Ungleichheitskritik, die sich nach unten richtet
Sozialpolitische Themen regen viele Menschen auf, wenn sie mit moralischen Grunderwartungen brechen und die vermeintlich Schuldigen gleich mitliefern, sagt „Triggerpunkte"-Co-Autor Thomas Lux. Im Interview spricht er darüber, welche politischen Akteure das für sich nutzen, warum Klimathemen derzeit noch mehr triggern und wie Forschende reagieren können, wenn ihre Themen emotional aufgeladen werden.
Interview: Anna Hokema, Johanna Ritter
Mit „Triggerpunkte“ habt ihr kein sozialpolitisches Buch herausgebracht, dennoch taucht der Sozialstaat an einigen Stellen im Text auf. Du hast auch zu sozialpolitischen Themen geforscht. Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten sozialpolitischen Erkenntnisse aus „Triggerpunkte“?
Wir können einige Dinge bestätigen, die die sozialpolitische Forschung und die Ungleichheitsforschung bereits gezeigt hat. Dazu gehört ein vergleichsweise starker Zuspruch für einen Sozialstaat, der über den Lebenslauf verteilt. Zudem gibt es ein weitverbreitetes Unbehagen mit der aktuellen Entwicklung: Die Ungleichheit wird als zu groß wahrgenommen und der Staat soll hier stärker intervenieren. Wenn man allerdings nach konkreten Maßnahmen zur Umverteilung von oben nach unten fragt, zum Beispiel nach der Erhöhung der Grundsicherung oder der Erbschaftssteuer, dann nimmt die Zustimmung ab, der Konsens bröckelt. In den generellen Haltungen können wir aber einen relativ breiten Konsens feststellen.
Triggern sozialpolitische Themen denn gar nicht?
Das Thema der materiellen Ungleichheit ist im Vergleich zu den anderen Themen, die wir im Buch untersuchen, also Migration, Diversität, Klima, vergleichsweise wenig emotionalisiert. Das erscheint merkwürdig, denn die Leute sehen die zunehmende Ungleichheit ja durchaus mit Unbehagen. Es gibt aber Erklärungen für diese scheinbar paradoxe Situation. Erstens handelt es sich bei den Auseinandersetzungen um materielle Ressourcen um einen politisch alten und etablierten Konflikt. Die gesellschaftlichen Akteure sind gewissermaßen bekannt und es gibt klare Zuständigkeiten, an die man seine Interessen delegieren kann, zum Beispiel Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Betriebsräte, Wohlfahrtsverbände. Zudem lassen Auseinandersetzungen um materielle Ressourcen viel eher Kompromisse zu: Man kann sich viel eher darauf einigen, dass der Umverteilungsgrad etwas höher oder etwas niedriger ausfällt, während Klima-Kipppunkte entweder vermieden werden oder eben nicht. Auch die Anerkennung von trans* Personen gibt es nicht häppchenweise. Ein weiterer Grund für die schwache Emotionalisierung ist der weitverbreitete Meritokratieglaube. Viele Leute sind der Meinung, dass es in unserer Gesellschaft weitgehend leistungsgerecht zugeht, selbst wenn hier und da die Karten vielleicht gezinkt sein mögen. Aus so einer Perspektive sind die Gewinner*innen der ökonomischen Entwicklung eben auch die Menschen, die am meisten leisten. Und wer so über Ungleichheit denkt, der nimmt Ungleichheit hin, ohne großartig aufzubegehren.
Ihr konntet allerdings feststellen, dass das Gefühl der Ungleichbehandlung triggern kann.
Ja, es gibt beim Thema Umverteilung auch Punkte, an denen Dissens aufbricht und die Menschen besonders emotional werden. Triggerpunkte finden sich typischerweise dort, wo tief verankerte moralische Grunderwartungen verletzt werden. Und eine dieser Grunderwartungen sind Vorstellungen von Fairness, die verletzt werden, wenn es zu Ungleichbehandlungen kommt. Das können ungerechten Benachteiligungen sein, aber auch ungerechte Bevorteilungen. Nehmen wir das Beispiel der Erhöhung der Grundsicherung. Das Thema triggert viele, weil sie glauben, die Leistungen reichen nicht aus, um in unserer Gesellschaft ein würdiges Leben führen zu können. Andere werden von diesem Thema hingegen getriggert, weil sie meinen, hier würden Menschen, die wenig leisten, zu viel vom Staat bekommen. Diese letztgenannte Sicht ist besonders bei Arbeiter*innen und Geringverdiener*innen verbreitet. Gerade weil diese Gruppen den Leistungsempfänger*innen ökonomisch und sozial nahestehen, pochen sie umso mehr auf die moralischen Unterschiede. Ihre Ungleichheitskritik richtet sich also nicht nur nach oben, sondern auch und vor allem nach unten. Damit aber Trigger wirken, müssen sie politisch gesetzt und immer wieder bespielt werden. Das heißt auch, dass Trigger-Themen von unterschiedlichen Seiten aufgezogen werden können, je nachdem welche Aspekte eines Themas salient gemacht werden.
Ist die eigentliche Frage dann, welche politischen Akteure in der Lage sind, mit sozialpolitischen Themen zu triggern oder zu emotionalisieren?
Ja, genau! Wobei man sagen muss, dass die klassischen linken Akteure, die sozialpolitische Themen besetzen und salient machen, in den vergangenen Jahren stark geschwächt wurden: Die Gewerkschaften haben in den letzten 30 Jahren viele Mitglieder verloren und die Hartz IV-Reform hat der Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie enorm zugesetzt. Das passt zur Diagnose von Klaus Dörre, der in Deutschland eine „demobilisierte Klassengesellschaft“ sieht: Die Ungleichheit wird zwar noch klassenförmig erlebt, aber den Verlierer*innen der ökonomischen Entwicklung sind die politischen Einwirkungsmittel aus den Händen geglitten. Man hat generell nicht mehr viel Hoffnung, etwas verändern zu können. Zudem ist der Gegenwind gegen sozialpolitische Maßnahmen extrem hoch, wenn Umverteilungsarrangements erst einmal zurückgebaut wurden.
Wer triggert heute in der „Oben-Unten-Arena“, also dem Bereich, in dem es um soziale Fragen geht?
Umverteilungsthemen werden sowohl von linker als auch von rechter Seite emotionalisiert. Allerdings scheint die rechte Seite erfolgreicher dabei zu sein, bestimmte Themen zu skandalisieren. Ihre Art der Argumentation ist für viele Menschen intuitiv plausibel. Denn sie skandalisiert nicht nur den Bruch bestimmter moralischer Grunderwartungen, sondern liefert häufig die vermeintlich Schuldigen gleich mit: die „faulen Arbeitslosen“ oder die „integrationsunwilligen Migranten“. Auf linker Seite wird zwar auch auf konkrete Betroffene hingewiesen, die Verantwortlichkeit aber häufig in abstrakten Mechanismen des Kapitalismus verortet. Damit fehlt ein klarer Gegner. Zudem scheinen sich konservative und rechts eingestellte Menschen leichter triggern zu lassen: Wer den Eindruck hat, dass sich die Gesellschaft immer nur in eine Richtung bewegt – nämlich weg von einem selbst – der reagiert sehr gereizt auf jede weitere Veränderungszumutung. In einer solchen Konstellation lassen sich Trigger sehr effektiv nutzen, um progressive Reformen abzuwehren. Das wissen nicht nur konservative politische Akteure, sondern auch Akteure im Raum der klassischen und sozialen Medien, die mit Trigger-Themen den emotionalen Mehrwert ihrer Leser*innen und User*innen abschöpfen wollen.
Welche Rolle spielt der Sozialstaat in den verschiedenen Ungleichheitsarenen und der Mobilisierung bestimmter Themen? Beim Lesen entsteht der Eindruck, dass er auch in den Arenen, in denen er nicht explizit genannt wird, so etwas wie eine normative Hintergrundfolie bildet.
Ja, das stimmt ein Stück weit. Am naheliegendsten ist das vielleicht beim Klimathema. Da dreht sich die aktuelle Diskussion sehr stark darum, wer die Kosten des Klimaschutzes trägt. Und gerade auf den unteren Sprossen der sozialen Leiter ist man nicht per se gegen Klimapolitik, aber hat doch oft die Befürchtung, die klimapolitischen Maßnahmen finanziell nicht schultern zu können. Wenn beim Klimathemathema also die soziale Frage unzureichend adressiert wird, verliert man diese Bevölkerungsteile und bringt sie in Gegnerschaft. Es gibt in der Öffentlichkeit generell den Eindruck, dass die Lasten fair verteilt werden sollten und klimapolitische Maßnahmen sozialpolitisch abgefedert werden müssen. Das ist ein Ansatzpunkt für einen ökologisch ausgerichteten Sozialstaat. Aber hier liegt auch großer Sprengstoff, denn irgendjemand wird letztlich die Kosten tragen müssen. Konflikte können sich aber auch an der Frage entzünden, wer für den Klimawandel verantwortlich ist, wer also am meisten CO2 verursacht, ebenso bei der Frage, wer die Konsequenzen des Klimawandels am stärksten zu spüren bekommt. Diese Fragen werden auf internationaler Ebene seit langem diskutiert, in Deutschland bislang wenig. Aber auch für Deutschland gilt ja, dass Reiche sehr viel mehr CO2 ausstoßen und dass die ärmeren Gruppen deutlich stärker von der globalen Erhitzung betroffen sind, weil sie eben häufig im Freien arbeiten, sich häufig keine Klimaanlage leisten können und Hitzeperioden auf Grund von Vorerkrankungen viel stärker gesundheitlich zu Buche schlagen. Das sind alles Fragen, die unter dem Gesichtspunkt der Fairness thematisiert und verhandelt werden müssten. Ein ökologisch ausgerichteter Sozialstaat wäre hier ein sehr wichtiger Akteur.
Findet dieser Wandel nicht gerade jetzt statt, möglicherweise auch aufgrund von jahrelanger Mobilisierung der Klima- und Klimagerechtigkeitsbewegungen? Es gibt ja durchaus erste politische Ansätze, Klimapolitik sozial zu gestalten, die auch schon im Bundeskabinett und im Parlament ausgehandelt werden. Andererseits werden diese gerade durch Argumente ausgebremst, die darauf abheben, dass die soziale Gestaltung der Klimapolitik zu viel koste.
Ja, es wird durchaus versucht, sozialstaatliche Arrangements zu finden, um Klimapolitik sozial abzufedern. Doch das befindet sich gegenwärtig noch stark in der Aushandlung. Deswegen gibt es auch so viel Gegenwind. Ein wichtiger Punkt ist dabei sicher auch, dass die massivsten Kosten der Klimaerhitzung relativ weit in der Zukunft liegen. Es ist deswegen unklarer als bei anderen Themen, welche genauen Kosten auf uns zukommen. Die Wissenschaft weist hier zwar immer wieder nachdrücklich auf katastrophale Szenarien hin, aber solche Szenarien lassen sich viel einfacher ignorieren, wenn Sie nur auf dem Papier stehen und sich nicht aktuell vor der eigenen Haustür abspielen. Die Kosten des klimapolitischen Handelns sind gegenwärtig noch deutlich greifbarer als die Kosten des klimapolitischen Nichthandelns.
Müsste der Sozialstaat da nicht klar im Vorteil sein? Er muss ja schließlich immer mit Entwicklungen der Zukunft rechnen.
Natürlich hat der Sozialstaat als Absicherer von Risiken einen starken Zukunftsbezug. Doch beim Klimathema stellt sich die Zukunftsfrage auf besondere Weise: Wann werden sich welche Folgen der Klimaerhitzung zeigen? Wieviel Zeit bleibt, um gegenzusteuern? Wieviel muss gegengesteuert werden? Je nachdem, wie man diese Fragen beantwortet, kommt man zu unterschiedlichen klimapolitischen Arrangements, die auch unterschiedliche sozialpolitische Arrangements notwendig machen. Die Klimaforschung legt hier relativ eindeutige Befunde vor, doch es wird eben auch politisch verhandelt, was eigentlich die Wirklichkeit sein wird, anhand derer wir Klima- und Sozialpolitik ausrichten müssen. Dabei geht es meistens nicht darum, ob der Klimawandel stattfindet, sondern wann was und wie viel getan werden muss. Und hier liegt der Sprengstoff in den Debatten.
Welche Rolle sollte die Forschung dabei einnehmen? Worauf sollte sie sich konzentrieren?
Wissenschaftler*innen sollten dazu beitragen, Debatten zu versachlichen. Es gilt darüber aufzuklären, wie und warum über bestimmte Themen gestritten wird, aber auch darüber, zu welchen Themen eigentlich Konsens herrscht. Wenn Menschen beispielsweise immer wieder medial vermittelt bekommen, dass die Gesellschaft über viele Themen hinweg in zwei Lager gespalten sei, obwohl sie das eigentlich nicht ist, könnte das dazu führen, dass sich die Menschen tatsächlich auf eine Seite im vermeintlichen Kulturkampf schlagen. Aus vermeintlicher Polarisierung wird dann echte Polarisierung. Zudem scheinen Menschen massiv zu unterschätzen, wie groß die Unterstützung für klimapolitische Maßnahmen in der Bevölkerung ist. Das ist ein Problem, wenn Menschen ihre Unterstützung danach ausrichten, wie verbreitet eine solche Unterstützung ihrer Meinung nach in der Bevölkerung ist. Hier ist soziologische Aufklärung notwendig.
Deine Empfehlung ist also, sich als Forscher*in versachlichend in den öffentlichen Diskurs einzumischen, also dem Triggern etwas entgegenzuhalten?
Ja, unbedingt. Ein Einmischen ist notwendig, aber eben als Wissenschaftler*in und nicht als politische Aktivist*in.
Müssen denn nicht auch Wissenschaftler*innen den Sprung von den sachlichen Argumenten zu den Emotionen schaffen, damit ihre Botschaften ankommen, gerade in einer Welt, in der ja das getriggerte Argument immer viel lauter sein wird als die sachlichen Fakten?
Ich denke, man kann sachliche Information durchaus auch emotional verpacken. Man sollte aber zwischen Emotionalisierung und Triggern unterscheiden. Beim Triggern geht es oft darum, sich ein Detailthema herauszupicken und das – unter Ausblendung seines sachlichen Gehalts – im Modus der übersteigerten Wut und Empörung zu kommunizieren. Man triggert, damit die Leute sich aufregen und Konflikte entstehen. So etwas kann schnell dysfunktional werden und zu einer Verrohung des Diskurses führen. Emotionalisierung ist demgegenüber nicht zwingend auf starke negative Affekte ausgerichtet. Man kann auch positiv emotionalisieren. Zudem gibt es hier mehr Raum für rationale Gegenargumente.
Ihr habt ein Buch für eine breite Leser*innenschaft geschrieben, statt euch erst einmal auf wissenschaftliche Publikationen zu konzentrieren. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Wir haben 2019 eine kleine Vorgängeruntersuchung mit der Innovations-Stichprobe des Sozio-ökonomischen Panels durchgeführt und waren erstaunt, wie wenig gesellschaftliche Polarisierung und wie viel Konsens wir dabei gefunden haben. Die Befunde widersprachen dem medialen Diskurs, in dem ja häufig von Spaltung die Rede ist. Und uns war schnell klar, dass das ein Thema ist, dass eine breitere Öffentlichkeit interessieren könnte. Uns war aber auch zwei weitere Dinge klar: Wir brauchten eine breitere empirische Basis und haben deshalb eigene quantitative und qualitative Erhebungen durchgeführt. Und wir mussten eine Darstellungsform und Sprache finden, die sowohl für eine breitere Öffentlichkeit funktioniert als auch für die Wissenschaftscommunity. Dass das Buch nun so viele Leser*innen gefunden hat und dass auch wissenschaftlich daran angeschlossen wird, freut uns enorm.
Thomas Lux 2024, Ungleichheitskritik, die sich nach unten richtet, in: sozialpolitikblog, 05.09.2024, https://difis.org/blog/?blog=129 Zurück zur Übersicht
Dr. Thomas Lux hat Soziologie an der Freie Universität Berlin studiert und 2017 an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS) promoviert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) und am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (Socium). Aktuell lehrt und forscht er am Lehrbereich Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschung zur politischen Soziologie der Ungleichheit wurde mehrfach ausgezeichnet. Zusammen mit Steffen Mau und Linus Westheuser veröffentlichte er 2023 das vieldiskutierte Buch „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (Suhrkamp).
Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser (2024) Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft Suhrkamp, Frankfurt a.M.