Verbraucherpolitik als Sozialpolitik?
Stark gestiegene Preise für Energie, Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs machen es deutlich: Verbraucher- und Sozialpolitik liegen eng beieinander. Ein Appell für eine stärkere Verschränkung beider Perspektiven in der Politik und in der Forschung.
Auf dem Deutschen Verbrauchertag am 26. September 2022 äußerte die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, Steffi Lemke: „Bei der Abfederung der Folgen von steigenden Energiepreisen und Inflation vermischen sich Sozialpolitik und Verbraucherschutz stark.“ Im März 2023 verkündete das Ministerium dann: "Verbraucherpolitik ist auch Sozialpolitik". Und in ihrer Rede auf dem Deutschen Verbrauchertag am 27. November 2023 bekräftigte Frau Lemke erneut, dass der Verbraucherschutz in erster Linie ein Hebel für eine gerechte Sozialpolitik sein solle.
Alle drei Aussagen deuten darauf hin, dass Verbraucherpolitik der Tendenz nach auch in Deutschland sozialpolitisch relevanter werden könnte. Denn Verbraucherpolitik gewinnt aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Lage, erheblich gestiegener Energiepreise und einer zeitweilig besorgniserregenden Inflationsrate sozialpolitisch immer größeren Stellenwert. Verbraucherschutz kann dazu beitragen, die Grundversorgung vor allem von Bürgerinnen und Bürgern in prekären Verhältnissen unter anderem durch verminderte Tarife für grundlegende Güter wie Telekommunikation, Energie und Wasser oder Subventionen zur besseren Zugänglichkeit von Sach- und Dienstleistungen vor Schaden abzusichern. Diese Maßnahmen fallen in die Wohlfahrtsdimension der Verbraucherpolitik (Nessel 2019), die sich mit der Ausgabenseite der Verbraucherhaushalte befasst und somit die klassische Sozialpolitik ergänzt, die eher die Einnahmeseite adressiert.
Verbraucher- und Sozialpolitikforschung: Vorarbeiten
Die Möglichkeit, Verbraucherpolitik sozialpolitisch zu nutzen, gar sozialpolitische Funktionen zu erfüllen, mag auf den ersten Blick überraschen, wurde in der deutschen Verbraucherpolitikforschung aber wiederholt diskutiert:
So setzte sich Hermann Scherl 1978 mit der von David Caplovitz (1963) aufgestellten These ‚The Poor Pay More‘ auseinander, wonach Menschen mit geringem Einkommen auch verbraucherpolitisch schlechter gestellt sind, weil sie aufgrund ihrer prekären Lebensverhältnisse systematisch benachteiligt werden. Dies führte Scherl zu der Frage, ob man Armutsbekämpfung, mithin Sozialpolitik, nicht durch verstärkte Verbraucherpolitik betreiben sollte (Scherl 1978).
Im internationalen Diskurs werden neben den Diskussionen über den Konsumismus und die Reformen des Wohlfahrtsstaates (Baldock 2003) auch die sozialen Funktionen der Verbraucherpolitik im Zusammenhang mit Energiearmut erörtert. Energiearmut bezieht sich auf Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre Energierechnungen regulär zu bezahlen und einen grundlegenden Zugang zu Energie zu erhalten (Bouzarovski et al. 2021). Fragen der Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit grundlegender Sach- und Dienstleistungen sind ein relevantes Feld der Verbraucherforschung, und diese Fragen sprechen für mögliche Überschneidungen zwischen Verbraucher- und Sozialpolitik.
Die sozialpolitische Funktion von Verbraucherpolitik
Vor diesem Hintergrund, angeregt durch die medial kolportierte Aussage von Frau Lemke im September 2022, wurde am 12. September 2023 an der Technischen Universität Berlin eine Tagung zu der Frage durchgeführt, wie es um die aktuelle Zusammenarbeit zwischen Sozial- und Verbraucherpolitik bestellt ist. Höchst selektiv soll lediglich auf drei der im September gehaltenen Vorträge gesondert Bezug genommen werden, welche die These, dass Verbraucherpolitik auch sozialpolitische Funktionen wahrnehme, genauer diskutierten und mögliche Beziehungen zwischen Verbraucher- und Sozialpolitik ausloteten.
In seinem Vortrag ‚Soziale Rechte, soziale Dienste, soziale Aktivierung — sozialpolitische Modi der Verbraucherdemokratie und ihr Zusammenspiel‘ machte Jörn Lamla (Universität Kassel) deutlich, dass es für die im Titel genannten drei Bereiche erstaunliche Übereinstimmungen aus Sicht von Verbraucher- und Sozialpolitik gibt. So setzen sich Akteure aus beiden Politikbereichen für die Verbesserung der sozialen Grundrechte ein, zum Beispiel. die Achtung der körperlichen und geistigen Unversehrtheit. Auch befassen sich beide Politikbereiche mit der Bereitstellung von öffentlicher Infrastruktur und bieten zahlreiche soziale Dienstleistungen an, indem Sie etwa soziale Verbände unterstützen, Selbsthilfe organisieren oder politische Bildung betreiben. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel anzunehmen, dass Verbraucherpolitik durchaus substitutiv einspringen könnte, wenn es um sozialpolitische Belange geht, und dass die Verstärkung verbraucherpolitischer Leistungen und Maßnahmen offenbar sozialpolitisch relevant ist, sofern sie für die Haushalte auf deren Ausgabenseite Verbesserungen und Vergünstigungen bewirken, die sich am Ende auf deren Einnahmeseite positiv bemerkbar machen.
Christoph Strünck (Universität Siegen) wiederum beschäftigte sich in seinem Beitrag ‚Verbraucherpolitik als Äquivalent für soziale Grundrechte? Zur Evolution sozialpolitischer Programme und Instrumente‘ mit der Elementarfunktion der Grundversorgung der Haushalte, für die primär der Staat zuständig ist und aufzukommen hat. Er argumentierte, dass in diesem Bereich, der unmittelbar auf die Lebensqualität der Haushalte zielt und damit sozialpolitisch von größtem Belang ist, eben auch verbesserte Verbraucherpolitik sozialpolitisch wirken kann, indem etwa Preisdeckelungen verordnet werden.
In einem weiteren Beitrag mit dem Titel ‚Transparenzbeitrag, Rechtsanspruch oder Umverteilungsinstrument? Zum Stellenwert der Verbraucherpolitik im modernen Wohlfahrtsstaat‘ richtete Sebastian Nessel (Wirtschaftsuniversität Wien) sein Augenmerk auf die besondere Klientel von Sozial- wie Verbraucherpolitik, nämlich vulnerable Bürger und Bürgerinnen. Er stellte fest, dass eine besondere Konvergenz der Gruppen, an die sich beide Politikfelder insbesondere richten, stattfindet. Maßnahmen, die vulnerablen Personen und Haushalten auf der Ausgabenseite helfen, optimieren letztlich auch deren Einnahmeseite und werden somit sozialpolitisch wirksam.
Drei Ansätze für ein Querschnittsthema der Forschung
Die Frage nach sozialpolitischen Funktionen der Verbraucherpolitik verdient weitere Aufmerksamkeit. Zum ersten wäre systematisch zu prüfen, ob die von Strünck geäußerte Vermutung, Sozialpolitik betreffe die Einnahmeseite, Verbraucherpolitik hingegen die Ausgabenseite der Haushalte, zutrifft. Damit verbunden ist die Frage, inwiefern sich verbraucherpolitisch bedingte Einsparungen auf der Ausgabenseite durch die damit erreichbare Erhöhung der Liquidität auf der Einnahmeseite auch sozialpolitisch auszahlen. Bildlich gesprochen würde eine solche Arbeitsteilung zwischen Sozial- und Verbraucherpolitik kommunizierenden Röhren gleichen (ihr gemeinsames Medium ist Geld): Wenn auf der Ausgabenseite gespart wird, wirkt sich dies positiv auf die Einnahmenseite aus, so als ob eine zusätzliche Sozialleistung gewährt wird.
Zum zweiten könnte überlegt werden, welche Finanzierungsmaßnahmen sowohl verbraucherpolitisch als auch in anderen Politikbereichen relevant sind. So erfüllt eine Verbilligung von Fahrpreisen im Öffentlichen Personennahverkehr, wie das deutschlandweite 49 Euro-Ticket, etwa verkehrspolitische Funktionen, und der (gescheiterte) ‚Mietendeckel‘ wie in Berlin 2021 sollte wohnungspolitische Schutz gewähren. Beide Maßnahmen führen aber auch dazu, dass die Ausgaben sozialer Akteure in Ihrer Rolle als Konsumierende sinken (sollen).
Zum dritten wäre zu fragen, welche Funktionen Verbraucherpolitik in anderen Politikfeldern im internationalen Vergleich erfüllen mag. Die nationalen Ausrichtungen von Verbraucherpolitik stellen sich im Vergleich ja recht unterschiedlich dar (Strünck 2006; Janning 2011; Nessel 2019). Von daher wäre es interessant herauszufinden, ob die Situation in Deutschland, soweit es die Kollaboration und Verschränkung von Sozial- und Verbraucherpolitik angeht, in Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweden oder den USA ähnlich oder ganz anders ist.
Dieser Impulsbeitrag soll dazu anregen, die Forschungsfrage nach dem Verhältnis von Sozial- und Verbraucherpolitik weiter zu vertiefen. Ein möglicher Ansatzpunkt ist hierbei, die Ausgaben- und die Einnahmenseite aus Sicht der Haushalte zusammenzudenken. Dies würde an klassische Überlegungen aus den 1980er Jahre anschließen, die Verbraucherpolitik immer schon sozialpolitisch (mit-)gedacht und konzipiert haben (etwa Scherl 1978; Scherhorn 1993). Umgekehrt würde es sich lohnen, solche Ansätze der Sozialpolitik(forschung) zu sichten oder zu entwickeln, die sich stärker mit der verbraucherpolitisch relevanten Ausgabenseite befassen. Von einer engeren Verzahnung von Sozial- und Verbraucherpolitik würden so nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die Forschungsperspektiven profitieren.
Literatur
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Bouzarovski, S., Thomson, H. & Cornelis, M. (2021). Confronting Energy Poverty in Europe: a Research and Policy. Energies, 14, 1-19.
Caplovitz, D. (1963). The Poor Pay More. Consumer Practices of Low-Income Families. New York: The Free Press of Glencoe.
Janning, F. (2011). Die Spätgeburt eines Politikfeldes. Die Institutionalisierung der Verbraucherschutzpolitik in Deutschland und im internationalen Vergleich. Baden-Baden: Nomos.
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Nullmeier, F. (2002). Auf dem Weg zu Wohlfahrtsmärkten? In: W. Süß (Hrsg.): Deutschland in den neunziger Jahren. Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung. Opladen: Leske und Budrich, S. 269-281.
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Strünck, C. (2006). Die Macht des Risikos. Interessenvermittlung in der amerikanischen und europäischen Verbraucherpolitik. Baden-Baden: Nomos.
Strünck, C. (2011). Die Verbraucherpolitik braucht Pragmatismus statt wirklichkeitsferner Leitbilder. Wirtschaftsdienst, Heft 3, 165-168.
Taylor-Gooby, P. (1999). Markets and Motives. Trust and Egoism in Welfare Markets. Journal of Social Policy, 45(1), 97-114.
Kai-Uwe Hellmann und Sebastian Nessel 2024, Verbraucherpolitik als Sozialpolitik?, in: sozialpolitikblog, 25.01.2024, https://difis.org/blog/?blog=98 Zurück zur Übersicht
Kai-Uwe Hellmann, Dr., apl. Professor für Konsum- und Wirtschaftssoziologie an der TU Berlin. Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und BWL in Hamburg, Tübingen, Frankfurt/M. und Berlin. 1989 Diplom in Politologie am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. 1995 Promotion in Soziologie an der FU Berlin. 2003 Habilitation in Soziologie an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg.
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Dr. Sebastian Nessel ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie Lektor an der Universität Graz. Er war von 2019 bis 2023 im Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie und ist seit 2019 co-Vorstand des RN09 „Economic Sociology“ der European Sociological Association. Aktuell forscht Sebastian zu Fragen an der Schnittstelle von Konsumpolitik, grüner Transformation und Kapitalismus aus wirtschaftssoziologischer Perspektive.
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