"Alterssicherung braucht empirische Forschung"
Dr. Dina Frommert hat am 1. Juli 2023 die Leitung der Abteilung Forschung und Entwicklung bei der Deutschen Rentenversicherung Bund übernommen. Im sozialpolitikblog-Gespräch äußert sie sich zu kurz- und langfristigen Herausforderungen für die Gesetzliche Rentenversicherung sowie Forschungsförderung und eigener Forschung.
Interview: Ute Klammer
Derzeit stehen die Sozialpolitik und die soziale Sicherung ja vor diversen Herausforderungen. Wie wirken sich denn die aktuellen Entwicklungen wie Inflation, Energiekrise, Dekarbonisierung auf die Gesetzliche Rentenversicherung aus?
Die Gesetzliche Rentenversicherung ist als Teil des gesellschaftlichen Rahmens hier in der Tat unmittelbar betroffen. Wir sind froh darüber, im Moment eine sehr stabile Finanzlage zu haben. Auch der Beitragssatz ist noch relativ niedrig, ähnlich wie in den frühen 1990er Jahren. Eine große Aufgabe sozialer Sicherung ist es ja, den Menschen auch in unsicheren Zeiten das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Ich denke, das geht im Moment eigentlich ganz gut. Trotz der momentan hohen Inflation haben wir in den letzten Jahren einen Kaufkraftgewinn bei den Rentnerinnen und Rentnern erlebt. Dieses Jahr wird es trotz der relativ hohen Rentenerhöhung nicht so sein, dass die Inflation vollständig ausgeglichen werden kann. Aber die Situation ist immer noch besser als beispielsweise in der zweiten und dritten Säule der Alterssicherung, wo die Zahlungen häufig nicht oder nicht in dem Maße dynamisiert sind. Insofern glaube ich schon, dass die gesetzliche Rentenversicherung dazu beiträgt, Sicherheit zu schaffen. Das ist auch einer der Vorteile eines umlagefinanzierten Systems, dass man von Finanzkrisen und Zinsschwankungen relativ unabhängig ist. Auch in der Vergangenheit haben wir viele Krisen gut gemeistert - auch dadurch, dass wir das System immer wieder angepasst haben.
Und wie sieht es mit den längerfristigen Herausforderungen aus, also zum Beispiel dem demografischen Wandel und dem Fachkräftemangel?
Im Moment sind Themen des demografischen Wandels wieder ganz stark in den Medien, nach dem Motto „die Rentnerwelle rollt auf uns zu“. Die Debatte um die nachhaltige Finanzierung des Umlagesystems gibt es aber schon sehr, sehr lange. Die kommt immer mal wieder auf. Schon in den 1930er Jahren hat Gustav Hartz[1] von der Vergreisung des Volkes gesprochen und sich Sorgen gemacht, dass die Erwerbstätigen die wachsende Zahl der Rentnerinnen und Rentner nicht finanzieren können. Im Moment ist es natürlich so, dass die Babyboomer in den nächsten zehn, zwanzig Jahren in Rente gehen werden. Der neuen Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes zufolge sieht es aber gar nicht so dramatisch aus, wie wir noch vor fünf oder zehn Jahren befürchtet haben. Das heißt sicherlich nicht, dass wir uns jetzt einfach hinsetzen und sagen können „Gut, wir warten ab“. Die Herausforderung ist da, wenn auch vielleicht nicht so groß wie erwartet. Wir werden beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt viel tun müssen, damit wir diese Herausforderung gut bewältigen. Wir müssen auch das System modernisieren, die Lasten gut verteilen. Und wir müssen prüfen, wie das mit den anderen Sozialversicherungssystemen zusammenpasst. Auch in der Pflegeversicherung und in der Krankenversicherung kommt da einiges auf uns zu. In der Vergangenheit konnte man schon sehen, dass der Schlüssel eigentlich im Arbeitsmarkt liegt. Wenn viele Menschen eine gute Erwerbstätigkeit haben, wenn wir sie über Qualifizierung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, vielleicht auch über eine weitere Flexibilisierung des Renteneintritts noch ein bisschen länger in der Erwerbstätigkeit halten können, so sind das wichtige Stellschrauben. Da haben wir im Moment ganz gute Chancen, weil die Lage auf dem Arbeitsmarkt angesichts des Fachkräftemangels besser ist als zu früheren Zeiten mit hoher struktureller Arbeitslosigkeit, in denen wir auch schon einen großen Teil des demografischen Wandels bewältigen mussten.
Bisher haben wir vor allem über die nachhaltige Finanzierbarkeit der Renten gesprochen. Wie sieht es denn mit der sozialen Nachhaltigkeit aus?
Ja, hier geht es zum einen um diese Sicherheit, über die wir schon gesprochen haben. Die Menschen müssen Sicherheit vermittelt bekommen. Es muss eine Akzeptanz des Systems da sein. Dazu gehört natürlich eine ausreichende Absicherung. Die Leute müssen das Gefühl haben: wenn ich hier einzahle, bekomme ich auch eine gute Absicherung heraus. Das ist im Moment bei manchen Gruppen schwierig. Menschen, die lange Zeiten der Arbeitslosigkeit haben, Niedriglöhne oder ungesicherte Selbstständigkeit, oder Personen, die erst irgendwann während des Erwerbslebens nach Deutschland zugewandert sind haben oft Schwierigkeiten, eine ausreichende Sicherung aufzubauen. Das bedeutet, dass wir auf diese Gruppen gerade in Zeiten von Inflation und steigenden Wohnkosten einen viel genaueren Blick werfen müssen. Was können wir eigentlich für diese Gruppen tun? Ist das Rentenversicherungssystem dafür das richtige System? Man kann nicht alles in der Rentenversicherung heilen, was zuvor im Erwerbsverlauf nicht gut geklappt hat. Das sehen wir ja auch in Bezug auf Care-Arbeit. Wir haben immer noch einen sehr großen Gender Pension Gap in Deutschland, weil Frauen, wenn sie Mütter werden, die Arbeitszeit reduzieren oder auch eine Zeit lang nicht arbeiten. Das ist in einem erwerbszentrierten System schwierig, weil man dann entsprechend auch weniger Anwartschaften für die Alterssicherung aufbaut. Trotzdem können wir einen Gap dieses Ausmaßes nicht einfach in der Rentenversicherung schließen. Es hilft uns auch nicht, wenn sich der Gap dadurch schließt, dass die Rentenansprüche von Männern sinken. Sondern wir wollen eigentlich erreichen, dass alle eine auskömmliche Absicherung erzielen. Dafür bräuchten wir eine Sozialpolitik aus einem Guss, die sich an den Lebensverläufen orientiert. Vorteile in einem System sollten nicht zu Nachteilen im nächsten System führen. Wenn man beispielsweise irgendwann einen Minijob ganz praktisch findet, dann aber keine ordentliche Alterssicherung hinterher dabei rauskommt, dann ist das eine Situation, die wir eigentlich so nicht haben wollen. Solche Fehlanreize sehen wir an verschiedenen Stellen. So hat beispielsweise die Wahl der Steuerklasse einen Einfluss auf die Höhe des Elterngeldes. Das betrifft also nicht nur die Rentenversicherung, sondern es geht eigentlich immer darum zu prüfen, was die Menschen wirklich brauchen und wie man hier eine stringente Strategie hinbekommt. Sowohl die finanzielle wie auch die soziale Nachhaltigkeit sind insofern wichtige Themen. Gesellschaftlich adressieren wir sie aktuell zum Beispiel in Debatten um die Haltelinie, um Leitbilder, um das Leistungsniveau oder um Generationengerechtigkeit.
Um es zusammenzufassen: es gibt viele Herausforderungen! Was kann denn die Deutsche Rentenversicherung aktiv tun, um diesen Herausforderungen zu begegnen?
Einerseits trifft auch uns als Haus der Fachkräftemangel. Das spüren wir schon. Wir werden mehr Rentenanträge zu bearbeiten haben, werden aber voraussichtlich weniger Beschäftigte haben. Eine Strategie, die wir hier im Haus anwenden, ist die zunehmende Digitalisierung. Wir durchdenken die Prozesse und hoffen, dass wir da dadurch Anträge schneller und einfacher bearbeiten können. Neue Gesetze werden daraufhin überprüft, ob sie digital umsetzbar sind oder ob das neuer manueller Aufwand für die Sachbearbeitung ist. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist uns auch wichtig, dass wir uns bei der Politikgestaltung einbringen. Also weniger im Sinne eines Lobbyvereins, aber schon so, dass wir uns der Politik als Gesprächspartner anbieten mit einem sehr breit gefächerten Expertenwissen in der Verwaltung, aber eben auch bezüglich des Wissens um die Verteilungswirkungen von Sozialpolitik. Uns ist wichtig, dass wir das Alterssicherungssystem aufgrund von empirischer Evidenz und von soliden Analysen weiterentwickeln. Dafür braucht man natürlich auch Forschung, und deswegen machen wir eigene Forschungsprojekte. Wir fördern aber auch Forschung, um genau an dieser Stelle der Politik Argumente zu liefern und eine fundierte Basis zu schaffen. Bezüglich der Forschungsförderung haben wir zum Beispiel das Forschungsdatenzentrum, wo wir unsere Verwaltungsdaten aufbereitet der Forschung zur Verfügung stellen. Hier beraten wir die Forschenden auch und stehen für Kooperationen zur Verfügung. Und schließlich haben wir das Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA), über das wir Forschung in verschiedenen Formaten finanziell fördern.
Wie wird denn im Haus entschieden, was selber erforscht wird und wo externe Forschung gefördert wird?
Einerseits kaufen wir uns Expertise ein, weil wir das gar nicht alles selbst vorhalten können. Auf der anderen Seite ist uns wichtig, selber Expertise im Haus zu haben. Bei manchen Themen bietet es sich zum Beispiel ganz gut an, über die IVSS, also die Internationale Vereinigung für soziale Sicherheit, international zu kooperieren zu Themen, die gerade vielen Sozialversicherungen auf den Nägeln brennen. Manchmal haben wir das Gefühl, wir brauchen bessere Daten für unsere eigenen Fragestellungen. Dann machen wir das auch selber. Beispiele sind die LEA Studie zu Lebensverläufen und Altersvorsorge oder damals die AVID-Studien. Ich fände es für die Zukunft gut, wenn wir noch mehr Kooperationen hinbekommen würden. Das ist manchmal ein bisschen schwierig mit uns, weil wir im Haus einer anderen Logik folgen als es an einer Universität der Fall ist. Aber ich fände es sehr schön, wenn wir es auch in Zukunft zu bestimmten Themen immer mal wieder hinbekommen würden, bei Forschungsprojekten zu kooperieren.
Das werden wir gerne auch im Rahmen des DIFIS anstoßen! Herzlichen Dank für das Gespräch!
[1] Gustav Hartz,1932: Die national-soziale Revolution: Die Lösung der Arbeiterfrage. München J.F. Lehmann: S. 14
Dina Frommert 2023, "Alterssicherung braucht empirische Forschung", in: sozialpolitikblog, 06.07.2023, https://difis.org/blog/?blog=68 Zurück zur Übersicht
Dr. Dina Frommert ist Sozialwissenschaftlerin und leitet ab 1. Juli 2023 die Abteilung Forschung und Entwicklung der Deutschen Rentenversicherung Bund. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der empirischen Sozialforschung und umfassen methodische Fragen sowie den Wandel der Erwerbsverläufe und das Zusammenspiel der verschiedenen Alterssicherungssysteme.