auf die Nutzungsquote aus 2021 in Ostdeutschland (rund 86 Prozent) oder auf 100 Prozent – wie im Fachkräfte-Radar 2022 der Bertelsmann-Stiftung antizipiert – ist aktuell aber nicht zu erwarten.
Drittens muss die Bevölkerungsprognose in die Schätzung einbezogen werden. Eine Vorausberechnung der TU Dortmund kam 2021 zu dem Ergebnis, dass je nach Grundannahmen bezüglich der Entwicklung der Bevölkerung und der Elternbedarfe bis 2029/2030 zwischen 507.800 und 691.600 neue Ganztagsplätze geschaffen werden müssen.
Schätzungen des Platzausbaus fußen stets auf Annahmen, die mit Unsicherheiten einhergehen und es werden immer neue Zahlen veröffentlicht, die die Diskussion anheizen. Gleichzeitig sind jedoch Fachkräfte und finanzielle Mittel knapp. So werden Forderungen laut, die Einführung des Rechtsanspruchs (auf unbestimmte Zeit) zu verschieben. Doch das wäre fatal. Angesichts der aktuellen Schwierigkeiten bestimmter Gruppen von Eltern ein für sie passendes Angebot zu finden, sollte dringend am Rechtsanspruch auf Betreuung für Kinder im Grundschalter und einer soliden Finanzierung des Ausbaus festgehalten werden. Aber eine alleinige Konzentration auf ganztägige Angebote ist nicht zielführend. Sie führt bei einigen Eltern zur Befürchtung, dass sie in Angebote gedrängt werden, die sie in diesem Umfang nicht benötigen und auch nicht nutzen möchten. Und Politik und Träger würden damit Angebote finanzieren und bereitstellen, die nicht im vollen Umfang genutzt werden – zum Beispiel, weil Eltern regelmäßig ihre Kinder früher aus der Ganztagsbetreuung abholen.
Länder müssen Konzepte für den Betreuungsbedarf entwickeln – auch jenseits des Ganztagsanspruchs
Ein Rechtsanspruch für Eltern ist wichtig, um die Betreuung von Grundschulkindern sicherzustellen. Weil die Zahl der Kinder im Grundschulalter ansteigt und einige Eltern bereits heute keine ihrem Bedarf entsprechenden Angebote nutzen können, sollte der Ausbau der Angebote für Grundschulkinder dringend fortgeführt werden. Gleichzeitig ist zu beachten, dass in einigen, vor allem westdeutschen Ländern, ein Teil der Eltern kürzere Betreuungsangebote – häufig in Form von Angeboten der Übermittagsbetreuung – nachfragt, nutzt und damit seine Bedarfe deckt. Diese Form der Betreuung erfüllt zwar laut Ganztagsförderungsgesetz nicht den Rechtsanspruch. Dennoch sollten die Entscheidungsträger*innen in den Ländern in Anbetracht des Fachkräftemangels im pädagogischen Bereich Konzepte entwickeln, wie auch jenseits von Ganztagsangeboten in Horten und Ganztagsschulen eine qualitätsvolle Betreuung von Grundschulkindern über die Mittagszeit sichergestellt werden kann. Dabei sollte das Potential bestehender kürzerer Angebote in den Blick genommen werden.
Literatur
Autorengruppe Fachkräftebarometer (2023). FACHKRÄFTEBAROMETER Frühe Bildung 2023. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. Bielefeld: wbv Publikation.
Bock-Famulla, Kathrin/Girndt, Antje/Vetter, Tim/Kriechel, Ben (2022). Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2023). Kindertagesbetreuung Kompakt. Ausbaustand und Bedarf 2022. Ausgabe 08. Berlin.
Geis-Thöne, Wido (2023). Noch 700.000 Ganztagsplätze müssen geschaffen werden. IW-Kurzbericht, Nr. 84. Köln
Hofmann, Kristina (2023). Ganztags-Grundschule ab 2026? Kommunen: Bund soll Rechtsanspruch kippen. Verfügbar über: www.zdf.de/nachrichten/politik/grundschule-ganztag-2026-gefahr-100.html; [16.11.2023]
Hüsken, Katrin/Lippert, Kerstin/Kuger, Susanne (2023). Bildungs- und Betreuungsangebote für Grundschulkinder – entsprechen sie den Bedarfen der Eltern? DJI-Kinderbetreuungsreport 2023. Studie 2 von 7. München. URL: www.dji.de/KiBS.
Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) (2023). Empfehlungen zur Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität der Ganztagsschule und weiterer ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 12.10.2023. Verfügbar über: www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2023/2023_10_12-Ganztag-Empfehlung.pdf; [20.11.2023]
Olszenka, Ninja (2023). Demografie bis 2035: Ergebnisse der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung. KomDat Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe, Jg. 23, H. 1, S. 16-22. Dortmund.
Rauschenbach, Thomas/Meiner-Teubner, Christiane/Böwing-Schmalenbrock, Melanie/Olszenka, Ninja (2021). Plätze. Personal. Finanzen. Bedarfsorientierte Vorausberechnungen für die Kindertages- und Grundschulbetreuung bis 2030. Teil 2: Ganztägige Angebote für Kinder im Grundschulalter. Dortmund: Eigenverlag Forschungsverbund DJI/TU Dortmund an der Fakultät 12 der TU Dortmund.
Katrin Hüsken und Kerstin Lippert 2023, Rechtsanspruch auf Ganz­tags­betreuung im Grund­schul­alter – alle Eltern im Blick behalten, in: sozialpolitikblog, 23.11.2023, https://difis.org/blog/?blog=87 Zurück zur Übersicht
Katrin Hüsken arbeitet als wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München. Seit 2017 ist sie im Projekt DJI-Kinderbetreuungsstudie (KiBS) tätig. Die Forschungsschwerpunkte der Psychologin sind Bildung und Betreuung im Grundschulalter, Elternbedarfe sowie der Übergang vom Kindergarten in die Schule.
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Kerstin Lippert ist seit 2015 am Deutschen Jugendinstitut (DJI), zunächst im Projekt KiföG-Evaluation und seither im Folgeprojekt KiBS tätig. Die Forschungsschwerpunkte der Soziologin sind die Zufriedenheit der Eltern mit der genutzten Kinderbetreuung und die Gründe der Eltern, Angebote der Kindertagesbetreuung nicht in Anspruch zu nehmen.
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