Sozialpolitik im Europawahlkampf
Die Europawahl findet in den kommenden Tagen statt. Die sozialpolitischen Vorhaben der Parteien für die kommenden fünf Jahre analysieren PD Dr. habil. Jana Windwehr und Torben Fischer im zweiten Teil des Interviews zur Europawahl und Sozialpolitik.
Interview: Frank Nullmeier
Was fordern Parteien in Deutschland und Frankreich im Europawahlkampf beim Thema Sozialpolitik?
Windwehr: Das Thema Soziales ist in Deutschland nach meiner Wahrnehmung im EP-Wahlkampf überhaupt nicht öffentlich präsent. Es kommt auf den Plakaten quasi nicht vor. Die öffentlich dominierenden Fragen sind Migration, Sicherheit und spezielle nationale Themen, die mit der Europawahl eigentlich gar nichts zu tun haben. Wendet man sich den Europawahlprogrammen der deutschen Parteien zu, zeigt sich folgendes Bild: CDU und CSU haben recht wenig konkrete Punkte zur Sozialpolitik aufgenommen – außer der Ablehnung einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung. Die Union spricht sich aber für bessere Vereinbarkeitsmaßnahmen von Beruf und Familie aus. Ein Punkt, der bei allen Parteien vorkommt, ist die Forderung nach einem schnellen Vorantreiben der Europäischen Gesundheitsunion z.B. durch besseren Datenaustausch oder auch die Fort- und Weiterbildung der Arbeitnehmerschaft. Das war es aber auch schon. Viel konkreter sind die Programme von den Grünen und von der SPD, die tatsächlich auf einzelne europäische Richtlinien konkreter eingehen; so soll bspw. die Mindestlohnrichtlinie konsequent umgesetzt werden. Ein weiteres Beispiel ist die Umsetzung der European Child Guarantee, die man als Parallele zu der deutschen Debatte über die Kindergrundsicherung sehen kann. Das wird bei den Grünen erwähnt. Andere Punkte: Einführung eines europäischen Sozialversicherungs- und eines europäischen Schwerbehindertenausweises. Das sind konkrete Vorschläge, was man auf der europäischen Ebene machen könnte. Bei der FDP ist das Programm sehr viel weiter weg von dem, was gerade auf der europäischen Ebene an Initiativen verhandelt wird. Was an diesem Programm sozialpolitisch auffiel, war die Forderung, das Kindergeld anzupassen an die Lebenshaltungskosten im Wohnsitzland. Das ist von der Kommission nach Diskussionen auch in Österreich, Dänemark und damals noch Großbritannien schon einmal abgelehnt worden. Ansonsten findet sich bei der FDP noch wie üblich der Bürokratieabbau. Eine Formulierung beim Bündnis Sahra Wagenknecht ist vielleicht noch bemerkenswert, die Idee einer sozialen Fortschrittsklausel.
Was heißt das? Würde das nicht eine Änderung der Europäischen Verträge erfordern?
Windwehr: Ja. Und eine Vertragsänderung ist nicht besonders realistisch. Aber mit dieser Fortschrittsklausel soll der Vorrang sozialer Grundrechte vor den Binnenmarktfreiheiten erreicht werden. Das wäre eine Grundumkehr der europäischen Rechtsprechung.
Fischer: Die Forderung, dass soziale Standards Vorrang gegenüber dem Binnenmarkt erhalten sollen, ist auch bei den europäischen Linken und den europäischen Sozialdemokraten jeweils im Programm enthalten. Das ist schon länger ein Gedanke, der auf europäischer Ebene diskutiert wird. Die Idee ist mithin nicht völlig ohne Vorläufer und auch nicht aus der Luft gegriffen. Gleichwohl ist klar, man müsste es ins Primärrecht hineinschreiben.
Und wie sieht es in den Programmen der französischen Parteien aus, denn die Übereinstimmung von Frankreich und Deutschland spielt ja immer noch eine wichtige Rolle in der EU?
Windwehr: Die Grünen sprechen sich für eine europäische Arbeitslosenversicherung aus als Stabilisator. Bei den linken Parteien geht es auch um die Umsetzung der Mindestlohnrichtlinie. Bei der proeuropäischen Macron-Partei Renaissance steht im Programm viel zum allgemeinen Tenor der EU-Politik, also Maßnahmen gegen Dumping, Stärkung der Europäischen Arbeitsagentur, Ausbildungsförderung für die Welt von morgen, Schaffung einer modernen Arbeitnehmerschaft. Aber das bleibt alles relativ oberflächlich. Insgesamt besitzt das Thema Soziales im Wahlkampf, das zeigen Umfragen wie das Eurobarometer, europaweit durchaus Priorität für die Bevölkerung. In Umfragen für Deutschland wurde unter anderem nach den für die Wahlentscheidung letztlich wichtigsten Politikfeldern gefragt, und dort ist das Thema Soziales sehr weit unten. Diese gewissen Widersprüche haben sicherlich auch damit zu tun, dass für den Durchschnittswähler die komplexe Aufgabenverteilung zwischen Mitgliedsstaaten und EU in der Sozialpolitik kaum zu durchschauen ist.
Fischer: Einige Vorschläge, die einen gewissen innovativen Charakter haben, findet man in den europäischen Programmen der einzelnen Parteienfamilien, so die Entwicklung einer Rahmenrichtlinie für ein Mindesteinkommen. Das haben die europäischen Grünen, die europäischen Sozialdemokraten und die europäische Linke jeweils in ihren Programmen. Auf europäischer Ebene spielt als innovatives Thema Housing, also die Frage nach bezahlbarem Wohnraum, eine Rolle, obwohl die EU hier nur begrenzt Kompetenzen hat. Bei der europäischen Linken findet sich ein interessanter Vorschlag für ein Finanzierungsprogramm in diesem Bereich. Als Financier wird dort an die Europäische Investitionsbank gedacht, die Kredite mit einem Zinssatz von 0 % vergeben soll, z.B. zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Es gibt also durchaus auch innovative Elemente. Ein anderer Punkt ist natürlich die Frage der Demografie. Verschiedene Parteien von der EVP bis zu den Linken sagen, wir brauchen eine neue Pflegestrategie und das Thema Pflege bzw. Care – in all seinen Facetten – muss auch europäisch bearbeitet werden, um stärker gemeinsame Lösungsansätze zu finden.
Die Entwicklung der Weltwirtschaft scheint in die Richtung einer Infragestellung freihändlerischer Überlegungen zu gehen. Welche Konsequenzen hat das für die EU?
Windwehr: Was sicherlich richtig ist, ist, dass das internationale Fahrwasser rauer wird und dass sich die Europäische Union und alle ihre Mitgliedsstaaten dazu irgendwie verhalten müssen. Die naheliegende Strategie ist, sich als sehr großer Wirtschaftsraum kohärenter zu positionieren und das Spiel auch härter mitzuspielen. Und das kann bedeuten, dass man sich von manchen Gewissheiten verabschiedet. Zum Beispiel von der Überzeugung, dass Freihandel immer richtig ist und Subventionen immer böse sind. Die Europäische Union hat sich von dem liberalen Dogma schon ziemlich stark verabschiedet und spricht davon, strategisch autonomer werden zu müssen. Ich glaube, das ist die logische Folge aus diesem verschärften Wettbewerb.
Wenn die Europäer eine kohärentere Position einnehmen werden, könnte man das als geoökonomische Strategie verstehen? Und spielt der Begriff Geoeconomics in der EU-Sprache bzw. konkreter im Themenfeld Soziales schon eine bedeutendere Rolle?
Fischer: Der Begriff ist in den Dokumenten zur Sozialpolitik noch nicht angekommen. Dagegen ist der Resilienzbegriff durchaus relevant geworden. Erstmals in der strategischen Vorschau im Jahr 2020 herausgestellt, wird er heute in verschiedene Dimensionen unterteilt, und da zählt auch ökonomische und soziale Resilienz dazu. Im Europäischen Semester, also dem Rahmenwerk für die Koordination von Fiskal-, Haushalts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, ist ein Resilience-Dashboard eingeführt worden, das die Widerstandsfähigkeit europäischer Gesellschaften auch an sozialen Faktoren bemisst, also z.B. an Fragen wie, wie hoch ist die Einkommensungleichheit in der Gesellschaft und wie hoch ist die Armutsquote. Sozialpolitik ist ja am Ende des Tages auch Demokratiepolitik und Gesellschaftspolitik. Und hier ist die Logik: Innergesellschaftlich muss die EU in einer instabileren Welt sozial kohärenter und resilienter werden. Und das kann man durchaus wieder koppeln an das Social-Investment-Paradigma: Wir werden resilienter, wenn wir unsere Arbeitskräfte so unterstützen, dass sie mit verschiedenen Unwägbarkeiten des Lebens gut umgehen können, wir eine hohe Beschäftigungsquote haben und damit mehr Wirtschaftswachstum und bessere Jobs generieren, höhere Steuereinnahmen erzielen und somit letztlich die budgetären Ausgaben für Soziales, etwa für Renten und Gesundheit in einer alternden Gesellschaft, nachhaltiger gestalten können.
Zum Schluss: Was wünschen oder erträumen Sie sich von der nächsten Kommission?
Fischer: Mein Wunsch wäre eine wirkliche Reform der EU-Fiskalregeln, die den Mitgliedsstaaten genug Spielraum gibt, um die Doppeltransformation als Reaktion auf Digitalisierung und Klimawandel hinzubekommen. Zwar ist gerade vor wenigen Wochen mit der Reform der economic governance anders entschieden worden, aber die Einführung einer den immensen Herausforderungen gerecht werdenden goldenen Regel für öffentliche Investitionen in die digitale und sozial-ökologische Transformation wäre wünschenswert.
Windwehr: Ich habe zwei Wünsche, einen konkreten und einen eher abstrakten. Konkret meine ich das Thema Housing. Das wäre tatsächlich etwas, womit man sehr viele Leute erreichen könnte, ein Thema, bei dem unter den Mitgliedsstaaten der EU riesige Unterschiede existieren mit etlichen erfolgreichen Modellen, teilweise auch gar nicht auf nationaler, sondern auf lokaler Ebene. Es ist ein Thema, mit dem man vielen Leuten effektiv helfen könnte in der Krise der Lebenshaltungskosten. Und man könnte damit Populisten erfolgreich das Wasser abgraben, indem es gelingt, für real bessere Lebensumstände zu sorgen. Das Abstrakte, das partiell bereits passiert, ist Folgendes: Ich wünsche mir, dass man die Lehre aus den Krisen der vergangenen 20 Jahre zieht und erkennt, dass Sozialstaaten keine Bürde sind. Sozialpolitiken haben eine wichtige Pufferfunktion gerade in solchen krisenhaften Situationen erfüllt. Und es wäre extrem wichtig, dass sich das über das politische Spektrum hinweg in den Köpfen festsetzt.
Vielen herzlichen Dank für das Gespräch.
Den ersten Teil dieses Interviews lesen Sie hier.
Jana Windwehr und Torben Fischer 2024, Sozialpolitik im Europawahlkampf, in: sozialpolitikblog, 04.06.2024, https://difis.org/blog/?blog=119 Zurück zur Übersicht
PD Dr. habil. Jana Windwehr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Koordinatorin der deutsch-französischen Studiengänge am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
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Torben Fischer (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systemanalyse und Vergleichende Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Projektmanager im Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat beim Zentrum für neue Sozialpolitik in Berlin.
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