Kinder- und Jugendpolitik der Wenigen
Warum junge Menschen vom politischen Diskurs zu häufig übergangen werden
Die junge Generation ist heute in Deutschland eine demographische Minderheit, deren Stimme in der Politik oft nur schwer Gehör findet. Pia Jaeger und Wolfgang Schröer stellen Empfehlungen des Bundesjugendkuratoriums sowie das Modell eines Zukunftsrats zur Diskussion, um die Bedarfe junger Menschen stärker zu berücksichtigen und ihre Interessen besser zu vertreten.
Kinder- und Jugendpolitik spielt im heutigen Deutschland eine untergeordnete Rolle. Es gibt nur wenig machtvolle Stimmen in Gesellschaft und Politik, die mehr Rechte für junge Menschen fordern. Die Forderung, z.B. Kinderrechte im Grundgesetz zu verdeutlichen, wird zwar immer wieder mal erhoben, aber kaum mehr stark in der politischen Landschaft verfolgt. Dennoch erscheint es dringlich erforderlich, die Kinder- und Jugendpolitik wieder stärker zu gewichten, denn wir leben in einer Zeit mit einer demographischen Zusammensetzung der Bevölkerung, die in vielen Ländern des globalen Nordens sozialhistorisch neu ist: Die junge Generation ist in der Minderheit. Ende 2023 betrug der Anteil junger Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren an der Gesamtbevölkerung noch 10,1 % und lag damit bei 8,52 Millionen. Das Verhältnis der Generationen wurde bereits im 14. Kinder- und Jugendbericht als unausgeglichen beschrieben: Die Alterung der Bevölkerung führe zu einem relativen Bedeutungsanstieg der Erwachsenen bzw. älteren Wähler und einem Gewichtsverlust der jungen Wähler, die quantitativ in der Unterzahl seien (Deutscher Bundestag 2013, S. 364).
Um auf diese Situation zu reagieren, wird bisher vor allem Sorge getragen, dass die gewachsene ältere Generation und deren Renten gesichert sind. Es geht um die soziale Sicherung für die mittlere und ältere Generation. Jugendpolitik war sozialpolitisch vor allem dann ein breites gesellschaftliches Thema, wenn die Generation der jungen Menschen stark war. Es bleibt abzuwarten, wie junge Menschen ihre Interessen aus einer Position der Wenigen durchsetzen können. Kinder- und Jugendpolitik wird bisher wenig aus dieser neuen Minderheitenposition gestaltet und neu gewichtet.
Schaut man zurück auf die Bundestagswahl und die Koalitionsverhandlungen im Frühjahr 2025, so herrschte ein stark fragmentiertes Verständnis von Kinder- und Jugendpolitik vor: Es fanden sich kaum systematisch grundlegende Positionen zur Kinder- und Jugendpolitik. Es wurden vor allem singuläre Maßnahmen herausgestellt, wie z.B. im Kontext der Kindestagesbetreuung, aber z.B. kaum ein systematisches Konzept zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut angesprochen. Auch in Bezug auf die Beteiligung junger Menschen an politischen Prozessen, wurde zwar die Absenkung des Wahlalters von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken thematisiert, in fast allen Programmen fehlt aber eine systematische Betrachtung der politischen Partizipation junger Menschen und eine Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und -populismus in Kindheit und Jugend.
Vornehmlich scheint für fast alle Parteien Kinder- und Jugendpolitik mit Bildungspolitik gleichgesetzt zu werden. Insgesamt wird Kinder- und Jugendpolitik so mitunter auf die Ausgestaltung der Bildungsinfrastruktur verkürzt und junge Menschen werden auf den Schüler*innen-Status etc. sowie ihre institutionelle Schulleistungskompetenz reduziert. Schule und Bildung sind keineswegs kinder- und jugendpolitisch unwichtig, es bedarf aber einerseits einer systematischen sozial- und gesellschaftspolitischen Rahmung der Bildungsinfrastruktur sowie andererseits auch einer Berücksichtigung der davon unabhängigen institutionellen, sozialen und familialen Teilhabe und Rechte junger Menschen, um die aktuelle generationale, soziale und demographische Lage der jungen Menschen adäquat kinder- und jugendpolitisch thematisieren zu können.
Kinder und Jugendbeteiligung wird in der Politikberatung ignoriert – wenn es ernst wird
Vor allem während der COVID-19-Pandemie wurde selbst in Bereichen der Kinder- und Jugendpolitik die machtvoll erwachsenenzentrierte - letztlich adultistische – Perspektive auf gesellschaftliche Krisen deutlich: Junge Menschen wurden nicht oder nur marginal beteiligt (Deutscher Bundestag 2024, S. 87), und schieden damit als Akteur:innen in der Politikberatung bei der Entwicklung von Lösungen aus. Es dauerte sehr lange bis auch in den bildungspolitischen Maßnahmen – z.B. zu Schulschließungen – junge Menschen angehört oder einbezogen wurden. Auch die in der Pandemie sichtbar gewordenen Ungleichheiten im Aufwachsen noch die mangelnden Teilhabebegrenzungen von Kindern und jungen Menschen wurden während der Covid-19-Pandemie im öffentlichen und politischen Diskurs nennenswert hinterfragt (Deutscher Bundestag 2024, S. 83).
Erst nach der Pandemie wurde dieses kinder- und jugendpolitische Defizit erkannt und von allen politischen Seiten sowie dem Deutschen Ethikrat Besserung versprochen. So formulierte Alena Buyx: „Aber diejenigen, die selbst in Notlagen gerieten, erhielten nicht zuverlässig die erforderliche Beachtung und Unterstützung. Wir schulden als Gesellschaft Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht nur Dank und Respekt, sondern konkretes Handeln.“ (Ethikrat 2022, S. 1) Doch heute kann gefragt werden, ob eine neue Aufmerksamkeit für Kinder- und Jugendpolitik entstanden ist. Auch in den aktuellen Diskussionen um die Verteidigungspolitik, die Migrationspolitik oder die Schuldenbremse werden junge Menschen in den politischen Beratungsprozessen kaum beteiligt.
Kinder- und Jugendpolitik in der 21. Legislaturperiode
Um Kinder- und Jugendliche aus dem Status einer Randgruppe in der politischen Diskussion herauszuholen und die Berücksichtigung ihrer Bedarfe zu stärken, fordert das Bundesjugendkuratorium (BJK) eine Kinder- und Jugendpolitik, die in der Politikberatung „junge Menschen beteiligt, ihre generationale und soziale Lage sowie ihre vielfältigen Sichtweisen systematisch einbezieht“ (BJK 2025a, S. 4) und dies kontrafaktisch zur demographischen Gewichtung. Das Bundesjugendkuratorium ist das im SGB VIII gesetzlich vorgeschriebene Expert*innengremium aus Wissenschaft, Kinder- und Jugendhilfe und -politik zur Beratung der Bundesregierung in allen Fragen der Kinder- und Jugendhilfe und -politik. Seit der 20. Legislaturperiode sind auch erstmals 5 von 15 Mitgliedern unter 27 Jahre. Acht Ansatzpunkte für eine Kinder- und Jugendpolitik in der aktuellen Legislaturperiode wurden vom Bundesjugendkuratorium vorgelegt.
Modell „Zukunftsrat“
Es zeigt sich: Das Recht junger Menschen auf Zukunft muss dringend in das politische Geschehen integriert werden. Dies bestätigt auch die Rechtsprechung des BVerfG, angefangen mit dem sogenannten Klima-Beschluss, in dem es der jüngeren Generation einen Anspruch zuspricht, die Lasten des Klimawandels nicht allein tragen zu müssen (Rath, Benner 2021). Auch in anderen BVerfG-Urteilen, wie zu den Schulschließungen in der Covid-19-Pandemie, zeigt sich, dass das BVerfG die Rechte der jungen Generation gegenüber dem Staat stärkt (von Scheliha, S. 123) Die Rechtswissenschaftlerin und Familienrechtlerin Henrike von Scheliha (2025) entwickelte dazu einen weiteren Vorschlag zur Stärkung der Rechte von Kindern und jungen Menschen: die Einrichtung eines Zukunftsrates. Durch ihn soll prozedurale Generationengerechtigkeit hergestellt werden, so dass die junge Generation ihre Belange gleichberechtigt in die politischen Entscheidungen einbringen kann.
Der Zukunftsrat soll als beratendes Gremium des Bundestages die Interessen der jungen und zukünftigen Generationen in den politischen Entscheidungsprozess integrieren, sie beteiligen und eine zukunftsorientierte und generationengerechte Politik sicherstellen. Damit wäre er eine direkte Vertretung der jungen Generation. Vorgeschlagen werden 20 bis 25 Mitglieder unter 30 Jahren mit vielfältigen Hintergründen.
Der Zukunftsrat hat die Aufgabe, eine generationengerechte Perspektive in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen und die in die Zukunft wirkenden Folgen politischer Entscheidungen kritisch zu untersuchen. Dazu legt er Stellungnahmen zur Generationengerechtigkeit von Gesetzesentwürfen vor. Er soll in Form einer obligatorischen Anhörung zu Gesetzesentwürfen in alle relevanten Entscheidungsprozesse eingebunden werden und der Bundestag hätte eine Befassungspflicht, um die Auseinandersetzung mit den Anmerkungen des Zukunftsrates sicherzustellen. Ein suspensives Vetorecht wäre eine weitergehende Möglichkeit, unbefriedigende Gesetzesentwürfe zur Überarbeitung in die Ausschüsse zurückzuverweisen. Je nach Gewichtung des Zukunftsrates bräuchten seine Mitglieder eine mindestens mittelbare demokratische Legitimation, die durch eine abwechselnde Wahl durch Bundestag und Bundesrat hergestellt werden könnte (von Scheliha 2025, S. 124).
Aus den Empfehlungen des BJK und der Idee für einen Zukunftsrat wird ersichtlich, dass das „Recht auf Zukunft“ strukturell stärker abgesichert werden muss. Die Parteien müssen sich nicht nur um die aktuelle Wählerschaft bemühen, sondern sowohl die Belange der Noch-Nicht-Wähler als auch der jungen Menschen insgesamt berücksichtigen. Daher braucht es Mechanismen, die die Politik dazu zwingen, dass die nachkommenden Generationen die gleichen Freiheitsrechte erleben können, wie die Vorgängergenerationen.
Literatur
Deutscher Bundestag (2024): Bericht über die Lage junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe – 17. Kinder- und Jugendbericht – und Stellungnahme der Bundesregierung. Drucksache 20/12900. Berlin; https://dip.bundestag.de (Zugriff: 25.03.2025)
Deutscher Bundestag (2013): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland – 14. Kinder- und Jugendbericht – und Stellungnahme der Bundesregierung. Drucksache 17/12200. Berlin; https://dip.bundestag.de (Zugriff: 25.03.2025)
Bundesjugendkuratorium (2025a): Kinder- und Jugendpolitik 2025 bis 2029. Empfehlungen des Bundesjugendkuratoriums für die zukünftige Bundesregierung. München; www.bundesjugendkuratorium.de (Zugriff: 25.03.2025)
Bundesjugendkuratorium (2025b): Junge Erwachsene und soziale Mobilität – Chancengerechtigkeit im jungen Erwachsenenalter in Zeiten des Fachkräftebedarfs. München; www.bundesjugendkuratorium.de (Zugriff: 25.03.2025)
BVerfG 2021: Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 - 1 BvR 2656/18 -, Rn. 1-270, https://www.bverfg.de/e/rs20210324_1bvr265618
Ethikrat (2022): Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in gesellschaftlichen Krisen nicht alleinlassen. Pressemitteilung Nr.6 vom 28.11.2022. Berlin;
https://www.ethikrat.org/mitteilungen/mitteilungen/2022/ethikrat-kinder-jugendliche-und-junge-erwachsene-in-gesellschaftlichen-krisen-nicht-alleinlassen/
(Zugriff am: 25.03.2025).
Rath, Katja; Benner, Martin: Ein Grundrecht auf Generationengerechtigkeit?: Die Relevanz des Klimaschutz-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts für andere Rechtsgebiete mit intergenerationaler Bedeutung, VerfBlog, 2021/5/07, DOI: 10.17176/20210507-182700-0
Von Scheliha, Henrike von (2025): Zukunftsrat – Stimme der Zukunft bei Entscheidungen der Gegenwart. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 58 (4), S. 121-126
Pia Jaeger und Wolfgang Schröer 2025, Kinder- und Jugendpolitik der Wenigen, in: sozialpolitikblog, 12.06.2025, https://difis.org/blog/?blog=167 Zurück zur Übersicht

Dr. Pia Jaeger leitet die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS) am Standort Bremen (SOCIUM). Sie hat an der Hochschule für Politik zum Themenbereich der sozialen Gerechtigkeit promoviert. Seit 2018 ist sie Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift für Soziale Arbeit „Blätter der Wohlfahrtspflege“.

Professor Dr. Wolfgang Schröer ist Professor für Sozialpädagogik am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendhilfe, Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik und Sozialpolitik und transnationale soziale Unterstützung. In der 19. und 20. Legislaturperiode des Bundestages war er Vorsitzender des Bundesjugendkuratoriums.