Mehr Reformbedarf als zuvor? – Pflegepolitische Zwischenbilanz der Ampel-Koalition
Im November 2021 wurde der Koalitionsvertrag der Ampel veröffentlicht, der Veränderungen in der Pflege ankündigte. Wie es ein Jahr später wirklich aussieht, wird in diesem Beitrag diskutiert.
Als der Koalitionsvertrag am 24.11.2021 veröffentlicht wurde, enthielt er eine kleine, aber pflegepolitisch feine Besonderheit. Im Kapitel „Pflege und Gesundheit“ wurde erstmalig in einem Koalitionsvertrag die „Pflege“ vor ihrer größeren Schwester „Gesundheit“ genannt. Dies konnte als Zeichen der hohen Bedeutung interpretiert werden, die eine Reform der Pflege in der beginnenden Legislaturperiode einnehmen sollte. Nach einem Jahr ist vom Aufbruch in eine neue Zukunft der Langzeitpflege, die allein Gegenstand dieses Beitrags ist, allerdings nicht mehr viel zu spüren.
Im Koalitionsvertrag wurde angekündigt,
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1. eine Belastung der Pflegeversicherung mit Zusatzkosten der Corona-Pandemie zu verhindern,
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2. die Eigenanteilszahlungen bei stationärer pflegerischer Versorgung zu begrenzen und planbar zu machen,
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3. die Attraktivität des Pflegeberufs zu steigern,
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4. eine Expertenkommission einzuberufen, die bis 2023 konkrete Vorschläge zu einer freiwilligen paritätisch finanzierten Pflegezusatzversicherung vorlegen soll.
Gemessen an diesen Zielen fällt die Zwischenbilanz ausgesprochen mager aus.
Pandemiebedingte Zusatzausgaben der Pflegeversicherung refinanzieren
Die Corona-Pandemie hat für Pflegeeinrichtungen nicht nur zu erheblichen Mehrausgaben geführt, sondern auch zu Mindereinnahmen, da die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen zurückgegangen ist. Um Pflegeheime vor den resultierenden ökonomischen Folgen der Pandemie zu schützen, hat die Pflegeversicherung einen Rettungsschirm aufgespannt. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, die daraus resultierenden Mehrausgaben der Pflegeversicherung ebenso wie deren Zusatzausgaben für obligatorische Corona-Tests und die Corona-Prämie für Pflegekräfte aus Steuermitteln zu kompensieren. Tatsächlich sind der Pflegeversicherung inklusive des ersten Quartals 2022 pandemiebedingte Mehrausgaben in Höhe von 9,2 Mrd. Euro entstanden, denen Steuerzuschüsse im Umfang von lediglich 2,8 Mrd. Euro gegenüberstehen, so dass ein Minus von 6,4 Mrd. Euro verbleibt. Im April 2022 ist zwar ein weiterer Bundeszuschuss von 1,2 Mrd. Euro gewährt worden, der aber nicht einmal ausreicht, die Zusatzausgaben für den Rest des Jahres zu finanzieren. Es ist somit entgegen der Ankündigungen zu einer ordnungspolitisch falschen Finanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben aus der Sozialversicherung gekommen.
Eigenanteilszahlungen begrenzen
Eigenanteile entstehen für die Pflegebedürftigen in der Heimpflege dadurch, dass die Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie für Investitionskosten und Ausbildungsumlage vollständig von den Heimbewohnenden aufzubringen sind und zusätzlich die pauschalen Leistungen der Pflegeversicherung am Jahresende 2022 um bundesdurchschnittlich 1.050 Euro niedriger sind als die in Rechnung gestellten Entgelte für pflegebedingte Kosten. Insgesamt entsteht so ein rechnerischer bundesdurchschnittlicher Gesamteigenanteil von monatlich rund 2.450 Euro.
In ihren Wahlprogrammen hatten sich CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke zu einer absoluten Begrenzung des pflegebedingten Eigenanteils bekannt. Vermutlich auf Initiative der FDP wurde dieses Ziel aber nicht in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Vielmehr wurde angekündigt, die Wirkungen einer bereits im Juni 2021 beschlossenen und zum 1.1.2022 als § 43c SGB XI in Kraft gesetzten anteiligen, nach Dauer des Heimaufenthalts gestaffelten Übernahme der Eigenanteile aus der Pflegeversicherung zu „beobachten“ und die Möglichkeiten weiterer Absenkungen „zu prüfen“. Tatsächlich hat die Einführung dieser Zuschläge die Eigenanteile nur kurzfristig gesenkt. Seit Anfang des Jahres steigen sie schneller als je zuvor und liegen aktuell bundesdurchschnittlich – trotz Berücksichtigung der Zuschläge – wieder bei 2.000 Euro im Monat, etwa dem Niveau des Eigenanteils ohne Zuschlag von Anfang 2020. Weitere Steigerungen folgen aus der sukzessiven Umsetzung des Tariftreuegrundsatzes zum Herbst 2022 und der Einführung neuer Personalziffern zum 1. Juli 2023. Eine nachhaltige Begrenzung der Eigenanteile wird durch die Leistungszuschläge nicht erreicht und für die Pflegebedürftigen ist eine planbare Vorsorge für diese Eigenanteile nach wie vor nicht möglich. Es scheint also erforderlich, bereits an dieser Stelle die „Beobachtung“ zu beenden und das Experiment Leistungszuschläge zu Gunsten einer echten Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile zu beenden.
Attraktivität des Pflegeberufs steigern
Die größte pflegepolitische Herausforderung der nächsten drei Dekaden liegt darin, genügend Pflegekräfte zu gewinnen. Dafür ist neben gezielter Zuwanderung die verstärkte Ausbildung und Rückgewinnung von Pflegekräften sowie ein längeres Verbleiben im Beruf erforderlich – durch eine Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs. Hierzu wird im Koalitionsvertrag ein ganzes Maßnahmenbündel genannt, das sich insbesondere auf Erhöhung der Personalschlüssel in der Heimpflege, Lohnsteigerung, Ausbildungshomogenisierung und modernisierte Arbeitsbe-dingungen bezieht. Zum 1.7.2023 werden die sozialrechtlich refinanzierbaren Personal-mengen zwar angepasst, jedoch wird die in der Studie zur Personalbemessung ermittelte Personallücke damit nur zu 40 % geschlossen. Eine bessere Entlohnung der Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen wird durch die zum 1.9.2022 in Kraft getretene Verpflichtung zur Anwendung eines tariflichen, tarifanalogen oder regionalüblichen Vergütungsniveaus gefördert. In bis zu 50 % der stationären Einrichtungen hat die Tarifbindung steigende Lohnniveaus und damit Verbesserungen für die Arbeitnehmer*innen zur Folge. Eine Ausbildungshomogenisierung im Bereich der Hilfs- und Assistenzkraftausbildung konnte auf Ebene der Länder nicht realisiert werden, so dass hier weiterhin große Unklarheit vor allem in Bezug auf die regionale Beschäftigungsfähigkeit gegeben ist. Zur Erprobung modernisierter Arbeitsbedingungen ist Ende November 2022 nach einem einjährigen Vergabemarathon ein Modellprojekt vergeben worden, das empirische Erkenntnisse zu guten Arbeitsbedingungen und daraus resultierenden Verbesserungen der Arbeits- und Pflegequalität allerdings erst in zwei Jahren liefern wird.
Pflegezusatzversicherung einführen
Bisher ist die angekündigte Expertenkommission nicht einberufen worden. Damit wird es – aller Erfahrung über die Arbeitsweise derartiger Kommissionen nach – kaum möglich sein, bereits im Jahr 2023 konkrete Vorschläge vorzulegen. Bisher liegen im Wesentlichen zwei Konzeptbündel vor, die eine absolute Begrenzung des individuellen Risikos adressieren. Während das eine Konzept auf einen Ausbau der solidarischen Pflegeversicherung setzt, zielt das andere auf eine Begrenzung der Leistungen der Pflegeversicherung und eine zusätzliche obligatorische private Zusatzversicherung.
Fazit nach einem Jahr
Sollen die Ankündigungen des Koalitionsvertrags umgesetzt werden, ist im nächsten Jahr eine große Pflegereform notwendig, die den Eigenanteil nominal begrenzt. Entsprechende Modelle liegen unter dem Stichwort Sockel-Spitze-Tausch vor und werden von SPD und Grünen schon seit längerem gefordert. Werden steigende Pflegesätze nicht mehr von Pflegebedürftigen, sondern von der Pflegeversicherung getragen, muss über deren Finanzierung neu befunden werden. Deutlich erhöhte und dauerhaft verankerte Bundeszuschüsse zur Refinanzierung allgemeiner Staatsaufgaben sind hierbei ein notwendiges Element. In diesem Kontext sollte der Kredit, den die Pflegeversicherung beim Finanzministerium aufnehmen musste, um die Zusatzausgaben der Pandemie zu finanzieren, nachträglich in einen Zuschuss umgewandelt werden. Ebenso zwingend ist aus Gründen der Gleichbehandlung aber auch ein Finanzausgleich zwischen sozialer und privater Pflegepflichtversicherung, wie er schon im Koalitionsvertrag 2005 vereinbart war, damals zwischen CDU/CSU und SPD. Schließlich sollte das Personalbemessungsverfahren vollständig umgesetzt werden. Hierzu müsste in der Pflegereform eine verbindliche Festlegung auf einen dritten Umsetzungsschritt 2025 erfolgen, um so die Attraktivität des Pflegeberufs sofort erkennbar zu steigern.Heinz Rothgang und Thomas Kalwitzki 2022, Mehr Reformbedarf als zuvor? – Pflegepolitische Zwischenbilanz der Ampel-Koalition, in: sozialpolitikblog, 15.12.2022, https://difis.org/blog/?blog=42 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Heinz Rothgang leitet im SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik die Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung. Er ist Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen und forscht zur Pflegeversicherung in Deutschland und im internationalen Vergleich. Er hat als Mitglied in zahlreichen Expert*innengremien aktiv in der Beratung der Pflegepolitik mitgewirkt und ist Gründungsmitglied des DIFIS.
Bildnachweis: David Ausserhofer
Thomas Kalwitzki ist Diplom-Gerontologe. Nach Stationen in der Sozialwirtschaft und an den Universitäten Oldenburg und Wien arbeitet er seit 2013 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen. Hier ist er heute wissenschaftlicher Geschäftsführer der Abteilung Gesundheit, Pflege, Alterssicherung am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der (Langzeit-) Pflegepolitik und -ökonomie.