Die Jobgarantie von Marienthal
Die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ veranschaulicht bis heute die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit. 90 Jahre später untersuchte ein Forschungsprojekt die Auswirkungen eines umgekehrten Ereignisses, indem allen langzeitarbeitslosen Einwohner*innen ein Arbeitsplatz angeboten wurde – und sieht positive Effekte.
Ab Frühjahr 2025 wird die EU-Kommission 23 Millionen Euro zur Pilotierung von Jobgarantieprogrammen zur Verfügung stellen. Im Juni dieses Jahres wurde im U.S.-Kongress eine Gesetzesinitiative für bundesweite Jobgarantie-Pilotprojekte eingebracht. Während die Jobgarantie für die einen als Verwirklichung des Rechts auf Arbeit gilt, sehen andere darin eine unrealistische Utopie oder gar eine Bedrohung des Arbeitsmarkts angesichts steigender Arbeitskräfteknappheit. Im Rahmen eines dreijährigen Modellprojekts haben Maximilian Kasy und ich eine Feldstudie durchgeführt, um zu dokumentieren, was eine Jobgarantie leisten kann.
Wie funktioniert die Jobgarantie?
Die Marienthal Jobgarantie bot allen langzeitarbeitslosen Einwohner*innen der Gemeinde Gramatneusiedl, inklusive Ortsteil Marienthal, einen garantierten Arbeitsplatz. Über den Zeitraum von dreieinhalb Jahren konnten so Arbeitsplätze für 100 der 3.000 Einwohner*innen geschaffen werden. Initiiert wurde das Programm von Sven Hergovich, heute Mitglied der Landesregierung im österreichischen Bundesland Niederösterreich und zum Zeitpunkt der Programmumsetzung Leiter des Arbeitsmarktservice Niederösterreich, welches das Programm umsetzte. Zentrale Eckpunkte waren, dass die Teilnahme freiwillig war, die Teilnehmer*innen regulär angestellt sowie sozialversichert waren und tarifvertraglich entlohnt wurden. Den Teilnehmer*innen wurden Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigungen je nach individuellen Bedürfnissen ermöglicht. Der Garantieaspekt des Arbeitsplatzes war dabei zentral und unterschied das Programm fundamental von existierenden Beschäftigungsprojekten, die sich in der Regel an vom Arbeitsmarktservice zugewiesene Personen richten.
Bei den Arbeitsplätzen handelte es sich entweder um subventionierte Arbeitsplätze bei bestehenden Unternehmen oder – und das traf auf die Mehrheit der Teilnehmer*innen zu – um Beschäftigungen in neu geschaffenen, öffentlich-finanzierten Jobs. Die Gehälter aller Teilnehmer*innen entsprachen mindestens dem tarifvertraglichen Mindestlohn, der 2020 bei etwa 1.500 Euro pro Monat für eine Vollzeitbeschäftigung lag. Zusätzlich galt, dass netto niemand unter das jeweilige Niveau der Arbeitslosenunterstützung fallen durfte, was in manchen Fällen auch zur Einstufung in höheren Gehaltskategorien führte. Die Arbeitsplätze wurden den individuellen Bedürfnissen und Einschränkungen der Teilnehmer*innen angepasst, sodass jede Person eine für sich machbare und attraktive Tätigkeit haben sollte. Die Jobs umfassten Tätigkeiten wie die Renovierung alter Wohnungen, eine Schreinerei zur Restaurierung alter Möbel, das Anlagen eines öffentlichen Kräuter- und Gemüsegartens und die Betreuung öffentlicher Grünflächen. Einzelne Teilnehmer*innen arbeiteten in der Gebäudeverwaltung der örtlichen Schule und des Kindergartens oder in der Tierpflege eines Therapiezentrums für Kinder mit Behinderungen. Die Teilnehmer*innen entwickelten eigene Projekte, zum Beispiel die Unterstützung älterer Bewohner*innen im Alltag, eine Broschüre über den Ort und die Einrichtung eines öffentlichen digitalen Ortsarchivs, einer sogenannten Topothek.
Was hat die Jobgarantie bewirkt?
Unsere wissenschaftliche Begleitung zeigt, dass die Teilnahme große positive Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wohlergehen hatte. Das umfasste das Einkommen, wirtschaftliche Sicherheit und Beschäftigung. Das ist erwartbar, aber nicht automatisch, da die Teilnahme am Programm freiwillig war und diejenigen Personen, die die Teilnahme ablehnten, weiterhin Anspruch auf Arbeitslosengeld hatten.
Die Teilnahme führte auch zu starken positiven Auswirkungen auf die sogenannten „latenten Funktionen“ der Arbeit, die auf Marie Jahodas Arbeit zurückgehen. Dazu gehören die Zeitaufteilung im Tagesverlauf, regelmäßige Aktivität, die sozialen Kontakte und Interaktionen sowie die soziale Anerkennung und inwiefern jemand Sinn im Leben sieht. Die Teilnehmer*innen fühlten sich besser im Stande, ihren Alltag zu organisieren, sie hatten mehr soziale Kontakte, erfuhren mehr soziale Anerkennung durch ihr Umfeld und fühlten sich als wertvoller Teil der Gesellschaft. Die persönlichen Erfahrungen einiger Teilnehmer*innen und deren Lebenswandel wurden in Fernsehdokumentationen, etwa im ZDF, dokumentiert. Die positiven Auswirkungen blieben auch über einen längeren Zeitraum bestehen.
Um die Arbeitsplatzgarantie zu evaluieren, stützen wir uns im Rahmen einer randomisierte Feldstudie auf mehrere Ansätze, die uns erlauben die direkten Effekte des Programms von Spillover-Effekten auf den Arbeitsmarkt jenseits der Anspruchsberechtigten und Erwartungseffekten von Teilnehmenden zu trennen. Wir schildern dieses methodische Vorgehen in der Studie Employing the unemployed of Marienthal: Evaluation of a guaranteed job program; auf Deutsch zusammengefasst im Buchkapitel Die Marienthal-Jobgarantie 2020–2024: Wirtschaftliche und soziale Auswirkungen im Rahmen einer kontrollierten Feldstudie.
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
Im Arbeitsmarkt führte das Programm zu einer starken Verringerung der Arbeitslosigkeit auf Gemeindeebene. Dies war auf die Beseitigung der Langzeitarbeitslosigkeit in Gramatneusiedl zurückzuführen. Während die Langzeitarbeitslosigkeit in Gramatneusiedl seit Projektbeginn erheblich zurückging (orangefarbene Linie), stieg sie in den Vergleichsgemeinden (graue Linie) an. Der starke Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit war angesichts des freiwilligen Charakters des Programms nicht automatisch und somit ein wichtiges Ergebnis.
Die parallele Studie Marienthal.reversed: Wie wirkt eine Arbeitsplatzgarantie für langzeitarbeitslose Menschen im österreichischen Kontext? von Hannah Quinz und Jörg Flecker am Institut für Soziologie der Universität Wien kam zum Schluss, dass die positiven Auswirkungen des Programms davon abhingen, dass den Teilnehmer*innen Arbeit angeboten wurde, die als sinnvoll empfunden wurde, also ihrer individuellen Gesundheit und Lebenssituation Rechnung trug. Teilnehmer*innen reagierten auf unterschiedliche Weise auf den neuen Arbeitsplatz: Während einige in erster Linie dankbar für die Möglichkeit zum beruflichen Wiedereinstieg waren, stand für andere die Sprungbrettfunktion für Jobs außerhalb des Programms im Vordergrund. Wieder andere wollten die Zeit bis zur Pensionierung mit sinnvollen Tätigkeiten überbrücken.
Lehren aus dem Pilotprogramm und die politische Umsetzung
Das Projekt zeigt zum einen das Potenzial aus der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Verwaltung. Randomisierte Feldstudien - in Österreich wie Deutschland noch selten umgesetzt - unterstützen evidenzbasierte Politik. Im Fall der Marienthal Jobgarantie hat dies zu großem Interesse von Medien und internationalen Organisationen geführt.
Zum anderen stellt das Programm einen Machbarkeitsnachweis für ein modernes Jobgarantieprogramm dar. Basierend auf den Ergebnissen unserer Studie und anderer Pilotprojekte stellt die EU Kommission 23 Million Euro für Jobgarantieprojekte zur Verfügung. Der Europäische Ausschuss der Regionen geht noch weiter und hat einstimmig 750 Millionen Euro für Jobgarantieprojekte gefordert. Und der UN-Sonderberichterstatter für Armut und Menschenrechte, Olivier De Schutter, hat seinen jährlichen Bericht dem Thema gewidmet und dem UN Menschenrechtsrat eine Jobgarantie empfohlen.
In Marienthal schuf das Projekt für ganze ein bis zwei Prozent der aktiven Erwerbsbevölkerung sinnvolle Arbeitsplätze. Internationale Beispiele zeigen dabei, wie es skalierbar ist. In Frankreich wird garantierte Arbeit bereits großflächiger umgesetzt, sowohl in ländlichen als auch urbanen Regionen. Auch in Berlin findet mit dem solidarischen Grundeinkommen ein ähnliches Programm für 1.000 Teilnehmer*innen statt.
Gegen eine flächendeckende Ausrollung werden immer wieder die Kosten als Gegenargument angeführt. Dabei entstehen auch ohne Jobgarantie erhebliche Kosten für den öffentlichen Sektor, etwa durch konventionelle Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenunterstützung. Nach unserem Kostenvergleich zwischen Treatment- und Kontrollgruppe, ist zu erwarten, dass die Jobgarantie kurzfristig etwas mehr als herkömmliche Arbeitsmarktpolitik kosten dürfte; langfristig allerdings durch die verbesserte wirtschaftliche und soziale Situation ihrer Teilnehmer*innen wieder Kosten einsparen könnte. Das Programm führte zu einer Steigerung der Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik um 28 Prozent, von 1.397 EUR auf 1.785 EUR pro registrierten langzeitarbeitslosen Jobsuchendem und Monat. Dahinter liegt eine Verschiebung der Kosten von passiver zur aktiven Arbeitsmarktpolitik: während die Kosten der Arbeitslosenversicherung sinken, steigen die Kosten für Arbeitsmarktprogramme. Die Nettokosten für den Staat sind niedriger, da ein Teil der gestiegenen Ausgaben Steuern und Sozialversicherungsbeiträge für die Teilnehmenden umfasst. Dem Anstieg der Kosten steht ein gleichhoher Anstieg des Einkommens der Teilnehmer:innen gegenüber.
Ein neuer Baustein im Sozialstaat
Die Jobgarantie kann den bestehenden Sozialstaat nicht ersetzen, aber sinnvoll ergänzen. Es sollte dabei nicht erwartet werden, dass eine Jobgarantie allein Arbeitslosigkeit vollkommen beseitigen würde. Für viele arbeitslose Menschen sind existierende Angebote zur Unterstützung bei der Jobsuche, Qualifizierung und Eingliederungsbeihilfen weiterhin zentral. Von der Jobgarantie profitieren vor allem jene Menschen, die es in Arbeitslosigkeit am schwersten haben. Die Freiwilligkeit unterscheidet die Jobgarantie von vielen herkömmlichen aktiven Arbeitsmarktprogrammen, deren Teilnahme an Sozialleistungen geknüpft sind. Positive Effekte stellen sich vor allem mit sinnvoller Arbeit ein, die angemessen bezahlt und freiwillig verrichtet wird. Das folgt dem Prinzip der Marienthal Jobgarantie: „Echte“ Arbeit für einen echten Lohn.
Im österreichischen Gramatneusiedl ist die Marienthal Jobgarantie im Frühjahr 2024 zu Ende gegangen. Eine flächendeckende Ausrollung in Niederösterreich ist durch die Regierungsbeteiligung der FPÖ nach einer Landtagswahl gescheitert und jene noch im Projekt verbliebenen Teilnehmer*innen haben ihre Jobs verloren. Auf Bundesebene wurde eine Ausrollung heiß diskutiert und im aktuellen bundesweiten Nationalratswahlkampf von den Sozialdemokraten gefordert. Unabhängig davon, wie es in Österreich weiter geht, bewegt sich die Arbeitsmarktpolitik mit Projekten in inzwischen mehreren europäischen Ländern einen Schritt näher dahin, das Recht auf gute Arbeit zu verwirklichen. Gute Arbeit ist dabei nicht nur durch angemessene Löhne, sondern auch durch gute Arbeitsbedingungen, ein soziales Sicherheitsnetz und demokratische Arbeitsbeziehungen gekennzeichnet – und durch freiwillige Arbeitsaufnahme.
Lukas Lehner 2024, Die Jobgarantie von Marienthal, in: sozialpolitikblog, 24.10.2024, https://difis.org/blog/?blog=135 Zurück zur Übersicht

Lukas Lehner (PhD) ist Assistenzprofessor an der Universität Edinburgh. Sein Forschungsschwerpunkt umfasst Wirtschafts- und Sozialpolitik mit Fokus auf den Arbeitsmarkt. Er hat an der Universität Oxford promoviert und an der London School of Economics, dem Massachusetts Institute of Technology, der UC Berkeley und der Bocconi University studiert und geforscht. Zuvor arbeitete er für die OECD-Chefökonomin in Paris und die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) in Genf.