Mythos „Neutralitätsgebot“
Politische Bildung ist ein wichtiger Teil der Jugendarbeit. Seit einigen Jahren wird sie jedoch unter Druck gesetzt: Insbesondere extrem rechte Akteure fordern, dass dabei ein Neutralitätsgebot zu erfüllen sei. Der Beitrag dekonstruiert dieses vermeintliche Gebot und ordnet es als strategisches Mittel zum Versuch der Delegitimation positionierter politischer Bildung ein.
Spätestens seitdem die AfD im Jahr 2018 ‚Neutrale Schulen‘-Meldeportale gegen Lehrkräfte etablierte, erlangt der Begriff der Neutralität aktuelle Konjunktur in bildungspolitischen Debatten. Dabei sind nicht nur Lehrkräfte an Schulen betroffen (für den schulischen Kontext vgl. etwa Hentges/Lösch 2021: S. 131–152). Auch Akteure außerschulischer politischer Bildung werden immer wieder wegen des vermeintlichen Problems einer nicht-neutralen Arbeit angegriffen.
Als Bezugspunkte werden das staatliche Neutralitätsgebot sowie der Beutelsbacher Konsens herangezogen. Ersteres formuliert spezifische Neutralitätsverpflichtungen für staatliche Hoheitsträger*innen, Neutralität wird dabei aber keineswegs als „Wertneutralität“ verstanden. Denn schließlich formuliert das Grundgesetz spezifische Werte, insbesondere von Menschenwürde und Demokratieprinzip (Brandt 2022: S. 10). Insbesondere freie Träger als zivilgesellschaftliche Akteure sind nicht in dieselben Verpflichtungen zu nehmen wie staatliche Hoheitsträger*innen, auch die Inanspruchnahme öffentlicher Finanzierung verpflichtet nicht zu denselben Neutralitätsverpflichtungen. Eine rechtliche Einschätzung hierzu findet sich bei Hufen (2018: S. 216–221) sowie Brandt (2022).
Der Beutelsbacher Konsens, der im Nachgang einer politikdidaktischen Tagung 1976 formuliert wurde, skizziert drei Prinzipien schulischer politischer Bildung, wird aber auch außerschulisch rezipiert. Nach dem Überwältigungsverbot dürfen Lehrer*innen Schüler*innen mit Meinungen nicht überwältigen, um sie nicht daran zu hindern, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das Kontroversitätsgebot zielt darauf, dass gesellschaftlich kontroverse Debatten auch im Unterricht kontrovers diskutiert werden. Die Schüler*innen-Orientierung schließlich soll Schüler*innen in die Lage versetzen, selbst die politische Situation und die eigene Position zu analysieren und sich aktiv an politischen Prozessen zu beteiligen. ‚Neutralität‘ ist hier nicht erwähnt.
Um ein vermeintliches ‚Neutralitätsgebot‘ vorzutragen und damit sowohl Kritik an extrem rechten Positionen wie auch vielfaltsbezogene Bildungsarbeit zu diskreditieren, werden beide Bezugspunkte verfälschend verkürzt (Sämann 2021: S. 40ff.). Das staatliche Neutralitätsgebot wird unzulässig ausgedehnt auf jede*n Empfänger*in öffentlichen Finanzierungen. Das Kontroversitätsgebot sowie das Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsens werden als vermeintliches ‚Neutralitätsgebot‘ dargestellt. Eine Analyse des Instituts für Menschenrechte schlussfolgert, dass hier nicht nur die Möglichkeit, sondern eine demokratische Notwendigkeit besteht, dass rechtsextreme und rassistische Positionen in der Bildungsarbeit kritisiert werden – auch und insbesondere, wenn sie von politischen Parteien vertreten werden (Cremer 2019: S. 32).
Neutralitätsforderungen als Strategie der Einflussnahme
Ein ‚Neutralitätsgebot‘ lässt sich für den Bereich der außerschulischen politischen Bildung daher als Mythos ausmachen, als Erzählung, die einen Anspruch auf Geltung für die von ihr behaupteten Wahrheiten formuliert und resistent gegenüber anderweitigen Klärungen erscheint. Vielmehr können die aktuellen Neutralitätsverhandlungen als strategisches Kommunikationsmittel verstanden werden, mit dem insbesondere extrem rechte Akteure agieren, um politische Gegner*innen anzugreifen. Im Fall der außerschulischen politischen Bildung betrifft dies insbesondere solche Träger und Projekte, die mit menschenrechtsbezogenen Positionen sichtbar werden und/oder sich im weitesten Sinne ‚gegen rechts‘ einsetzen. In der oft öffentlichkeitswirksam erfolgenden Adressierung mit der Forderung nach ‚Neutralität‘ wird den Trägern die Verletzung einer professionellen Norm vorgeworfen (etwa nicht-neutral, extremistisch oder indoktrinierend zu agieren) und in der Konsequenz eine Sanktion (Fördermittel- oder Statusentzug) gefordert. Dadurch sollen die konkret adressierten Akteur*innen diskreditiert und an ihrer Arbeit behindert werden.
Über den Einzelfall hinaus wird dieses Vorgehen aber auch dahingehend zum Einflussnahme(versuch), weil sich der Diskreditierungsversuch auf die von den Akteur*innen vertretenen Themen und Arbeitsweisen erstreckt. Dabei soll der Eindruck forciert werden, dass diese Positionierungen bzw. Bildungsarbeit zu diesen Themen generell als nicht legitim zu werten seien: Kritik an Macht- und Ungleichheitsverhältnissen und die Thematisierung egalitärer und emanzipatorischer Gesellschaftsentwürfe wirken dann nicht mehr als erstrebenswerte gesellschaftliche Perspektiven, die legitime Bestandteile politischer Bildungsarbeit darstellen. Damit ist eine Markierung dieser Positionen als vermeintlich ‚nicht neutral‘ als Versuch gesamtgesellschaftlicher Akzeptanzverschiebungen zu werten (vgl. Sämann 2021: S. 104ff) und passt in eine erklärt metapolitisch angelegte Strategie neurechter Akteure, durch Ausweitungen des klassischen Politikbegriffes auf die Sphären des Kultur- und Bildungsbereichs mittelfristig die Grundlagen zu verändern, auf deren Basis politische Entscheidungen getroffen werden (Jorek 2022: S. 79–90).
Effekte in der Trägerlandschaft
Professionspolitischen Positionspapiere weisen Neutralitätsforderungen deutlich zurück. Exemplarisch sei hier auf die Positionen der Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten (AGJF) Sachsen und der Bundesarbeitgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendarbeit e.V. (BAG OKJA) (2023) sowie des Arbeitskreises Deutscher Bildungsstätten (AdB) und des Deutschen Bundesjugendrings (BJR) (2023) verwiesen.
In der Praxis zeigen sich neben Bestärkungen der Nicht-Neutralität, Solidarisierungen mit betroffenen Projekten und offensiven Debattenbeiträgen jedoch auch immer wieder Verunsicherungen über konkrete Möglichkeitsräume, was Positionierungen, Thematisierungen und (Nicht-)Einladungen betrifft (etwa, wenn es darum geht, das Handeln von Parteien zu thematisieren oder um die Frage, ob und wann bestimmte politische Parteien von Veranstaltungen ausgeschlossen werden können). In Interviews, die zwischen 2022 und 2024 im Projekt „Von- und Miteinander Lernen. Kompetenzteams aus außerschulischer Jugendbildung und Sozialpädagogik zur Stärkung politischer Bildung“geführt worden sind, artikulieren Fachkräfte aus Jugendbildungsstätten und der offenen Jugendarbeit: Deutlicher als eine Unsicherheit in Bezug auf die Zulässigkeit des eigenen Handelns im professionellen Rahmen zeigt sich vor allem eine Unsicherheit darüber, inwieweit die professionelle Normativität auch außerhalb der eigenen Profession Anerkennung findet. Man kann sich zwar sicher sein, in der eigenen Bildungsarbeit nicht neutral sein zu müssen, es ist aber nicht gewiss, inwieweit dies auch durch andere Akteure in Politik und Verwaltung anerkannt wird.
Da vielfach sowohl Projekte der politischen Bildung als auch Einrichtungen der Jugendarbeit auf knappe und befristete Finanzierungsstrukturen zurückgreifen (müssen), ist hier in der Verwiesenheit auf öffentliche Anerkennung ein zusätzliches Prekarisierungsmoment gegeben. Diese generelle Prekarität des Feldes muss mitbedacht werden, wenn die diskursiven Verhandlungen um ‚Neutralität‘ in ihrem Einfluss auf das Feld der außerschulischen politischen Bildung betrachtet wird.
Bildungsarbeit stärken und Auseinandersetzung mit dem ‚Neutralitäts‘-Diskurs fördern
Resümierend lässt sich zunächst festhalten, dass in der Bildungsarbeit eine kritische Auseinandersetzung an Neutralitätsvorstellungen angebracht ist (und erfolgt). Weitergehend wäre zu fragen, wie diese Nicht-Neutralität inhaltlich zu füllen wäre, welche Gesellschaftsanalysen für politische Bildungsprozesse herangezogen werden und inwieweit ein emanzipatorisches Potential von Bildung als Beitrag zur Entwicklung einer politischen Mündigkeit ermöglicht werden kann. Es ist wichtig, sich auf Nicht-Neutralität zu einigen, und ebenso so wichtig, zu formulieren, wie diese Nicht-Neutralität in der Praxis aussieht.
Daneben ist eine Absicherung von außerschulischen Handlungsfeldern politischer Bildung sowie strukturelle und langfristige Fördermöglichkeiten gerade für freie und zivilgesellschaftliche Bildungsträger notwendig, denn Projektförmigkeit und Befristungen prekarisieren das Feld und vergrößern die Abhängigkeit von (förder-)politischen Entscheidungen sowie deren Empfänglichkeit für politische Interventionen.
Hinsichtlich der aktuell vorgetragenen Neutralitätsdebatte braucht es eine dezidierte Auseinandersetzung mit den dabei erfolgenden Diskursverschiebungen. Neutralitätsforderungen müssen nicht (nur) dahingehend beantwortet werden, dass situative Möglichkeitsräume geprüft und verteidigt werden. Sie sollten auch dezidiert als strategische Einflussnahmeversuche auf professionelles Handeln adressiert werden, mit denen nicht nur die Autonomie freier Träger, sondern demokratische Positionierungen und Arbeitsweisen an sich angegriffen werden.
Literatur
Brandt, Leon (2022): Extrem neutral? Verfassungs-, Sozial- und Datenschutzrecht: Anforderungen und Potenziale für politische Bildung, Extremismusprävention, Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit mit rechtsextremen Kindern und Jugendlichen. Berlin. Online verfügbar unter https://www.cultures-interactive.de/files/publikationen/Flyer%20Broschueren%20Dokumentationen/2022%20Rechtsexpertise%20Leon%20Brandt%20Extrem%20neutral.pdf.
Cremer, Hendrik (2019): Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien? Berlin. Online verfügbar unter https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ANALYSE/Analyse_Das_Neutralitaetsgebot_in_der_Bildung.pdf.
Hentges, Gudrun; Lösch, Bettina (2021): Politische Neutralität vs. politische Normativität in der politischen Bildung. In: Manuel S. Hubacher und Monika Waldis (Hg.): Politische Bildung für die digitale Öffentlichkeit. Umgang mit politischer Information und Kommunikation in digitalen Räumen. Wiesbaden: Springer VS, S. 131–152.
Hufen, Friedhelm (2018): Politische Jugendbildung und Neutralitätsgebot. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 66 (2), S. 216–221.
Jorek, Tim (2022): Alain de Benoist: Kulturrevolution von rechts. In: David Meiering (Hg.): Schlüsseltexte der „Neuen Rechten“. Kritische Analysen antidemokratischen Denkens. Wiesbaden, Heidelberg: Springer VS, S. 79–90.
Sämann, Jana (2021): Neutralitätspostulate als Delegitimationsstrategie. Eine Analyse von Einflussnahmeversuchen auf die außerschulische politische Jugendbildungsarbeit. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag.
Jana Sämann 2024, Mythos „Neutralitätsgebot“, in: sozialpolitikblog, 08.08.2024, https://difis.org/blog/?blog=125 Zurück zur Übersicht
Jana Sämann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Seminar für Sozialwissenschaften sowie im Graduiertenkolleg „Folgen sozialer Hilfen“ an der Universität Siegen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der sozialarbeiterischen Professionsforschung, in der Beschäftigung mit außerschulischer politischer Bildung in den Handlungsfeldern der Jugendarbeit und hier insbesondere in der Kritik von Anrufungen nach Neutralität.
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