100 Jahre Arbeitnehmerkammer Bremen
Arbeitnehmerkammern sind eine sozialpolitische Rarität. Es gibt sie nur in Luxemburg und Österreich sowie in den deutschen Bundesländern Saarland und Bremen. Vor 100 Jahren konnten in Bremen Arbeitnehmerkammern ihre Arbeit aufnehmen.
Die 1921 per Gesetz eingerichteten beiden Kammern für Arbeiter und für Angestellte stellten das lange ersehnte sozial- und gesellschaftspolitische Gegengewicht zu den bürgerlichen Interessensvertretungen der Handels- und Gewerbekammern dar. Von Friedrich Ebert schon 1901 vorgeschlagen und über mehrere Jahrzehnte vor allem auf der Straße erkämpft, war ihre Gründung Ausdruck des wachsenden Selbstbewusstseins der Arbeitnehmer*innen, wenn auch noch getrennt nach Arbeitern und Angestellten, aber Wendepunkt in der Geschichte der Interessensvertretung und Spiegelbild historischer Großwetterlagen. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts erfüllt die inzwischen alle Arbeitnehmergruppen umfassende Arbeitnehmerkammer Bremen heute Aufgaben zur Wahrung der allgemeinen Interessen von Arbeitnehmer*innen unter Einbeziehung von Weiterbildung und Politikberatung (Gesetz über die Arbeitnehmerkammer im Lande Bremen).
Trotz parteipolitischer Vorbehalte: Die Durchsetzung einer Idee
Der Sozialdemokrat Erich Sanders ist 1888 der Erste, der einen Antrag zur Gründung einer Arbeiterkammer in die Bremische Bürgerschaft einbringt. Aus Sorge, eine solche Institution könnte zur Stärkung der sozialistischen Kräfte beitragen, wird der Antrag jedoch von der Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt. 1901 stellt Friedrich Ebert, der spätere Reichspräsident, als Abgeordneter der Bremischen Bürgerschaft erneut einen Antrag zur Gründung einer Arbeiterkammer – diesmal mit konkreten Vorstellungen zum Arbeitsfeld sowie ihrer personellen Zusammensetzung. Doch auch sein Antrag findet keine Mehrheit.
Erst durch die Streikbewegungen 1918/19 im Zuge der Novemberrevolution nach dem Ersten Weltkrieg wird die Debatte um die Errichtung von Angestellten- und Arbeiterkammern weitergeführt. Die Sozialdemokraten plädieren für eine öffentlich-rechtliche Interessenvertretung der Arbeiterschaft – auch, um die revolutionären Teile der Arbeiterschaft zu besänftigen und einzubinden. 1919 kommt es zum Entwurf einer Bremer Verfassung, in den auch Angestellten- und Arbeiterkammern aufgenommen werden. Die Ausgestaltung der Kammern basiert dabei u.a. auf den Vorarbeiten Friedrich Eberts. Am 8. Juli 1921 wird schließlich das Gesetz für die Angestellten- und Arbeiterkammern durch eine bürgerlich-rechte Mehrheit in der Bremischen Bürgerschaft verabschiedet. Zur Finanzierung werden die Kammern mit einem Sockelbetrag von ca. 200.000 Mark ausgestattet und ihnen wird zudem das Recht eingeräumt, die bremischen Berufsvereinigungen bzw. Arbeiterberufsvereinigungen zu Beitragszahlungen zu verpflichten.
Nach einer Konstituierungsphase, in der ihre organisatorische Form festgelegt wird, nehmen beide Kammern ihre Regeltätigkeiten auf. Hierzu gehören zwischen 1925 und 1929 gutachterliche Tätigkeiten und Eingaben an den Senat zur Arbeitslosenfürsorge, zu Arbeitszeitregelungen und zum Arbeitsschutz. Darüber hinaus sind die Kammern in der Rechtsberatung, zum Beispiel zum Lehrlingsschutz oder Rentenanspruch, aktiv. Die Bildungsarbeit beider Kammern umfasst vornehmlich Fachvorträge zu sozialen und wirtschaftlichen Themen sowie die Einrichtung von kammereigenen Bibliotheken. Die Auslandsschule der Angestelltenkammer bietet Weiterbildungen zur Sprache sowie zu den Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnissen jener Länder an, mit denen Bremen Handelsbeziehungen unterhält.
Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 hat weitreichende Folgen für die Bremer Arbeiter- und Angestelltenkammern. Zügig werden die Mitarbeiter*innen beider Institutionen durchleuchtet und unliebsame Personen aus dem Dienst entfernt. Unter neuer Leitung werden Arbeiter- und Angestelltenkammer rasch entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie umstrukturiert und neue Ziele für die Kammern definiert. Neben dem Anliegen, sich durch Propagandamaßnahmen öffentlich zu präsentieren und dadurch Arbeitnehmer*innen für den Nationalsozialismus zu gewinnen, wird die „Erziehungsarbeit im nationalsozialistischen Sinne“ zum Schwerpunkt. Trotz der inhaltlichen und personellen Umstrukturierung stehen die Kammern für die Nationalsozialisten von Beginn an für eine sozialdemokratische Tradition und in unmittelbarer Konkurrenz zur Deutschen Arbeitsfront. Am 6. Mai 1935 veranlasst daher der Bremer Bürgermeister Karl Hermann Otto Heider die Liquidierung beider Kammern. Nach mehr als 15 Jahren, in denen die Kammern sich erfolgreich im Bremer Politikbetrieb etabliert und tausende Beratungen sowie zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien durchgeführt hatten, werden sie am 31. März 1936 durch die Nationalsozialisten aufgelöst.
Die Wiedergeburt der Kammeridee
Bereits im Sommer 1945 kommt es zur Neugründung beider Arbeitnehmerkammern. Zunächst sind wieder organisatorische Aspekte zu klären. Vor allem die Frage, ob die Kammermitgliedschaft und damit die Beitragszahlungen freiwillig oder verpflichtend sein sollen, bestimmt den Diskurs dieser Zeit. Im Jahr 1956 wird die Mitglieds- und Beitragspflicht schließlich auf der Grundlage eines neuen Kammergesetzes für alle Arbeitnehmer*innen im Land Bremen festgelegt. Eine Regelung, die bis heute gilt.
In den folgenden Jahrzehnten gelingt es beiden Kammern, ihre öffentliche Sichtbarkeit zu erhöhen. Im Bereich der beruflichen und politischen Weiterbildung nehmen Arbeiter- und Angestelltenkammer eine dominierende Position in Bremen ein. Darüber hinaus prägen die beiden Kammern die Bremische Politik und Gesellschaft durch ihre politische Beratungsarbeit, die Einführung des Bildungsurlaubs, die offene, unentgeltliche Rechtsberatung, Maßnahmen zur Integration von Gastarbeiter*innen sowie durch die Kooperation mit der 1971 gegründeten Universität, hier v. a. durch Wissenstransfer im Bereich Gesundheits- und Arbeitsschutz. Diese Bereiche stellen bis heute weiterhin den inhaltlichen Kern der Kammerarbeit dar.
Fusion und politischer Einfluss
Am 1. Januar 2001 – 80 Jahre nach ihrer Gründung – fusionieren die Angestellten- und die Arbeiterkammer im Land Bremen zur Arbeitnehmerkammer. Die Fusion ist keine Liebeshochzeit. Die Gründe hierfür sind vor allem ein defizitärer Haushalt der Angestelltenkammer sowie die in Teilen fragwürdige Ausweitung und Ausgestaltung ihrer Aufgabenfelder. So wurde bekannt, dass EU-Gelder über eine Tochter der Angestelltenkammer vermutlich für verschiedene Projekte im Ausland eingesetzt worden waren. Das Bremer Kammergesetz gestattete den Einsatz solcher Ressourcen jedoch nur innerhalb Bremens und Bremerhavens. Die Aufsichtsorgane der Arbeitnehmerkammern sahen sich daher gezwungen Reformen herbeizuführen.
Arbeitnehmerkammern braucht das Land?!
Die Arbeitnehmerkammer ist heute fester Bestandteil der bremischen politischen Landschaft. Dennoch bleibt es schwierig, ihren tatsächlichen Einfluss zu dokumentieren. Es ist offensichtlich, dass sie Begleiterin politischer und gesellschaftlicher Debatten war und ist. Die Arbeitnehmerkammer hat im Laufe ihres Wirkens zahlreiche Themen auf die politische Agenda gesetzt und durch entsprechende Initiativen im Bereich Bildung und Beratung entwickelt. Insbesondere ihr Wirken im Kontext von Arbeitsmigration, -schutz und -recht ist hierbei erwähnenswert. Dadurch verleiht sie der ohnehin stark um gesellschaftlichen Ausgleich bemühten Politik in Bremen zusätzlichen Halt, ohne dass es gelungen ist negative Entwicklungen, vor allem in Hinblick auf die soziale Spaltung des Landes, abzumildern (weiterführende Informationen zur bremischen Finanz- uns Sozialpolitik in Politik und Regieren in Bremen).
Arbeitnehmerkammern bieten mit Blick auf aktuelle Transformationsprozesse in Gesellschaft und insbesondere in der Arbeitswelt auch über Bremen hinaus ein großes Potential. Das Auseinanderdriften von Einkommen, Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, Verlust von Tarifbindungen, aber auch Entwicklungen im Bereich von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz sind Herausforderungen, die nicht im Kleinen gelöst werden können. Hierzu braucht es eine ganzheitliche Perspektive. Arbeitnehmerkammern sind demokratisch legitimiert, dem Gemeinwohl verpflichtet und vertreten die Belange aller Beschäftigen. Dadurch sind sie bei Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Politik anerkannte Akteure (Allparteilichkeit), wodurch ein Brückenschlag zwischen konfligierenden Interessen leichter gelingen kann.
Julia Gantenberg, Andreas Klee und Hendrik Schröder 2022, 100 Jahre Arbeitnehmerkammer Bremen, in: sozialpolitikblog, 24.11.2022, https://difis.org/blog/?blog=38 Zurück zur Übersicht
Dr. Julia Gantenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Wissenschaftskommunikatorin am Zentrum für Arbeit und Politik an der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bürgerbeteiligung/Citizen Science, Partizipation und Wissenstransfer.
Bildnachweis: Jasper Wessel
Prof. Dr. Andreas Klee ist Direktor des Zentrums für Arbeit und Politik an der Universität Bremen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Demokratie- und Partizipationsforschung sowie bremische Landespolitik.
Dr. Hendrik K. Schröder arbeitet als Universitäts-Lektor an der Universität Bremen im Bereich Politikwissenschaft und Didaktik.