„Wir müssen Begriffe der Migration dekonstruieren“
Ein neuer Sonderforschungsbereich (SFB) zur Migrationsforschung entsteht an der Universität Osnabrück. Es ist der erste in Deutschland, der sich mit Migration im engeren Sinne beschäftigt, sagt Prof. Aladin El-Mafaalani, der eins der Teilprojekte leitet. Im Interview spricht er über die Themen des SFB, interdisziplinäre Zusammenarbeit und das Verhältnis zur Sozialpolitikforschung.
Interview: Ute Klammer
Der SFB ist in Osnabrück angesiedelt. Es sind nahezu alle Professuren des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) beteiligt. Sprecher ist Professor Andreas Pott, das IMIS steht unter Leitung von Professorin Helen Schwenken. Insgesamt werden etwa 50 Personen in 15 Projekten mitarbeiten. Wir freuen uns sehr, dass das der erste Sonderforschungsbereich ist, der sich mit Migration im engeren Sinne beschäftigt.
Der SFB hat den Titel „Produktion von Migration“. Das heißt, ihr wollt die Migration sozusagen dekonstruieren und zeigen, wie wir in Deutschland Migration oder Vorstellungen von Migration produzieren. Kannst du das mal etwas genauer erläutern?
Wir gehen davon aus, dass Migration und besonders auch das Wissen über Migration einem Aushandlungsprozess unterliegt. Das sind einmal Figuren der Migration, also wie und von wem werden Personenkategorien hergestellt, also wie der Flüchtling oder der migrantische Schüler. Darum geht es im ersten Forschungsbereich. Der zweite Forschungsbereich beschäftigt sich damit, wie Infrastrukturen hergestellt werden, die Migration ermöglichen oder beschränken. Hier geht es um so etwas wie das Visum oder Grenzmanagement. Und der dritte Bereich beschäftigt sich mit Räumen der Migration, zum einen in Stadtgebieten, aber eben auch mit Grenzen als Raum. Also es geht beispielsweise um Binnengrenzen innerhalb der EU, aber auch die EU-Außengrenze. Es geht auch um Räume des Verschwindens, wo Menschen sterben, gerade an der EU-Grenze. Alles folgt der Logik, systematisch reflexive Migrationsforschung zu betreiben. Wir reflektieren auch die Funktion von Forschung und Wissenschaft kritisch.
Welche Veränderungen in der Produktion von Migration beobachtet ihr? Was ist euer Ausgangspunkt am Anfang eures Forschungsprozesses?
Als ich vor etwa 15 Jahren in der Migrationsforschung anfing, war diese noch ein sehr junges Forschungsfeld. Inzwischen hat sich das enorm ausdifferenziert. Es gibt viel konventionelle Migrationsforschung. Dort nutzt man die gesellschaftlichen Begriffe einfach ganz funktional und forscht nach bestimmten Problemlagen oder Phänomenbereichen. Dann gibt es die kritische Migrationsforschung, die normativer und politischer an Fragestellungen herangeht. Wir sehen uns in der noch jungen reflexiven Migrationsforschung verortet. Es geht ums Dekonstruieren der Wissensproduktion und -bestände, also auch das, was Wissenschaft selbst erzeugt. Zum Beispiel verwendet die Migrationsforschung üblicherweise Begriffe wie Migrationshintergrund oder Integration. Uns interessiert, wie solche Begriffe entstehen, wie sie ausgehandelt werden und sich verändern. Wir haben dabei einen Fokus auf die Europäische Union, aber globale Kontexte werden wir auch betrachten. Auch methodisch werden wir das sehr vielfältig machen. In jedem Forschungsbereich arbeiten zwischen drei und fünf Disziplinen zusammen. Insgesamt sind neun Disziplinen Teil des SFB.
Dass so viele Disziplinen beteiligt sind, ist beeindruckend. Wie schafft ihr es, Interdisziplinarität in einem so großen Projektverbund herzustellen? Wie wollt ihr es schaffen, dass die Disziplinen wirklich zueinander sprechen und nicht ihre eigene Forschung in Einzelprojekten machen?
Jeder der Forschungsbereiche besteht aus fünf Teilprojekten und in jedem Forschungsbereich sind die Disziplinen auf eine sinnvolle Weise gemixt. Aber es gibt auch darüber hinaus Kooperationsstrukturen. Neben dem Graduiertenkolleg, in dem alle Teilprojekte vertreten sind, wird es Reflexivitätslabore geben. Dort soll eine systematische Zusammenarbeit entstehen. Einzelne Teilprojekte bearbeiten ähnliche Fragestellungen auch über die drei Forschungsschwerpunkte hinweg und dafür soll es Räume für den Austausch geben. Spricht man zum Beispiel über die Figur „Flüchtling“, über „Grenzmanagement“ als Infrastruktur oder über „Grenzen“ als Raum, dann arbeitet man an einem ähnlichen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven. Außerdem haben wir noch Kooperationsstrukturen auf der Ebene der Datenerhebung und -auswertung eingebaut. Wir haben uns vier Jahre lang Zeit für die Entwicklung dieses Antrags gelassen und in dieser Zeit mussten sich die verschiedenen Disziplinen natürlich auch schon annähern. Uns verbindet nicht eine Theorietradition, sondern die reflexive Perspektive.
Mir ist aufgefallen, dass der SFB wenig sozialpolitische Schwerpunkte setzt. Im Bereich der Infrastrukturen könnte man das erwarten, denn die sozialstaatliche Rahmung hat ja Einfluss auf Migration. Es wird zum Beispiel viel über Push- und Pull-Faktoren durch sozialstaatliche Leistungen geredet, also darüber, dass Menschen ihre Entscheidung, wohin sie migrieren, von den sozialstaatlichen Leistungen abhängig machen. Skandinavische Länder signalisieren jetzt zum Beispiel teilweise, dass Menschen, die einwandern, keine oder weniger Leistung erhalten. Woran liegt es, dass ihr euch weniger mit sozialpolitischen Fragestellungen beschäftigt?
Es stimmt, das ist ein zentrales Thema in der Debatte. Aber wir wollen uns mit diesem Schwerpunkt darauf zurückbesinnen, mit Migrationsforschung auch wirklich Migration zu meinen und nicht das Ankommen in einem Aufnahmeland. Die Integration und die Perspektive aufnehmender Staaten berücksichtigen wir dabei aber durchaus, zum Beispiel wenn es um städtische Räume geht oder darum, wie migrantische Figuren im Aufnahmeland beschrieben werden – und da kann und wird Sozialpolitik auch eine Rolle spielen. Aber insgesamt liegt unser Schwerpunkt auf der Erforschung der Bewegung, also der Migration selbst, und deswegen spielen bestimmte Überlegungen, die innerhalb eines nationalstaatlichen Kontexts wichtig sind, für uns eine etwas nachgelagerte Rolle. Deswegen geht es so viel um Grenzen und so viel um Infrastrukturen, die es ermöglichen zu migrieren oder eben eine Beschränkung herzustellen, das also, was Migration im Kern ermöglicht. Und wir wollten euch in der Sozialpolitikforschung natürlich noch etwas übrig lassen.
Eine gute Idee, über eine stärkere Kooperation der beiden Felder Sozialpolitik- und Migrationsforschung nachzudenken. Ich habe auch gesehen, dass ihr einen starken Praxisbezug wollt. Lässt sich da auch etwas erwarten für die konkrete Migrationspolitik?
Ich glaube schon, dass man eine ganze Menge für die migrationspolitische Praxis aus unserer Forschung herausziehen kann. In unserem Transferprojekt arbeiten wir mit Museen zusammen. Das mache ich mit Kolleginnen und Kollegen aus der Psychologie, Geschichtswissenschaft und Informatik. Wir scannen Gedenkorte oder Museen, in denen Migration eine Rolle spielt, ein und ermöglichen dann etwa jungen Menschen oder Minderheiten diese digitalisierten Gedenkort zu begehen und auch umzugestalten, so wie es aus ihrer Perspektive richtiger, plausibler wäre. Mir schwebt vor, dass man das auch zur Austragung von Konflikten nutzen könnte. Also, stell dir zum Beispiel ein Denkmal von einer Figur der deutschen Kolonialgeschichte vor und dann wird dieses Denkmal im digitalen Raum umgestaltet und damit zum Ort einer konkreten Aushandlung. Da können wir auch viel aus der Geschichtsdidaktik lernen.
Dann gibt es das Projekt zu städtischen Räumen. Hier könnten Kommunen sicher ganz viel draus ziehen. In einem anderen Projekt geht es um bewohnte Räume, die in der Klimakrise verschwinden bzw. unbewohnbar werde. Also, ich bin mir sicher, dass unsere Forschung für viele Kontexte der Praxis – und eben nicht nur im deutschen, nationalstaatlichen Kontext – relevant wird. Ob es Migrationspolitik beeinflussen wird, kann man nie vorhersagen. Aber wir beschäftigen uns mit vielen Themen, die für verschiedene Professionen der migrationspolitischen Praxis wichtig sind.
Das Thema Migration und Klima wird sicher in Zukunft eine noch größere Rolle spielen. Auch wir versuchen, diese Themen am DIFIS zusammen zu bringen. Zum Schluss möchte ich dich aber fragen: Womit wirst du dich in deinem Projekt beschäftigen?
In meinem Projekt geht es um die Aushandlung oder den Diskurs darüber, was Migration ist. Mich interessiert, wie daran Betroffene selbst bzw. soziale Bewegungen und Aktivist*innen selbst beteiligt sind, wie sie selbst auch die Figur der Diskriminierung produzieren. Denn sie arbeiten ja mit an den gesellschaftlichen Wissensbeständen und das ist in einer Einwanderungsgesellschaft sehr wichtig. Und genau da befinden wir uns gerade. Ich fokussiere mich darauf, welche Konflikte innerhalb von Bewegungen stattfinden. Das sind Konflikte darüber, was eigentlich das Thema ist, wie man sich selbst thematisiert und figuriert. Also, welchen Begriff verwenden Akteur*innen von sozialen Bewegungen für sich? Das ist hoch umstritten. Es ist ein hochspannendes Feld, um zu verstehen, wie Wissen über Migration entsteht und in welchen Kategorien wir Migration denken. Schaut man sich zum Beispiel Antidiskriminierungsbewegungen an, dann sieht man, dass sie sich neben dem eigentlichen Problem, der Diskriminierung, permanent auch mit konfliktreichen Kategorien von Differenz und Migration beschäftigen. Das wurde in Deutschland noch kaum untersucht.
Also das hört sich sehr komplex, aber auf jeden Fall auch sehr spannend an. Wir wünschen euch viel Erfolg und würden uns freuen, als DIFIS an geeigneter Stelle mit euch zu kooperieren. Vielen Dank für das Gespräch!
Aladin El-Mafaalani 2024, „Wir müssen Begriffe der Migration dekonstruieren“, in: sozialpolitikblog, 15.02.2024, https://difis.org/blog/?blog=102 Zurück zur Übersicht

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani ist Professor für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück und dort sowohl am Institut für Erziehungswissenschaft als auch am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien.
Bildnachweis: Jennifer Fey