(Keine) Kinder kriegen: Wie Staaten Reproduktion regulieren
Familienplanung wird häufig als Privatsache angesehen. Doch Prozesse um das Planen oder Vermeiden, Durchleben oder Beenden von Zeugung und Schwangerschaft werden staatlich gesteuert und sind politisch umkämpft. Dr. Hannah Zagel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung über Reproduktion als Politikfeld und eine neue, internationale Datenbank.
Gerade in letzter Zeit ist Reproduktion in vielen Ländern wieder auf der politischen Tagesordnung. So etwa in den USA, wo 2022 der Supreme Court das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch kippte, welches seit den 1960er Jahren galt. Auch Polen schränkte in den vergangenen Jahrenden Zugang zur Abtreibung mehrfach ein. Aber nicht nur die Politik zum Schwangerschaftsabbruch ist im Gespräch. In Deutschland widmet sich seit März 2023 eine von den Bundesministerien für Familie, für Justiz und für Gesundheit eingesetzte Kommission dem Thema der ‚reproduktiven Selbstbestimmung‘. Sie soll innerhalb eines Jahres für Deutschland evaluieren, welche rechtlichen Alternativen es zum derzeit im Strafgesetzbuch geregelten Schwangerschaftsabbruch gibt, wie Reproduktionsmedizin reguliert werden sollte, und wie Verhütungsmittel breiter zugänglich gemacht werden können.
Wo das Ideal vorherrscht, dass alle Menschen in ihrem Leben eine Familie gründen sollten, stehen die Meinungen häufig entgegen einer selbstbestimmten Familienplanung, in der sich zum Beispiel auch gegen eine bestehende Schwangerschaft entschieden werden kann. Andere heben kritisch hervor, dass reproduktive Selbstbestimmung auch heute noch davon abhängt, wie viel ökonomische Ressourcen eine Person hat. Sei es, um die gewünschte Verhütungsmethode zu bezahlen, oder auch um sich eine Kinderwunschbehandlung leisten zu können. Hier können staatliche Maßnahmen entscheidend sein, um Ungleichheiten im Zugang auszugleichen. Ob und in welchem Umfang ein Land reproduktive Selbstbestimmung unterstützt oder aber nur eine bestimmte Idealvorstellung von Sexualität und Familie fördert, wird politisch ausgehandelt.
Sexualerziehung, Verhütung, Schwangerschafts- abbruch werden staatlich reguliert
Der Staat interveniert mit verschiedenen Maßnahmen an unterschiedlichen Punkten im Lebensverlauf in individuelle reproduktive Prozesse. Die Wünsche und Planungen zu Sexualität und Familienplanungen die sich im eigenen Leben entwickeln, treffen auf politische Rahmenbedingungen: Sexualerziehung begleitet Menschen in jüngeren Jahren. Zugang dazu schaffen zum Beispiel Schulen, sofern Sexualerziehung dort verpflichtend unterrichtet wird. Es kommt auf die curricularen Themensetzungen an, welche Wissensbestände zu Reproduktion aufgebaut werden. Soll Zeugung und Schwangerschaft verhindert werden, kommt es auf Verhütungsmittel und den Zugang dazu an. Soll eine bestehende Schwangerschaft unterbrochen werden, sind Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch entscheidend. Für Verhütung ist beispielsweise staatliche Vorkehrungen dazu relevant, ob die gewünschten Methoden wie die Pille oder ein anderes Hormonpräparat legal verfügbar sind und wenn ja, ob die Beschaffung auch rezeptfrei ohne einen Arztbesuch möglich ist. Im Fall der so genannten ‚Pille danach‘, dem Notfallkontrazeptiv das gleich nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr eingesetzt werden kann, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern, kann rezeptfreier Zugang wegen des kurzen Zeitfensters (von bis zu fünf Tagen nach dem Geschlechtsverkehr) besonders entscheidend sein. Aber auch bei regulären hormonellen Verhütungsmethoden kann das Erfordernis eines ärztlichen Rezepts in bestimmten Lebenslagen eine Hürde darstellen.
Vor dem Hintergrund einer in den letzten Jahrzehnten steigenden Zahl von Personen, die ungewollt kinderlos bleiben, ist darüber hinaus entscheidend, wie der Zugang zu Kinderwunschbehandlungen reguliert ist. In Deutschland ging dieser Trend damit einher, dass im Jahr 2020 etwa 113.000 Kinderwunschbehandlungen durchgeführt wurden. Nur ein Bruchteil davon (22.000) haben auch zu Geburten geführt. Staaten regulieren auch hier den Zugang: Für Kinderwunschbehandlungen mittels In-Vitro-Fertilisation (IVF) gilt beispielsweise, dass diese in manchen Ländern, darunter Italien und Tschechien, nur heterosexuellen Paaren rechtlich zugänglich sind. Während andere Länder wie Dänemark, Finnland und die Niederlande keine solche Voraussetzung haben. Auch in Deutschland steht von rechtlicher Seite einer Behandlung von lesbischen Frauen mit Kinderwunsch nichts entgegen. Bei den kostspieligen Verfahren ist für Menschen mit Kinderwunsch weiterhin entscheidend, ob das jeweilige Gesundheitssystem Kosten für die Behandlung übernimmt. So übernimmt zum Beispiel in Deutschland die gesetzliche Krankenkasse Teilkosten für die künstliche Befruchtung für verheiratete Paare innerhalb bestimmter Altersgrenzen, wenn sie ihre eigenen Ei- und Samenzellen nutzen und hinreichend Aussichten auf Erfolg für eine Schwangerschaft bestehen. Seit 2016 können darüber hinaus auch lesbische Frauen, die in einer auf Dauer angelegten Beziehung leben, eine Förderung beantragen, sofern ihr Bundesland ein entsprechendes Programm anbietet. Im Ländervergleich wird also sichtbar, wie unterschiedlich die Interventionen des Staates in reproduktive Prozesse ausgestaltet sind, und wie verschieden damit die Bedingungen für reproduktive Wohlfahrt in der Bevölkerung sind.
Eine internationale Datenbank für Reproduktionspolitiken
In einem am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) durchgeführten Projekt haben wir Daten zu Reproduktionspolitik in 31 Ländern erhoben, um diese große Vielfalt und die Veränderungen in den politischen Maßnahmen und Gesetzgebungen über die Zeit abzubilden. Für jedes Jahr zwischen 1980 und 2020 wurde in der International Reproduction Policy Database (IRPD) festgehalten, welche staatlichen Maßnahmen in den Ländern zu fünf Regulierungsbereichen galten: Sexualerziehung, Verhütungsmittel, Schwangerschaftsabbruch, Reproduktionsmedizin und Schwangerschaftsvorsorge. Mit vielen unterschiedlichen Kennzahlen in jedem dieser Bereiche ermöglicht die neue Datenbank erstmalig, einen umfassenden Überblick darüber zu erhalten, wie wohlhabende Länder das Kinderbekommen und Nicht-Kinderbekommen regulieren.
Auf Grundlage der noch unveröffentlichten Daten, die innerhalb des nächsten Jahres für Forschung zugänglich gemacht werden sollen, können wir bereits einige Trends nachzeichnen. Zum Beispiel lässt sich über den Ländervergleich anhand ausgewählter Indikatoren zeigen, dass in einer wachsenden Zahl an Ländern in unserem Datensatz die Unterstützung reproduktiver Selbstbestimmung für junge Erwachsene seit 1980 international zugenommen hat. Im Feld der Sexualerziehung weist auf diesen Trend hin, dass zwischen 1980 und 2020 immer mehr wohlhabende Länder das Fach in der Schule als verpflichtend eingeführt haben. In 2020 machten 12 Länder das Fach als verpflichtend in der Grundschule, während es 1980 noch 6 waren. Gleichzeitig hat auch die Zahl der Länder zugenommen, die den Schwangerschaftsabbruch ‚on request‘, also auf Verlangen, zulassen. Dies war 2020 in 21 Ländern in unserer Datenbank der Fall, 9 Länder mehr als 1980. Und schließlich gibt es immer mehr Länder, in denen die ‚Pille danach‘ rezeptfrei erhältlich ist (17 in 2020, nur Belgien in 1980).
Neben dieser allgemeinen Entwicklung hin zu mehr Unterstützung reproduktiver Selbstbestimmung, die auch als Liberalisierung der Reproduktionspolitik beschrieben werden kann, zeigt der Vergleich zwischen den reproduktionspolitischen Feldern, dass diese in den ausgewählten Ländern nicht gleichermaßen bespielt werden. So zeigt sich zum Beispiel, dass der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch in den Ländern unserer Datenbank stärker ausgeweitet wurde als etwa die Sexualerziehung als verpflichtendes Schulfach. Ein zahlenmäßiger Zugewinn, der möglicherweise einerseits mit der langen Politisierung des Feldes Schwangerschaftsabbruch und andererseits mit Hürden der Reformierung von Sexualerziehungsinhalten zusammenhängt.
Die Datenbank ermöglicht es, die Verschränkung der reproduktionspolitischen Felder zukünftig genauer zu untersuchen. Im Forschungsprojekt werden Ergebnisse hierzu erarbeitet, wie auch zu den Fragen, wie Reproduktionspolitik mit Einstellungen in den Bevölkerungen sowie mit sozialen Ungleichheiten in reproduktiver Gesundheit zusammenhängen. Ziel ist es, Reproduktionspolitik in ihrer Mehrdimensionalität abzubilden und über den Ländervergleich ein besseres Verständnis dazu zu erarbeiten, welche Ansätze staatlicher Intervention in Reproduktion sich in den letzten vierzig Jahren herausgebildet haben und was sie für die Menschen bedeuten.
Hannah Zagel 2023, (Keine) Kinder kriegen: Wie Staaten Reproduktion regulieren, in: sozialpolitikblog, 26.10.2023, https://difis.org/blog/?blog=83 Zurück zur Übersicht

Dr. Hannah Zagel ist Soziologin und Leiterin der Emmy-Noether Forschungsgruppe "Varieties of Reproduction Regimes" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Sie war zuvor Vertretungsprofessorin für Mikrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsthemen sind vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, Lebensverläufe und soziale Ungleichheit mit einem Fokus auf Reproduktion und Familie.
Bildnachweis: Anna Kluge