Herausforderungen der Kindertagesbetreuung: Handlungsbedarf bei den Jüngsten
Der Bedarf an Plätzen in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) erreichte im Jahr 2023 für Kinder unter drei Jahren einen neuen Höchststand. Obwohl das Betreuungsangebot expandiert, reicht es häufig nicht aus, zeigt eine neue Studie des Deutschen Jugendinstituts im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Vor allem Eltern von Kindern unter drei Jahren sind betroffen. Auch Familien in sozialen Risikolagen haben es schwerer.
Schon seit über zehn Jahren gibt es in Deutschland auch für Kinder ab dem ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf eine Betreuung in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege (§ 24 SGB VIII). Am 5. September 2024 stellte das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) die jährlich erscheinende Broschüre „Kita Kompakt“ vor, die den aktuellen Ausbaustand der Kindertagesbetreuung in Deutschland enthält. Darin werden die amtlichen Beteiligungsquoten an Kindertagesbetreuung, berechnet durch die AKJStat (Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik), und der elterliche Bedarf aus KiBS für das Jahr 2023 gegenübergestellt.
Für die letzten Jahre kann eine stetige Expansion des Systems beobachtet werden, das heißt ein immer größerer Anteil der befragten Eltern mit einem Kind unter drei Jahren nutzt ein Angebot der FBBE: Im Jahr 2013 waren es noch 29 Prozent und im Jahr 2023 schließlich 36 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg jedoch auch der Bedarf an einem Platz in der FBBE. Zum einen wohnen heute mehr Kinder dieser Altersgruppe in Deutschland als noch vor zehn Jahren, zum anderen wünschen sich immer mehr Eltern einen Platz. Während 2013 der Bedarf von Eltern mit einem Kind unter drei Jahren bei 42 Prozent lag, ergab die Befragung 2023 einen elterlichen Bedarf von 51 Prozent und somit einen neuen Höchststand (BMFSFJ 2024; BMFSFJ 2018). Das heißt aktuell benötigt jede zweite Familie mit einem Kind unter drei Jahren einen Platz in der FBBE.
Doch auch 2023 konnten, trotz stetigem Ausbau des Systems der Kindertagesbetreuung, nicht alle Eltern mit Bedarf tatsächlich einen Platz für ihr Kind in Anspruch nehmen. Die Lücke zwischen Bedarf und Beteiligungsquote lag 2023 somit bei rund 15 Prozentpunkten. Für Eltern mit Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren ist die Lage etwas entspannter: Fast alle Eltern wünschten sich 2023 eine Betreuung (97 Prozent) und fast ebenso viele Eltern konnten auch ein Angebot in Anspruch nehmen (95 Prozent, BMFSFJ 2024).
Nach der Zeit mit Elterngeld steigt der elterliche Bedarf an FBBE
Kinder unter einem Jahr werden fast ausschließlich zu Hause betreut. In dieser Zeit übernimmt in der Regel ein Elternteil – in den meisten Fällen die Mutter – den Hauptteil der Kinderbetreuung (Kayed et al. 2022) und geht währenddessen keiner Erwerbstätigkeit nach, sondern nimmt ggf. stattdessen Elterngeld als staatliche Unterstützungsleistung in Anspruch. Als häufigste Gründe gegen die Nutzung einer Kindertagesbetreuung geben Eltern an, dass das Kind noch zu jung für eine außerfamiliäre Betreuung sei oder sie das Kind selbst betreuen möchten (Lippert et al. 2023). Diese Situation ändert sich häufig nach dem ersten Geburtstag des Kindes. Das ist der Zeitpunkt, zu dem der Anspruch auf Elterngeld entfällt. Viele Familien sind dann darauf angewiesen, dass auch der zweite Elternteil zumindest in Teilzeit einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Die Notwendigkeit, frühzeitig eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, besteht für Alleinerziehende in noch stärkerem Maß. Voraussetzung dafür ist – wenn die Betreuung des Kindes nicht durch Großeltern oder andere Privatpersonen geleistet werden kann – der Platz in einer Kindertagesbetreuung.
Ab dem ersten Geburtstag steigen die Bedarfsnennungen ebenso wie die Inanspruchnahme daher deutlich an. Bei einjährigen Kindern wünschten sich 2023 65 Prozent der Eltern einen Platz in der FBBE, 39 Prozent konnten einen solchen nutzen, wodurch die Lücke bei rund 27 Prozentpunkten lag. Schon bei den zweijährigen Kindern liegen die Anteile deutlich höher: Der elterliche Bedarf liegt bei 83 Prozent und 66 Prozent der Eltern konnten einen Platz in Anspruch nehmen. Die Lücke ist mit 16 Prozentpunkten somit schon deutlich kleiner als bei den Einjährigen (BMFSFJ 2024).
Seit Einführung des Rechtsanspruchs für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr sind sowohl der Bedarf als auch die Inanspruchnahmequote bei den Jüngsten angestiegen. Dabei gelang es nicht, die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage zu schließen, sie blieb auf einem ähnlich hohen Niveau. Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz kann somit nach wie vor in vielen Fällen nicht erfüllt werden. Dies kann nicht nur erhebliche Belastungen für die Eltern bedeuten und die Bildungschancen der Kinder schmälern. Auch stehen die Eltern dadurch dem Arbeitsmarkt mitunter nur eingeschränkt (als Fachkräfte) zur Verfügung.
Der Zugang zu einem Betreuungsplatz ist nicht für alle gleich
Wie hoch der elterliche Bedarf ist, unterscheidet sich traditionell stark zwischen Ost- und Westdeutschland. So fragen in Westdeutschland 61 Prozent der Eltern eines einjährigen Kindes einen Platz nach, in Ostdeutschland dagegen 85 Prozent. Für Eltern von Zweijährigen ist ein vergleichbarer Zusammenhang zu beobachten, aber auf etwas höherem Niveau. Hier liegt der Bedarf bei 80 Prozent im Westen und 94 Prozent im Osten (ebd.). Diese Differenzen erklären sich durch jahrzehntelang geprägte unterschiedliche Traditionen der FBBE in Ost und West. Eine frühe Betreuung ist im Osten schon lange üblich, während sie im Westen viele Jahre eher unüblich war und nur den Stellenwert einer Notbetreuung im Falle der schweren Erkrankung oder eines anderweitigen Ausfalls der Erziehungsberechtigten hatte. Entsprechend gut war und ist das System in Ostdeutschland ausgebaut und die Differenz zwischen Bedarf und Inanspruchnahme ist verhältnismäßig klein.
Die Verfügbarkeit eines Platzes hängt aber nicht nur vom Wohnort ab. Mit Hilfe von KiBS lässt sich auch zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Kind schon früh in die Kita geht, auch mit Kind- und Familienmerkmalen zusammenhängt: Familien mit Migrationshintergrund oder einer erhöhten Armutsgefährdung nutzten seltener einen Betreuungsplatz für ihr unter dreijähriges Kind als Familien ohne diese Merkmale, obwohl sich die Bedarfe zwischen diesen Gruppen kaum unterscheiden (Kayed et al. 2023). Die Realisierung ihres Platzwunsches gelingt privilegierten Eltern besser als Eltern aus Risikolagen. Vor allem für sozial benachteiligte Kinder und Kinder mit Migrationshintergrund wäre eine Betreuung in einer Kindertagesbetreuung allerdings wichtig, um beispielsweise Unterstützung beim Spracherwerb zu erhalten. Gerade diese werden aber schwerer erreicht.
Kindertagesbetreuung steht auch künftig vor Herausforderungen
Trotz stetiger Bemühungen um einen Ausbau der Kindertagesbetreuung steht – mehr als zehn Jahre nach Einführung des Rechtsanspruchs für Kinder unter drei Jahren – nicht für alle Eltern mit Bedarf ein Betreuungsplatz für ihr Kind zur Verfügung. Eine Ursache hierfür ist der steigende Fachkräftemangel, welcher sich auch in der Kindertagesbetreuung zukünftig womöglich verschärfen wird. Diese Entwicklung zeigt sich bereits in einer ersten quantitativen Untersuchung der AKJStat: So konnte zwar in den letzten Jahren ein Anstieg der geschaffenen Betreuungsplätze verzeichnet werden, der Zuwachs beim Betreuungspersonal hat sich jedoch verlangsamt (Afflerbach et al. 2023).
Hierfür werden verschiedene Lösungsansätze diskutiert. Dabei ist eine pauschale Umfangsbegrenzung aller Plätze, wie von der Bertelsmann-Stiftung (2023) vorgeschlagen wurde, nicht mit der rechtlich zugesicherten Bedarfsgerechtigkeit in Einklang zu bringen, denn einige Eltern haben recht umfangreiche Bedarfe. Allerdings sind es bei weitem nicht so viele Eltern wie derzeit einen entsprechenden Platz gebucht haben, das heißt eine Vollversorgung aller Eltern mit Ganztagsplätzen ist nicht notwendig.
In KiBS-Analysen zeigte sich diese Passungsungenauigkeit am deutlichsten bei Betreuungsumfängen von mehr als 45 Stunden wöchentlich. Eltern, die einen solchen Platz für ihr Kind gebucht hatten, wollten diesen häufig nicht und nutzten ihn auch nicht vollständig. Sie holten also ihre Kinder früher ab oder brachten sie erst später in die Betreuung. Dagegen konnte 2022 etwa ein Fünftel der Eltern mit einem ein- oder zweijährigen Kind, trotz Betreuungswunsch, zum Befragungszeitpunkt (noch) keinen Platz in der FBBE nutzen. Daher trägt neben der Schaffung zusätzlicher Plätze und Personalstellen auch eine gerechtere Verteilung der vorhandenen Kapazitäten, beispielsweise durch variable Buchungszeiten, dazu bei, die Bedarfe der Eltern besser zu decken (Kayed et al. 2023).
Um gerade benachteiligten Familien den Zugang zu einer Kindertagesbetreuung zu erleichtern, gibt es verschiedene Ansätze, Barrieren der Inanspruchnahme aufzulösen. So zeigte eine Studie, dass die Unterstützung beim Bewerbungsverfahren für einen Platz in einer Kindertagesbetreuung die Wahrscheinlichkeit für eine zukünftige Inanspruchnahme durch Familien mit niedrigerem sozioökonomischen Status signifikant erhöht (Hermes et al. 2021).
Letztlich lässt sich bei voller Anerkennung aller Bemühungen doch wieder fordern: Der Platzausbau muss weiter vorangetrieben werden, damit – auch unabhängig von Kind- und Familienmerkmalen sowie Ressourcen der Familie – der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz auch in der Realität umgesetzt werden kann.
Literatur
Afflerbach, Lena Katharina/Meiner-Teubner, Christiane (2023): Kindertagesbetreuung im Jahr 2022 - zwischen Ausbaubedarf und Fachkräftemangel. In: KOMDAT - Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe, Jg. 25, H. 3/22, S. 1–4
Bertelsmann Stiftung (2023): Mehr Plätze und bessere Qualität in Kitas bis 2030 – wenn jetzt entschlossen gehandelt wird. URL: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2023/november/mehr-plaetze-und-bessere-qualitaet-in-kitas-bis-2030-wenn-jetzt-entschlossen-gehandelt-wird
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2024): Kindertagesbetreuung Kompakt. Ausbaustand und Bedarf 2023. Ausgabe 09. Berlin
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2018): Kindertagesbetreuung Kompakt. Ausbaustand und Bedarf 2017. Ausgabe 03. Berlin
Hermes, Henning/Lergetporer, Philipp/Peter, Frauke/Wiederhold, Simon (2021): Behavioral Barriers and the Socioeconomic Gap in Child Care Enrollment. URL: https://www.cesifo.org/DocDL/cesifo1_wp9282.pdf.
Statistisches Bundesamt (2022). Pressemitteilung Nr. 327 vom 4. August 2022. Relatives Armutsrisiko in Deutschland 2021 bei 15,8 Prozent. URL: https://www.destatxis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/08/PD22_327_634.html
Kayed, Theresia/Wieschke, Johannes/Kuger, Susanne (2023): Der Betreuungsbedarf im U3- und U6-Bereich: Zugangsselektivität und bedarfsgerechte Angebote. DJI-Kinderbetreuungsreport 2023. Studie 1 von 7. München. URL: www.dji.de/KiBS
Kayed, Theresia/Hubert, Sandra/Kuger, Susanne (2022): Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Kinderbetreuung, Elternzeit und Coronapandemie. DJI-Kinderbetreuungsreport 2021. Studie 4 von 7. München. URL: www.dji.de/KiBS.
Lippert, Kerstin/Hüsken, Katrin/Kuger, Susanne (2022): Weshalb nehmen Eltern keine Betreuungsangebote in Anspruch?DJI-Kinderbetreuungsreport 2020. Studie 4 von 8. München. URL: www.dji.de/KiBS
Sozialgesetzbuch (SGB) – Achtes Bucht (VIII) – Kinder- und Jungendhilfe – § 24 Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege. URL: https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbviii/24.html
Theresia Kayed, Johannes Wieschke und Susanne Kuger 2024, Herausforderungen der Kindertagesbetreuung: Handlungsbedarf bei den Jüngsten, in: sozialpolitikblog, 19.09.2024, https://difis.org/blog/?blog=120 Zurück zur Übersicht
Theresia Kayed ist seit 2020 im Projekt KiBS der Abteilung „Zentrum für Dauerbeobachtung und Methoden“ am Deutschen Jugendinstitut (DJI) tätig. Die Forschungsschwerpunkte der Soziologin sind Bildung und Betreuung im U3- und U6-Bereich und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
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Dr. Johannes Wieschke ist seit 2020 in der Abteilung „Zentrum für Dauerbeobachtung und Methoden“ tätig, erst in der Corona-KiTa-Studie, seit 2021 im Projekt KiBS. Der Soziologe beschäftigt sich dort vor allem mit der Datenaufbereitung und -bereitstellung sowie mit dem Thema Inanspruchnahme von Kinderbetreuung.
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Prof. Dr. Susanne Kuger ist Forschungsdirektorin des DJI und Professorin für Empirische Sozial- und Bildungsforschung des Kindes- und Jugendalters an der LMU. Die Forschungsschwerpunkte der interdisziplinären Bildungs- und Sozialforscherin liegen in der Untersuchung von Aufwachsenskontexten von Kindern und Jugendlichen in Kindergarten, Schule, Familie und Freizeit und ihrer Bedeutung für ihre gelingende Entwicklung sowie in der Weiterentwicklung von Methoden der Bildungs- und Sozialberichterstattung.
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