Streitpunkt Regelbedarfsbemessung im Bürgergeld
Wie hoch die Regelsätze im Bürgergeld sein sollen, ist politisch seit Jahren sehr umstritten. Jenseits der politischen Debatte gibt es auch verfassungsrechtliche Anforderungen an das Existenzminimum, sagt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Wie großzügig es seine Kompetenzen auslegen darf, fragt dieser Beitrag aus interdisziplinärer Perspektive.
Das Bundesverfassungsgericht folgert aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, dass es prüfen darf, ob die Leistungen deutlich zu niedrig sind und, ob das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums dem Ziel des Grundrechts entspricht. Das BVerfG setzt also nicht die konkrete Höhe des Regelbedarfs im Bürgergeld fest, behält sich aber eine Kontrolle darüber vor, ob sich das gesetzgeberische Ergebnis rechtfertigen lässt.
Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt
In Rechtsprechung und Rechtslehre ist umstritten, woraus sich solche Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren ergeben können. Zunächst ist der demokratisch gewählte Gesetzgeber nach dem Grundgesetz innerhalb des dort geregelten Verfahrens frei, den Inhalt der zu erlassenden Gesetze festzulegen. Befürworter ziehen für solche Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren das Rechtsstaatsprinzip und/oder die Grundrechte heran. Nach unserer Ansicht lassen sich solche Vorgaben an den Gesetzgeber jedoch nicht allgemein aus der Verfassung herleiten, sondern nur in konkreten Konstellationen, hier aus den Besonderheiten des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
Das Rechtsstaatsprinzip scheidet als Herleitung von Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren aus, da es nicht höherrangig als das ebenfalls in der Verfassung verankerte Demokratieprinzip ist. Auch auf die Grundrechte kann nicht in allen Bereichen zurückgegriffen werden. Befürworter dieser Ansicht lesen in die Grundrechte sogenannte Optimierungsgebote hinein. Das Recht sei also stets so auszulegen, dass die Grundrechte optimal zur Geltung kommen. Eine Begründung, woraus sich diese Optimierungsgebote ergeben, bleibt diese Ansicht aber letztlich schuldig. Zumindest kann so nicht für alle Politikfelder eine Bindung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers begründet werden.
Das konkrete Grundrecht – das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums – ist jedoch als Anknüpfungspunkt geeignet. Dies ergibt sich aus dem Spielraum des Gesetzgebers bei der Festsetzung der konkreten Höhe, verbunden mit der hohen Bedeutung der Existenzsicherung. Weil der Gesetzgeber einen gewissen Spielraum bei der Festsetzung der Höhe hat, muss er akzeptieren, dass das Ergebnis daraufhin überprüft wird, ob es sich plausibel herleiten lässt. Wegen der essentiellen Bedeutung des Existenzminimums kann dieses etwa nicht einfach willkürlich festgesetzt werden, sondern muss nachvollziehbar und zurechtfertigen sein.
Umfang der Anforderungen an den Gesetzgeber
Wie weit aber dürfen solche Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber gehen? Das BVerfG überprüft, ob Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren im Ergebnis zu rechtfertigen sind.
Gegen zu enge Anforderungen sprechen die Gewaltenteilung und – wie erwähnt – das Demokratieprinzip. Dabei bleiben Ansätze, die auf die Gewaltenteilung rekurrieren, eher blass. Das Demokratieprinzip ist vielversprechender: Politische Prozesse unterliegen einer anderen Logik als etwa wissenschaftliche (politische Handlungslogik). Deshalb darf der Spielraum für politische Kompromisse nicht zu sehr eingeschränkt werden (dazu: Steinbach 2017: S. 205 ff.). Kompromisse erfolgen entweder als Entgegenkommen in Hinblick auf den konkreten Streitgegenstand oder durch „Koppelungsgeschäfte“, bei denen die Gegenleistung für das Nachgeben beim aktuellen Konflikt ein (künftiges) Nachgeben der anderen Seite bei einem anderen Streitgegenstand ist. Bei beidem wird es sich häufig nicht um völlig stringente Lösungen handeln.
Dies zeigt auch eine Anwendung der sog. „Vetospieler“-Theorie aus dem politikwissenschaftlichen Zusammenhang. Diese Theorie untersucht die Rolle von Vetospielern in politischen Systemen und hat sich als Konzept bewährt, um institutionelle Strukturen und Akteure zu analysieren, die die politische Handlungsfähigkeit beeinflussen (Tsebelis 2002). Vetospieler können als individuelle Personen, politische Parteien, Interessengruppen oder Institutionen auftreten, die über ein Vetorecht verfügen oder anderweitig die Möglichkeit haben, politische Entscheidungen zu blockieren oder zu verzögern (zum BVerfG: Hönnige/Gschwend 2010: 507 ff.). In einem pluralistischen System, das von zahlreichen Vetospielern geprägt ist, darunter das BVerfG, sind politische Kompromisse essentiell. Gibt es mehrere Vetospieler stellt dies eine komplexe Herausforderung für die Umsetzung von Gesetzgebungsverfahren dar und erfordert häufig ausgeklügelte Kompromisslösungen. Dies wird teilweise nur unter Inkaufnahme suboptimaler Kompromisse möglich sein. Wenn das BVerfG eine (zu) großzügige Auslegung seiner Kompetenzen vornimmt, kann es zu einem hochpotenten Vetospieler werden, der die Realisierung von Gesetzesvorhaben erschwert. Das gilt insbesondere, wenn das Gericht hohe Ansprüche an die Ermittlung der dem Gesetz zugrunde liegenden Tatsachen und die Kohärenz von Gesetzen formuliert.
Das Ergebnis wird durch diskurstheoretische Überlegungen bestätigt. Nach der Diskurstheorie (etwa: Habermas) gewährleisten der Diskurs und die (zumindest potentielle) Zustimmung aller am Diskurs Beteiligten die Richtigkeit einer Entscheidung. Die Diskurstheorie nach habermas‘scher Prägung kennt keine weiteren Anforderungen an das Verfahren, die über die sogenannte Diskursregel hinausgehen. Ist also durch die Regeln über das Gesetzgebungsverfahren im Grundgesetz gewährleistet, dass alle Beteiligten ihre Argumente ausreichend vorbringen können, so ist das Ergebnis „bindend“. Habermas hat sich insoweit (auch) in Wertungsfragen, bei denen eine Korrektur durch das BVerfG heute üblich und anerkannt ist, sehr kritisch gegenüber einer Kritik des BVerfG am Gesetzgeber geäußert (Habermas2017: S. 324 ff.). Er kritisiert den Rückgriff der Rechtsprechung auf Werte. Unklar ist, ob Habermas mit seiner Kritik die Begründung für die Rechtsprechung des BVerfG trifft. Teilweise wird auch innerhalb der Diskurstheorie argumentiert, dass der Grundrechtsschutz eines „Tatsachenwahrheitsanspruchs“ (Ekard 2004: S. 409) bedarf. Auch in diesem Fall darf der Spielraum für Kompromisse aber nicht vollständig entfallen.
Dementsprechend ist bei zusätzlichen Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren Vorsicht geboten. Insbesondere dürften diese – da das BVerfG nicht die konkrete Höhe des Bürgergelds festlegt – nicht „durch die Hintertür“ letztlich zu einer engmaschigeren Kontrolle führen, als es eine inhaltliche Grundrechtsprüfung mit sich gebracht hätte. Statistische Einzelheiten können nur dann auf die Ebene der verfassungsrechtlichen Prüfung gehoben werden, wenn die Auswirkungen auf das Ergebnis eine gewisse Schwelle überschreiten. Ob etwa die Regelsatzbemessung anhand der tatsächlichen Verbrauchsausgaben der unteren 15 Prozent oder der unteren 20 Prozent der Einkommensgruppen erfolgt, ist keine Frage, die sich aus der Verfassung beantworten lässt. Die Rechtsprechung des BVerfG geht seit 2014 (1 BvL 10/12) auch in diese Richtung, hat etwa die angesprochene Absenkung der Referenzgruppe bei der Regelbedarfsgemessen von Alleinstehenden von 20 Prozent auf 15 Prozent „gehalten“ und hat damit den vorher wohl engeren – oder zumindest enger verstandenen – Maßstab aus einer Entscheidung aus 2010 (1 BvL 1/09) relativiert. Wo die Rechtsprechung nun genau steht, werden weitere Entscheidungen zeigen müssen. In Kürze dürfte etwa die Entscheidung über die Frage anstehen, ob der Gesetzgeber die Anforderungen an eine Kürzung der Leistungen von Asylbewerbern wegen des noch nicht sicheren Aufenthalts in Deutschland erfüllt hat (1 BvL 5/21).
Eine ausführliche Version des Aufsatzes findet sich in der Zeitschrift ZfSH/SGB 2023 Heft 11.
Literatur
Ekard, F. (2004): Zukunft in Freiheit. Eine Theorie der Gerechtigkeit, der Grundrechte und der politischen Steuerung – zugleich eine Grundlegung der Nachhaltigkeit, Leipzig.
Habermas J. (2019): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 7. Auflage, Berlin.
Hönnige C./Gschwend, T. (2010): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System der BRD – ein unbekanntes Wesen? In:Politische Vierteljahresschrift 51 (2010), 507-530.
Steinbach A. (2017): Rationale Gesetzgebung, Tübingen.
Tsebelis, G. (2002): Veto Players. How pocitical institutions work, Oxfordshire.
Finn Beckmann und Johannes Greiser 2024, Streitpunkt Regelbedarfsbemessung im Bürgergeld, in: sozialpolitikblog, 29.08.2024, https://difis.org/blog/?blog=126 Zurück zur Übersicht
Finn Beckmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Berlin. Er studierte von 2014 bis 2020 Politikwissenschaft in Hannover und Marburg.
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