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Drei Personen hängen in Schutzkleidern an Seilen an einem gläsernen Hochhaus und putzen die Fenster.
Frederic Hüttenhoff, 20.07.2023

Die Mindestlohnerhöhung hilft den Betroffenen nicht

Die letzte Anpassung des Mindest­lohns fiel mit 82 Cent gering aus. Einen angemessenen Mindest­schutz für Beschäftigte bietet der Mindest­lohn bis heute nicht. Eine neue EU-Richtlinie könnte für erneute Dynamik sorgen, schreibt Frederic Hüttenhoff vom IAQ.


Seit 2015 gibt es in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn. Vom niedrigen Anfangsniveau von 8,50 Euro ist er bis Oktober 2022 auf 12 Euro gestiegen. Ende Juni 2023 stand die nächste turnusmäßige Anpassung des Mindestlohns durch die Mindestlohnkommission an und zur Überraschung vieler Expert*innen und Politiker*innen wurde nur eine geringfügige Erhöhung von 82 Cent in zwei Schritten beschlossen, jeweils 41 Cent zum 1. Januar 2024 und 1. Januar 2025. Möglich war das, weil die Vorsitzende Christiane Schönefeld zusammen mit den drei Arbeitgebervertreter*innen gegen die drei Gewerkschafter*innen stimmte. Welche Konsequenzen bringt diese Entscheidung?

Die Funktion des gesetzlichen Mindestlohns sowie der daraus resultierende Auftrag der Mindestlohnkommission sind im Mindestlohngesetz klar benannt. Demnach soll die Kommission sicherstellen, dass der Mindestlohn einen angemessenen Mindestschutz für die Beschäftigten sicherstellt, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen ermöglicht sowie Beschäftigung nicht gefährdet (§ 9 Abs. 2 MiLoG). Der gleichzeitig mit dem Beschluss zur Erhöhung des Mindestlohns veröffentlichte vierte Bericht der Mindestlohnkommission zeigt erneut, wie schon die drei vorherigen Berichte, dass der Mindestlohn weder der Beschäftigung geschadet noch einen funktionierenden Wettbewerb verhindert hat.

Der angemessene Mindestschutz der Beschäftigten wurde bisher nicht erreicht

Dagegen wurde das Ziel eines angemessenen Mindestschutzes für Beschäftigte bis heute nicht erreicht. Laut anerkannter Definition der ILO und OECD beträgt ein angemessener Mindeststandard 60 Prozent des Medianlohns bzw. 50 Prozent des Durchschnittslohns zumindest bei vollzeitbeschäftigten Erwerbstätigen. Der Einführungsbetrag von 8,50 Euro wurde verhältnismäßig niedrig angesetzt, um erst einmal einen Einstieg zu schaffen und die Folgewirkungen abzuschätzen. Allerdings war damit die Hoffnung verbunden, dass die Kommission für eine zügige Erhöhung sorgen würde, sobald die negativen Befürchtungen ausgeräumt seien. Doch dazu kam es nicht, da sich die Arbeitgeberseite dem verweigerte.

Aus diesem Grund reagierte die derzeitige Bundesregierung und beschloss eine einmalige Anpassung des Mindestlohns auf 12 Euro, um den ausgebliebenen Mindestschutz für knapp sechs Millionen Beschäftigte herzustellen. Diese Entscheidung fiel vor dem verheerenden Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der im Jahr 2022 eine Inflation von 7,9 Prozent zur Folge hatte. Gerade Niedriglohnempfänger*innen müssen einen hohen Anteil ihres Einkommens für Dinge des täglichen Bedarfs ausgeben. Die drastischen Preiserhöhungen für Lebensmittel und Energie haben sie deshalb besonders stark getroffen.

Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro konnte die letztjährige Inflationsrate gerade so ausgleichen. In diesem Jahr wird mit einer Inflationsrate von wenigstens 5 Prozent gerechnet, im nächsten Jahr mit über 3 Prozent. Eine Erhöhung des Mindestlohns von jährlich rund 3,4 Prozent gleicht das nicht aus. Nach Gewerkschaftsangaben hätte der Mindestlohn deshalb wenigstens auf 13,50 Euro steigen müssen. Aber die Mehrheit in der Mindestlohnkommission hat sich nicht daran orientiert, die Kaufkraft des Mindestlohns zu sichern.

Die für die zweite Amtszeit der Mindestlohnkommission (2019-2024) berufene Vorsitzende der Kommission, Christiane Schönefeld, hat das Recht, mit den Arbeitgebern zu stimmen, wenn es zu keiner Einigung der Gewerkschaften mit der Arbeitgeberseite kommt. Ihr Vorgänger Jan Zilius war stets darauf bedacht, dass er von diesem Recht niemals Gebrauch machen muss, weil ihm die Bedeutung eines für beide Seiten tragfähigen Kompromisses wichtig war. So wie es auch in Tarifverhandlungen der Fall ist. Dagegen hat Christiane Schönefeld mit ihrer Entscheidung zugunsten der Position der Arbeitgeberseite erheblich an Vertrauen bei den Gewerkschaften verloren und damit die moderierende Funktion des Vorsitzes aufgegeben.

Neue EU-Richtlinie zum Mindestlohn muss 2024 umgesetzt werden

Möglicherweise wird erneut ein Eingriff der Politik für eine außerplanmäßige Mindestlohnerhöhung sorgen. Denn im Herbst 2022 verabschiedeten der Europäische Rat und das EU-Parlament mit großer Mehrheit die Richtlinie 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne in der EU. Im Kern sieht die Richtlinie vor, dass in allen EU-Staaten, in denen bereits ein gesetzlicher Mindestlohn vorhanden ist, dieser Mindestlohn vollzeitbeschäftigten Erwerbstätigen einen angemessenen Lebensstandard sichern soll. Dabei sind bei der zukünftigen Höhe des Mindestlohns mindestens vier feste Kriterien zu berücksichtigen (Art. 5, Abs. 2):

  • Die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten
  • Das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung
  • Die Wachstumsrate der Löhne
  • Langfristige nationale Produktivitätsniveaus und -entwicklungen


Mit diesen Kriterien soll sichergestellt werden, dass der Mindestlohn einen angemessenen Lebensstandard für Vollzeitbeschäftigte sicherstellt und die Entwicklung des Mindestlohns nicht hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurück bleibt. Zur Sicherstellung für einen angemessenen Mindestlohn sollen international übliche Referenzwerte verwendet werden, etwa 60 Prozent des Bruttomedianlohns oder 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns (Art. 5, Abs. 4 Richtlinie 2022/2041). Die Richtlinie muss bis November 2024 in deutsches Recht umgesetzt werden. Gut möglich also, dass es doch noch in dieser Legislaturperiode eine weitere Mindestlohnerhöhung gibt.

Der Mindestlohn war schon immer politisch

Die Arbeitgeberseite warnt deshalb bereits vor weiterer politischer Einmischung. Der Mindestlohn müsse unabhängig von der Politik durch die Kommission festgelegt werden. Dabei war der Mindestlohn schon immer ein Politikum und wird durch die niedrige Erhöhung politische Debatten weiter befeuern. Denn am Ende wird nicht die Mindestlohnkommission für die geringfügige Erhöhung verantwortlich gemacht werden, sondern die politischen Parteien in den kommenden Wahlkämpfen. Allein 2024 stehen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg an. In allen drei Bundesländern arbeiten rund 30 Prozent aller Erwerbstätigen zum Mindestlohn, darunter auch Fachkräfte. Wenn aber die Menschen das Gefühl haben, dass ihre Arbeit nicht wertgeschätzt wird und sich gleichzeitig durch die Inflation die Preise immer weiter erhöhen, dann kann sich das auch in Wahlergebnissen widerspiegeln. Eine der höchsten Mindestlohnquoten in Deutschland findet man im Kreis Sonneberg in Thüringen mit 44 Prozent. In jenem Kreis wurde kürzlich der erste AfD-Landrat in Deutschland gewählt. Natürlich ist Einkommen nicht das einzige Kriterium bei einer Wahl, aber Einkommen, Anerkennung und Zufriedenheit hängen eng miteinander zusammen.

Die Arbeitgeber könnten die Politisierung des Mindestlohns eindämmen

Während die Arbeitgeber eine zunehmende Politisierung des Mindestlohns beklagen, stünde ihnen ein einfaches Mittel zur Verfügung, die Notwendigkeit von politischen Eingriffen einzudämmen: Sie müssten die Tarifautonomie stärken, indem sie dazu beitragen, die Tarifbindung wieder zu erhöhen. Denn Tarifverträge sind immer besser als gesetzliche Regelungen. Solange jedoch die Tarifbindung weiter sinkt und Arbeitgeber immer öfter aus Tarifverträgen aussteigen, solange muss die Politik für einen Ausgleich sorgen. Allein schon, um den sozialen Zusammenhalt dieser Gesellschaft nicht weiter zu strapazieren.


Frederic Hüttenhoff 2023, Die Mindestlohnerhöhung hilft den Betroffenen nicht, in: sozialpolitikblog, 20.07.2023, https://difis.org/blog/?blog=71

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