sozialpolitikblog
Ein Labyrinth aus der Vogelperspektive
sozialpolitikblog-Gespräch, 04.11.2024

Lost in Social Policy: Warum ein Dialog nötig ist

Das diesjährige FIS-Forum mit Social Policy Biennale widmet sich einem für Praxis, Politik und Forschung gleichermaßen brisanten Thema. Die Leitungen des DIFIS, Ute Klammer und Frank Nullmeier, beleuchten die Herausforderungen und die Fragmentierung innerhalb der sozialen Sicherungssysteme. Im Interview geben sie Einblicke in die Erwartungen an das Jahrestreffen und fordern einen offenen Austausch, um Lösungen für eine bürgernahe Sozialpolitik zu finden.


Interview: Johanna Ritter


Das Thema des diesjährigen FIS-Forums mit Social Policy Biennale ist „Lost in Social Policy“. Es geht um Schnittstellen und Zergliederung in der Sozialpolitik. Warum ist dieses Thema jetzt aktuell und wichtig?


Frank Nullmeier:
Immer mehr Menschen haben Schwierigkeiten, Anträge auf Leistungen zu stellen. Das liegt an der zunehmenden Komplexität der Gesetzgebung, den nicht aufeinander abgestimmten Regelungen innerhalb des sozialen Sicherungssystems, einer nur halbherzig betriebenen Digitalisierung und der Nichtabstimmung zwischen verschiedenen Feldern der Sozialpolitik. Digitalisierung war schon während der Coronapandemie ein großes Thema. In der jetzigen Regierungskoalition wurde darüber hinaus deutlich, dass die verschiedenen Grundsicherungssysteme nicht gut aufeinander abgestimmt sind. Das zeigt sich in der Debatte um das Bürgergeld, das Wohngeld und die Kindergrundsicherung. Um die Kindergrundsicherung zu schaffen, hätte es einer neuen Bürokratie bedurft und auch dann wären noch mehrere Ämter aufzusuchen gewesen. Der Idee nach war eine Vereinfachung für die Bürger*innen geplant.  Daher suchen Parteien, Verbände und die Sozialpolitikforschung nach Wegen für eine bürgernahe Sozialpolitik.


Ute Klammer
: Auch die Grundsicherung im Alter hat gezeigt, wie aktuell das Thema ist. Wir wissen, dass es bei dieser Leistung eine hohe Nichtinanspruchnahmequote gibt. Da stellt sich die Frage, ob der Anspruch nicht auch einfach durch die Steuerbehörde berechnet werden kann, damit es nicht dazu kommt, dass viele diese Leistung gar nicht erhalten, weil sie ihre Ansprüche nicht kennen. Bei der Grundrente ist es ja auch gelungen ein System zu etablieren, bei dem der Anspruch automatisch errechnet und die Leistung ausgezahlt wird. Große Probleme bei Übergängen von einem Leistungssystem zu einem anderen Leistungssystem sehen wir zum Beispiel auch rund um die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten, wenn sie aus der Zuständigkeit des  Asylbewerberleistungsgesetzes in die Zuständigkeit des SGB II wechseln. Die Systeme sind nicht aufeinander abgestimmt. Es ist ein übergreifendes Thema, das viele Ressourcen kostet und daher gerade in der gegenwärtig angespannten Finanzlage relevant ist. Bei allen Unstimmigkeiten gibt es doch eine Einigkeit, dass es gut wäre, durch eine bessere Abstimmung von Leistungen deren Effizienz zu verbessern.


Der Titel der Konferenz deutet eine gewisse Dramatik der Lage an. Auch in der DIFIS-Studie und dem DIFIS-Impuls von Prof. Jörg Bogumil und Philip Gräfe ist von Fragmentierung und Brüchen die Rede. Wer ist damit gemeint, wenn es heißt „lost in Social Policy“?


Frank Nullmeier:
Aus Sicht einer Person, die eine Leistung in Anspruch nehmen will, sieht es recht heftig aus. Es ist kompliziert, sich durch die verschiedenen Leistungen und Leistungssysteme hindurch zu finden. Ein vom Normenkontrollrat in Auftrag gegebenes Gutachten vom Frühjahr diesen Jahres macht deutlich, wie viele Unterlagen und Formulare eine Familie an wie viele verschiedenen Behörden senden muss, um die ihr zustehenden Leistungen zu erhalten. Manche Leistungen müssen neu berechnet werden, wenn andere Leistungen in Anspruch genommen werden. Das führt in nicht wenigen Fällen dazu, dass Menschen sehr verspätet Leistungen erhalten, wie zum Beispiel beim Wohngeld. Das heißt auch, dass Menschen monatelang nicht das Geld hatten, um ihre Miete zu zahlen. Aber auch für diejenigen, die die Bearbeitungen der Anträge in den Behörden und Verwaltungen machen, ist es immer komplizierter geworden.


Ute Klammer:
Es lässt sich feststellen, dass die Systeme immer komplexer geworden sind. Das führt zu einer hohen Nichtinanspruchnahmequote. Ein Grund dafür ist, dass wir häufig bei sozialpolitischen Reformmaßnahmen wie auch bei anderen Reformmaßnahmen Paketpolitik betreiben. Das heißt, es wird ein Vorschlag gemacht und jeder bringt noch einen anderen Aspekt hinein bis das Paket endlich konsensfähig ist und verabschiedet ist.  Dadurch werden die Einzelleistungen sehr komplex und es wird für die Bürger*innen intransparent, wer für diese oder jene Leistung zuständig ist und zwischen den Behörden und Verwaltungen entstehen mehr und mehr Schnittstellen.


Sind denn Schnittstellen an sich das Problem? So schreiben Prof. Sybille Stöbe-Blossey und andere, dass zum Beispiel eine Ausdifferenzierung der Politikfelder und Rechtskreise auch notwendig ist, um Rechtsansprüche abzusichern und Professionalisierung zu gewährleisten.


Ute Klammer:
Es wird immer Schnittstellen geben. Aber was Wissenschaftler*innen wie Sybille Stöbe-Blossey und andere identifizieren, sind zum Beispiel Probleme des „Overlaps“ und „Underlaps“. Beim „Overlap“ sind mehrere Behörden oder Organisationen für eine Sache zuständig, sodass die Zuständigkeit für die Leistungsempfänger*innen immer unklar ist. Beim „Underlap“ gibt es eine Art Vakuum, niemand ist so richtig zuständig.


Wie lässt sich das Thema differenziert beleuchten, ohne einseitige Forderungen nach Leistungsabbau oder Misstrauen in den Sozialstaat anzuheizen?


Ute Klammer:
Wir sehen es so, dass wir Effizienzgewinne noch heben können, ohne dass damit Leistungseinschränkungen verbunden sind. Es geht darum Ressourcen einzusparen, ohne Leistungen zu kürzen.


Frank Nullmeier:
Es stimmt: Lange Zeit war es so, dass eine Verschlankung des Sozialstaats mit der Forderung nach Leistungsabbau eng verbunden wurde. Das ändert sich jetzt. Viele stellen unabhängig von der Art und der Höhe der Leistung die Frage, wie die sozialen Sicherungssysteme funktionsfähiger werden können. Es ist viel produktiver, dieses Thema von der Frage nach mehr oder weniger Sozialstaat zu trennen.


Das Thema der Schnittstellen beschäftigt aktuell Praxis und Politik. Was hat die Forschung bisher zur Ergründung des Konferenzthemas beigetragen?


Ute Klammer:
Die Forschung hat Felder aufgedeckt, in denen es Überschneidungen gibt oder sie zeigt auf, wo es ungeregelte Bereiche gibt und zu welchen Verwerfungen das führt. Sie hat den Finger in die Wunde gelegt. Es ist eine wichtige Rolle von Forschung, solche Sachverhalte zu beschreiben und zu analysieren und nicht in erster Linie die politischen Lösungen dafür zu finden.


Frank Nullmeier:
Eine weitere wichtige Entwicklung ist, dass die Verwaltungswissenschaft in dieses Thema eingestiegen ist. Bisher war sie stärker auf organisationstheoretische Grundlagen und auf kommunale Entwicklungen ausgerichtet. Diese Disziplin bereichert nun die Sozialpolitikforschung mit dem Blick auf die konkreten Abläufe auf Verwaltungsebene und in der Fallbearbeitung.


Ute Klammer:
Eine weitere Disziplin, die in den letzten Jahren viel beigetragen hat, ist die Soziale Arbeit. Sie hat durch Forschung den Blick auf die Perspektive der Nutzer*innen von Sozialsystemen geschärft und somit die Forschung zur Adressat*innenperspektive erweitert. Insgesamt lässt sich sagen, dass der Blick auf Adressat*innen und Nutzer*innen und deren Lebenslagen einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Schnittstellen und Fragmentierung leistet.


Was sind aus eurer Sicht in diesem Themenbereich Zukunftsthemen?


Frank Nullmeier:
Digitalisierung bleibt wichtig. Aber der Blickwinkel verschiebt sich. Digitalisierung ist nicht die Lösung für alles. So schnell wie sich die Gesetzgebung ändert,
kommt die technische Umsetzung nicht mehr hinterher. Zudem gibt es einen beachtlichen Fachkräftemangel im IT-Bereich. Wichtiger ist vielleicht Folgendes: Das Scheitern der Kindergrundsicherung hat vielen Politikakteuren gezeigt, dass das Zusammenwirken von Sozialversicherung und Grundsicherung grundsätzlich durchdacht werden muss. Die Logik der Grundsicherung breitet sich immer mehr in den unteren Einkommensbereichen aus, weil hier viele Menschen auch oberhalb des Bürgergeldes Grundsicherungsleistungen erhalten. Deswegen sprechen manche Forschende auch davon, dass wir ein doppeltes Grundsicherungssystem haben. In der Praxis bedeutet das, dass ständig Leistungsbezüge neu berechnet werden, da manche Leistungen auf andere angerechnet werden und doch immer mehr Menschen in Systeme rutschen, die der Armutsbekämpfung dienen. Die nächste Regierung hat die Aufgabe, die Architektur des gesamten sozialen Sicherungssystems neu zu durchdenken. Die Aufgabe ist zweifellos so groß, dass sie von einer großen parteiübergreifenden Anstrengung getragen werden muss.


Was erhofft ihr euch vom FIS-Forum? Welchen Beitrag kann das FIS-Forum mit Social Policy Biennale für Forschung, Praxis und Politik leisten?


Ute Klammer:
Wir hoffen, dass die verschiedenen Akteursgruppen Impulse für ihre Arbeit in der Politik, in den Verbänden und in der Forschung mitnehmen. Es ist ein spannender Zeitpunkt, weil verschiedene Parteien darüber nachdenken, was ihnen für die kommende Legislaturperiode und einen möglichen Koalitionsvertrag wichtig ist.


Frank Nullmeier:
Der Modus ist der des offenen Austausches. Es geht nicht darum, dass eine Akteursgruppe die andere anklagt, sondern dass wir gemeinsam sehr genau die Situation analysieren. Die Lösungen liegen nicht auf der Hand, aber wir erhoffen uns Anstöße, um gemeinsam weiterzudenken.


Mehr zum Programm des FIS Forums mit Social Policy Biennale, vom 6.-8.11.2024 in Berlin, erfahren Sie hier.


Ute Klammer und Frank Nullmeier 2024, Lost in Social Policy: Warum ein Dialog nötig ist, in: sozialpolitikblog, 04.11.2024, https://difis.org/blog/?blog=137

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