„Die Lebenswirklichkeit pflegender Angehöriger ernst nehmen“
Wer Familienmitglieder oder Freund*innen pflegt, trägt hohe finanzielle und berufliche Kosten, sagt Dr. Ulrike Ehrlich vom Deutschen Zentrum für Altersfragen. Im Interview mit sozialpolitikblog spricht sie über den Vereinbarkeitskonflikt zwischen Erwerbsarbeit und Pflege und welche Maßnahmen Pflegende in Zukunft unterstützen können.Interview: Johanna Ritter
Es wird aktuell viel über Pflegeheime berichtet. In Deutschland wird die Mehrheit der Pflegebedürftigen jedoch zuhause gepflegt, meist von Angehörigen. Wie viele Menschen pflegen ihre Familienmitglieder, Partner*innen oder Freund*innen und was ist über sie bekannt?
Ja genau, die Mehrheit der Pflegebedürftigen wird zu Hause gepflegt. Im Jahr 2021 waren circa fünf Millionen Menschen in Deutschland im Sinne des Sozialversicherungsgesetzes pflegebedürftig und erhielten Leistungen aus der Pflegeversicherung. Davon wurden 84 Prozent, also circa 4,2 Millionen Menschen, zuhause gepflegt. Wie viele An- und Zugehörige unterstützen und pflegen, ist aus dieser Zahl allerdings nicht so einfach abzuleiten. So können pflegebedürftige Personen, die zu Hause leben, durch einzelne, aber auch durch mehrere An- und Zugehörige, versorgt werden, zusammen mit oder alleinig durch ambulante Dienste. Es ist davon auszugehen, dass sehr viel mehr als die 4,2 Millionen Menschen zu Hause unterstützt oder gepflegt werden, die keine Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten und daher nicht in die Statistik einfließen. Auf Basis des Deutschen Alterssurveys haben im Winter 2020/21 17 Prozent der Befragten angegeben, dass sie Personen aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes privat oder ehrenamtlich betreuen oder pflegen oder ihnen regelmäßig Hilfe leisten. Hochgerechnet auf die Bevölkerung, die sich in der zweiten Lebenshälfte befindet, sind das in etwa 6,8 Millionen Menschen.
Was weißt du aus deiner Forschung über die Lebenssituation dieser Menschen, die zu Hause pflegen?
Ein zentrales Ergebnis ist, dass Personen, die unterstützen und pflegen mehrheitlich im erwerbsfähigen Alter sind. Tatsächlich steigt der Anteil der Pflegenden, die Erwerbsarbeit und Pflege zuhause vereinbaren müssen. Um die Jahrtausendwende lag die Erwerbsbeteiligung pflegender Frauen in etwa bei 50 Prozent, die der pflegenden Männer bei 60 Prozent. Aktuell sind in etwa 70 Prozent der Unterstützungs- und Pflegepersonen, Frauen wie Männer, erwerbstätig.
Wie sieht es mit dem Geschlechterverhältnis bei den familiär Pflegenden aus?
Wenig überraschend existiert ein Gender Care Gap auch in der Angehörigenpflege. Etwa 60 Prozent der Pflegenden sind Frauen, 40 Prozent Männer. Frauen pflegen aber nicht nur häufiger als Männer, sie tun dies auch in einem höheren zeitlichen Umfang und auch über einen längeren Zeitraum.
Was ändert sich im Leben, wenn Menschen anfangen, An- oder Zugehörige zu pflegen?
Ich forsche vor allen Dingen zu der Frage, ob Unterstützungs- und Pflegetätigkeiten mit einer Erwerbstätigkeit vereinbar sind. Die Erwerbsbeteiligung von pflegenden Angehörigen liegt noch immer unterhalb der Erwerbsbeteiligung von Personen, die nicht unterstützen und pflegen. Das deutet auf einen Vereinbarkeitskonflikt hin. In meiner Forschung konnte ich zeigen, dass in Vollzeit beschäftigte Frauen, die bis zu zwei Stunden an einem Werktag pflegen, eher in eine Teilzeitbeschäftigung wechseln als Frauen, die nicht pflegen. In Vollzeit als auch in Teilzeit beschäftigte Frauen, die drei und mehr Stunden an einem Werktag pflegen, tendieren dazu ihre Erwerbstätigkeit zu unterbrechen oder ganz aufzugeben. Pflege in einem geringen zeitlichen Umfang ist also am ehesten mit einer Teilzeitbeschäftigung vereinbar, Pflege in einem hohen zeitlichen Umfang ist kaum mit irgendeiner Form von Erwerbsarbeit vereinbar. In meiner Forschung habe ich allerdings auch herausgefunden, dass insbesondere pflegende Frauen aus Haushalten mit hohen Einkommen und pflegende Frauen, die verheiratet sind, ihr Erwerbsverhalten eher verändern, also weniger oder gar nicht arbeiten. Das spricht dafür, dass der finanzielle Hintergrund als auch die soziale Absicherung über eine Ehe entscheidend sind, um den Vereinbarkeitskonflikt zu reduzieren oder aufzulösen.
Mit welchen Konsequenzen?
Die Folgen sind finanzielle und berufliche Kosten für die Pflegenden: Einkommenseinbußen, geringeren Karrierechancen und einer geringeren Rente. Darüber hinaus können sich finanzielle Abhängigkeitsverhältnisse auf Haushalts- oder Paarebene verstärken. Diejenigen, die den Vereinbarkeitskonflikt nicht reduzieren oder auflösen können, zum Beispiel Personen aus niedrigeren Einkommensgruppen, müssen mit gesundheitlichen Kosten infolge der Doppelbelastung rechnen.
Du hast mit deinen Kolleginnen auch zum Thema Wohlbefinden von Pflegenden geforscht. Wie geht es denn pflegenden An- und Zugehörigen?
Wir haben analysiert, welchen Einfluss die Corona-Pandemie auf das Wohlbefinden von Pflegenden hatte. Der Anteil von pflegenden Angehörigen, insbesondere Frauen, mit depressiven Symptomen oder mit Einsamkeitsgefühlen hat in der ersten Pandemiewelle zugenommen. In der zweiten Pandemiewelle, also im Winter 2020/21, sind die Anteile wieder auf das Niveau von vor der Pandemie zurückgegangen. Das könnte einerseits darauf zurückzuführen sein, dass Unterstützungsnetzwerke in der zweiten Pandemiewelle wieder ähnlich zum Einsatz kommen konnten wie vor der Pandemie. Oder es ist ein Gewöhnungseffekt an die pandemische Situation eingetreten.
Wozu mangelt es noch an Daten? Was wissen wir nicht über die Situation der familiär Pflegenden?
Mit dem Deutschen Alterssurvey ist bereits eine gute Datenbasis vorhanden. Seit der ersten Befragungswelle im Jahr 1996 werden unterstützende und pflegende Personen erfasst. Für mehrere Befragungswellen wissen wir nun bereits, wer wen unterstützt und pflegt und wie intensiv. Wir erfassen, ob die hilfe- oder pflegebedürftige Person, die unterstützt wird, Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommt und ob sich die pflegende Person durch die Pflegesituation belastet fühlt. Wir versuchen stetig, die Datenlage über die Situation der Pflegenden zu verbessern. Neuerdings erfassen wir, ob die Person, die gepflegt wird, an Demenz erkrankt ist. Darüber hinaus fragen wir danach, ob gesetzliche Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf in Anspruch genommen werden und falls nein, warum nicht. Außerdem erfassen wir künftig, ob und welches Unterstützungsnetzwerk die Pflegenden haben. Also, wer noch in die Unterstützung und Pflege mit einbezogen wird: Andere Familienmitglieder, ambulante Dienste oder eine 24-Stunden-Pflegekraft?
Welche Maßnahmen sollen pflegende Angehörige aktuell unterstützen?
Um zum Beispiel Pflege und Beruf besser zu vereinbaren, werden oftmals die Pflegezeit und die Familienpflegezeit als unterstützende Maßnahmen genannt. Beide Maßnahmen sollen es erwerbstätigen pflegenden Angehörigen ermöglichen, sich für bis zu zwei Jahre gänzlich oder teilweise von der Erwerbsarbeit freistellen zu lassen, um zu pflegen. Diese Maßnahmen werden aber kaum in Anspruch genommen. Wir haben zum Beispiel auf Basis der Daten des Deutschen Alterssurveys herausgefunden, dass im Winter 2020/21 nur ein Prozent der pflegenden Angehörigen die Pflegezeit in Anspruch genommen hat. Die Familienpflegezeit nahm niemand in Anspruch. Beide Maßnahmen können auch mit einem zinslosen Darlehen gekoppelt werden, das den hälftigen Verdienstausfall kompensiert. Zwischen 2015 und 2019 haben aber nur ungefähr 920 Menschen dieses zinslose Darlehen erhalten. Die derzeitigen Regelungen scheinen also nicht den Bedürfnissen der erwerbstätigen pflegenden Angehörigen zu entsprechen. Da gibt es noch einiges zu tun.
Was wären denn dann wirkungsvollere Maßnahmen, um pflegende An- und Zugehörige zu unterstützen?
Zunächst sollte die maximale Dauer, die eine Pflegezeit oder Familienpflegezeit in Anspruch genommen werden können, überdacht werden. Personen, die im Jahr 2019 im Sinne des Sozialversicherungsgesetzes pflegebedürftig geworden sind, sind dies im Durchschnitt für sechs Jahre. Die Pflegezeit und die Familienpflegezeit sind aber zusammen auf maximal zwei Jahre angelegt. Das entspricht also nicht der Lebenswirklichkeit vieler pflegender Angehöriger. Im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP wurde eine Entgeltersatzleistung, ähnlich wie das Elterngeld, vereinbart. Eine solche Leistung kann eher eine finanzielle Stabilität garantieren als das aktuell gewährte zinslose Darlehen. Dann könnten sich eventuell auch mehr pflegende Angehörige aus unteren Einkommensgruppen leisten, den Vereinbarkeitskonflikt zu reduzieren.
Wir befinden uns mitten in einem demografischen Wandel, in dem immer mehr Menschen Pflege benötigen, andererseits aber weniger junge Menschen da sind, um diese Pflege zu leisten. Was heißt das für die Zukunft der familiären Pflege?
Die familiäre Pflege ist bereits unter Druck und sie wird es in Zukunft noch viel stärker sein. Mit der raschen Alterung der Gesellschaft wird der Bedarf an Gesundheits- und Pflegedienstleistungen stark zunehmen. So wie die Pflegeversicherung aktuell ausgestaltet ist und so wie es um den professionellen Pflegesektor bestellt ist, wird die Familie weiterhin die zentrale Unterstützungssäule bleiben. An- und Zugehörige sind aber auch als Erwerbstätige gefordert. Um den Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel entgegenzuwirken und um das beitragsbasierten Rentenversicherungssystem aufrecht zu erhalten, sollen immer mehr Menschen, insbesondere Frauen, in Vollzeit arbeiten. Doch wie soll das gehen? Eine gute Pflege leisten, damit es den Lieben bestmöglich gut geht und gleichzeitig noch die Wirtschaft und das Rentensystem aufrechterhalten? Und dabei auch noch gesund bleiben?
Welche Ansätze gibt es denn, die Lösungen aufzeigen?
Eine Möglichkeit, um die Situation zu verbessern, wäre, Pflegeaufgaben gerechter zwischen Frauen und Männern zu verteilen. Männer müssten häufiger und intensiver Pflegeaufgaben übernehmen, um Frauen zu entlasten. Denn die beruflichen, finanziellen und gesundheitlichen Konsequenzen der Pflege tragen mehrheitlich die Frauen. Darüber hinaus ist es unerlässlich, sowohl die Pflegezeit als auch die Familienpflegezeit weiterzuentwickeln, einschließlich der finanziellen Absicherung während dieser Zeiten. Um pflegende Angehörige zu entlasten und um sie bei der Vereinbarkeit zu unterstützen, müsste aber auch das Angebot an professionellen Pflegedienstleistungen ausgeweitet werden – in Zeiten des anhaltenden Pflegenotstandes aber doch eher unwahrscheinlich. Wir müssen Fürsorgetätigkeiten und Erwerbsarbeit stärker zusammen denken: Alternative Arbeitszeitmodelle könnten das ermöglichen, zum Beispiel die 32-Stunden-Woche für Männer und Frauen.
Ulrike Ehrlich 2023, „Die Lebenswirklichkeit pflegender Angehöriger ernst nehmen“, in: sozialpolitikblog, 12.10.2023, https://difis.org/blog/?blog=81 Zurück zur Übersicht
Dr. Ulrike Ehrlich ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA). In ihrer Forschung beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit der Frage welche Konsequenzen die Übernahme von familiären Pflegetätigkeiten auf das Erwerbsleben, den Lohn, die Rente oder das Wohlbefinden hat.
Bildnachweis: DZA/Christoph Soeder