Intersektionale Sozialpolitik? Eine überfällige Perspektiverweiterung
Der Sozialstaat fängt soziale Ungleichheiten nicht nur ab, sondern bringt auch selbst welche hervor. Während feministische Perspektiven auf genderbezogene Ungleichheiten längst Teil sozialpolitischer Debatten und Analysen sind, steht ein intersektionaler Blick auf Sozialpolitik in Deutschland noch am Anfang. Ein Plädoyer für mehr Komplexität und Diversität.
Das Verhältnis von Sozialpolitik und sozialer Ungleichheiten ist seit jeher widersprüchlich (EspingAndersen 1990, S. 23). Einerseits steht historisch betrachtet die Etablierung sozialer Sicherungssysteme und sozialer Arbeit im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ziel, soziale Risiken abzufedern. So soll beispielsweise das Rentensystem vormals erwerbstätigen Menschen ein Einkommen im Alter sichern. Das Risiko aufgrund altersbedingter Krankheiten nicht mehr erwerbsfähig zu sein und ohne Einkommen auskommen zu müssen, wird so aufgefangen. Andererseits stellt der Sozialstaat selbst aktiv soziale Ungleichheiten her, indem etwa die Rentenhöhe sich an der Höhe des vorherigen Erwerbseinkommens und der Dauer der Erwerbsjahre orientiert – soziale Ungleichheiten am Arbeitsmarkt werden in die altersbedingte Ruhestandsphase fortgeschrieben, nicht ausgeglichen. In den frühen wissenschaftlichen Debatten um Sozialstaatlichkeit werden soziale Ungleichheiten primär als klassenbezogene Unterschiede im Einkommen und beruflicher Stellung verstanden, die zu schlechteren (materiellen) Lebensumständen führen.
Aus feministischer Perspektive ergeben sich soziale Ungleichheiten in Sozialstaaten aus genderbezogenen Aspekten, etwa aus der noch immer bestehenden Tatsache, dass Frauen verstärkt unbezahlte Sorgearbeit für Kinder, Pflegebedürftige und Alte übernehmen. Dies verunmöglicht oder erschwert ihren Zugang zum Arbeitsmarkt, insbesondere zu Normalarbeitsverhältnissen, das heißt unbefristete, sozialversicherungspflichtige Vollzeittätigkeiten mit betrieblicher Interessensvertretung – was zu einer schlechteren sozialen Absicherung führt. Die Arbeiten feministischer Wohlfahrtsstaatsforscherinnen zeigen, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit die historische Entwicklung von Sozialstaaten in ihrer heutigen Form erst ermöglichte (Lewis 1992). Nicht nur das Verständnis sozialer Ungleichheiten entwickelte sich daraufhin weiter, sondern auch die soziale Absicherung von Sorgearbeitenden, etwa durch die Einführung von Rentenansprüchen im Rahmen von Kindererziehungszeiten. Existenzsichernd sind diese oder andere auf Sorgearbeit bezogenen Leistungen allerdings kaum.
Was bedeutet Intersektionalität?
Eine intersektionale Perspektive stellt die Frage nach sozialen Ungleichheiten grundlegend anders. Sie fragt nach systematischen Ausschlüssen, Zugehörigkeiten und Beteiligungen aufgrund des Zusammenspiels sozialer Kategorien wie Gender, race und Klasse auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. Zur Analyse von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen werden soziale Kategorien also nicht eindimensional, sondern in ihrer Verwobenheit betrachtet. Den Begriff Intersektionalität (abgeleitet vom englischen Begriff intersection = Kreuzung) prägte die U.S.-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw in ihrer Analyse der damaligen Antidiskriminierungsgesetze in den USA. Sie zeigte die spezifische Diskriminierung Schwarzer Frauen gegenüber weißen Frauen und Schwarzen Männern auf – für eine Erläuterung der hier verwendeten Begrifflichkeiten siehe das Glossar des Dachverbandes der Migrantinnenorganisation DaMigra (Mascolo et al. 2022). Klagen vor Gericht gegen Diskriminierung waren damals nur in Bezug auf ein Merkmal möglich, entweder des Geschlechts oder von race. Schwarze Frauen waren insofern durch die Gesetze nicht vor der spezifischen Diskriminierung geschützt, die sie erfuhren (Crenshaw 1989). Intersektionale Ansätze sind eng mit der langen Theoriengeschichte des schwarzen Feminismus verknüpft (Kelly 2022).
In Deutschland hielten intersektionale Perspektiven in den 1980er Jahren in die Geschlechterforschung Einzug als Kritik am mehrheitsweißen bürgerlichen Feminismus, der allein die strukturellen Ausschlüsse von weißen, sesshaften Frauen der Mittelschicht benannte. Migrantinnen, Schwarze Deutsche, jüdische Frauen und Frauen mit Behinderungen kamen als Personen und mit ihren Kämpfen nicht vor (Walgenbach 2012), obgleich diese von Beginn an sozialpolitisch relevante Themen benannten: die aktive Anwerbung von weiblichen ‚Gast’arbeiterinnen für Vollzeitstellen in der Nachkriegsindustrie der damaligen Bundesrepublik Deutschland, die Folgen eines vom Ehepartner abhängigen Aufenthaltstitels oder die Beschäftigung von Migrantinnen in westlichen Haushalten zur Übernahme von Sorgearbeiten. Intersektionale Perspektiven auf Sozialpolitiken erweitern insofern den Blick auf Deutschlands Historie als Kolonialmacht, postnationalsozialistisches sowie in Teilen -sozialistisches und zugleich stetiges Einwanderungsland und fragt nach den Ausschlüssen durch sozialpolitische Diskurse, Politiken und behördlichen Praxen.
Aus intersektionaler Perspektive ließe sich darüber hinaus die geringe Beteiligung von Black, Indigineous, Person of Color (BIPoC) als Sozialpolitiker*innen in Parlamenten und weiteren politischen Entscheidungsgremien, Wohlfahrtsverbänden und Behörden kritisieren.
Deutlich voraus: internationale Forschung zu Intersektionalität und Sozialpolitik
Im angelsächsischen Raum werden intersektionale Perspektiven bereits seit Anfang der 1990er Jahre mit Sozialpolitikforschung verknüpft (Williams 1995; Ginsburg 1992). Gemeinsamer Kritikpunkt an den bestehenden (international vergleichenden) Wohlfahrtsstaatsanalysen zu Klasse und Gender war die Ausblendung der Bedeutung von race, Ethnizität und Migration für die Herausbildung von Sozialstaaten. Wohlfahrtstaatsanalysen begreifen den Sozialstaat implizit als national verfasstes Gebilde mit einer – bezogen auf Kultur, race, Ethnie und Sprache – homogenen Gesellschaft innerhalb geografisch festgelegter Grenzen (Williams 1995, S. 138). So lässt sich an der feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung kritisieren, dass die Arbeitskraft von Frauen of Colour schon immer am Arbeitsmarkt ausgebeutet wurde. Frühe sowie gegenwärtige intersektionale Analysen von Sozialstaaten betonen daher die Existenz rassistischer Kontinuitäten sowie die Verwobenheiten von race mit Gender, Klasse und weiteren sozialen Kategorien (Centre for Contemporary Cultural Studies 1982; Perocco 2022). Andere intersektionale Analysen von Sozialpolitiken nehmen globale Krisen (Williams 2021) zum Ausgangspunkt. Derart lässt sich etwa das Zusammenspiel von Sorgearbeit, nationalstaatlichen Grenzziehungsprozessen, widersprüchlichen Migrationspolitiken sowie ökonomischen Diskursen zwischen finanzpolitischen Sparmaßnahmen und Fachkräftemangel kritisch analysieren.
Die deutsche Forschungslandschaft steckt diesbezüglich noch in den Kinderschuhen. Zwar zeigt sich seit den 2000er Jahren eine zunehmende Verknüpfung der sozialen Kategorien Gender und Klasse – so entspann sich die Kritik an der Reformierung des Elterngeldes daran, dass primär hochqualifizerte und beruflich erfolgreiche Frauen von einer Entgeltersatzleistung profitieren, während Mütter im SGB II-Bezug von der Leistung gänzlich ausgeschlossen bleiben (Auth et al. 2010) –, eine systematische Berücksichtigung der Verwobenheit mit race und Migration geschieht jedoch nur am Rande, häufig aus anderen Disziplinen wie der der Geschlechterforschung, Ethnologie, Rassismus- oder kritischen Migrationsforschung heraus.
Zu erforschen wäre etwa, durch welche öffentlichen Debatten aktuelle staatliche Anwerbestrategien von Pflegefachkräften in Brasilien oder den Philippinen begleitet werden, welche neuen Einreise- und Berufsanerkennungspolitiken diese nach sich ziehen, welche neuen Akteur*innen im Feld transnationaler Arbeitsmärkte entstehen oder wie sich der berufliche und familiäre Alltag einer solchen Fachkraft zwischen Deutschland und dem Herkunftsland gestaltet. Auch ein Vergleich mit früheren Einwanderungsphasen in den Gesundheitssektor, etwa durch Krankenschwestern aus Indien (Goel 2023) wäre erkenntnisgewinnend. Wenig ist zudem darüber bekannt, wie sich die Geschlechterverhältnisse in von Rassismus betroffenen Familien gestalten oder welchen Einfluss rassistische Zuschreibungen am Arbeitsmarkt, im Gesundheitssystem oder in Kindergärten haben – ganz gleich, ob diese Personen oder Familien nun eingewandert sind oder deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Auf diese Weise werden Brüche und Kontinuitäten in den Diskursen, Politiken und Praktiken sichtbar, die weit verbreitete Annahmen in Politik und Forschung in Frage stellen.
Sozialpolitikforschende können hier mit ihrem Wissen wichtige Beiträge leisten. Dass dies noch zu wenig geschieht, liegt sicherlich auch daran, dass Sozialpolitikforschende selbst – wie in anderen Wissenschaftsdisziplinen – wenig divers sind. Eine stärkere Verknüpfung zwischen Wissenschaft und Aktivist*innen wie DaMigra oder #ichbinarmutsbetroffen wäre daher wichtig, um eigene blinde Flecken aufgezeigt zu bekommen und die vom Forschungsthema Betroffenen als Expert*innen ihrer selbst an Prozessen und Entscheidungen im Sinne eines Powersharings zu beteiligen.
Komplex, komplexer, intersektional? Herausforderungen und Fallstricke
Es ist jedoch kein Zufall, dass intersektionale Analysen zu Sozialpolitik (noch) wenig Anwendung finden. Das Konzept ist komplex und zugleich vage (Nash 2008). Innerhalb der Bedeutung sozialer Kategorien und der Relevanz unterschiedlicher gesellschaftlicher Ebenen für Machtverhältnisse und soziale Ungleichheiten kann man sich schnell verlieren. Klarer definierte intersektionale Methodologien bilden sich zudem erst allmählich aus und empfehlen beispielsweise eine Definition der zu untersuchenden Kategorien aus dem Forschungsfeld heraus, die analytische Trennung verschiedener Ebenen von Machtverhältnissen (etwa Repräsentationen, Strukturen und Identitäten), eine verstetigte Selbstreflexion in allen Etappen des Forschungsprozesses sowie die Anwendung partizipativer Forschung. Auch innerhalb der quantitativen Forschung ist eine Debatte im Gange (Gross und Goldan 2023). Gleichwohl existieren bereits wissenschaftliche wie politische Akteur*innen, von deren Analysen und Wissen sich lernen lässt. Zu nennen wären etwa das Center for Intersectional Justice mit Sitz in Berlin oder das Canadian Research Institute for the Advancement of Women.
Für Sozialpolitiken, die intersektionale Ungleichheiten adressieren, brauchen wir intersektionale Sozialpolitikanalysen zu der Verwobenheit von Ungleichheiten aber auch von Privilegien, ein Bewusstsein dafür, welche Fragen, Themen und Personen durch die eigene Forschung ausgeschlossen bleiben sowie mehr Diversität unter Forschenden. Wer forscht, mit Blick auf welche Probleme, zu welchen sozialpolitischen Adressat*innen? Eine solche Perspektiverweiterung ist meines Erachtens unausweichlich.
Literatur
Auth, Diana; Buchholz, Eva; Janczyk, Stefanie (Hg.) (2010). Selektive Emanzipation. Analysen zur Gleichstellungs- und Familienpolitik. Opladen: Budrich (Politik und Geschlecht, 21). Online verfügbar unter http://www.socialnet.de/rezensionen/isbn.php?isbn=978-3-86649-254-7.
Centre for Contemporary Cultural Studies (Hg.) (1982). Empire strikes back. Race and Racism in 70's Britain. University of Birmingham. London: Routledge.
Crenshaw, Kimberlé W. (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University of Chicago Legal Forum, S. 139–167.
Esping Andersen, Gøsta (1990). The three worlds of welfare capitalism. Campridge: Polity Presse.
Ginsburg, Norman (1992). Divisions of Welfare: A Critical Introduction to Comparative Social Policy. London: Sage Publications.
Goel, Urmila (2023). Recruiting Nurses from Kerala: On Gender, Racism, and the Nursing Profession in West Germany. In: Christa Wichterich und Maya John (Hg.): Who Cares?: Care Extraction and the Struggles of Indian Health Workers. New Delhi: Zubaan, S. 247–266.
Gross, Christiane; Goldan, Lea (2023). Modelling Intersectionality within Quantitative Research. In: sozialpolitik.ch (1/2023). DOI: 10.18753/2297-8224-4025.
Kelly, Natasha A. (Hg.) (2022). Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. 2. Auflage 2022. Münster: UNRAST.
Lewis, Jane (1992). Gender and the Development of Welfare Regimes. In: Journal of European Social Policy 2 (3), S. 159–173. DOI: 10.1177/095892879200200301.
Mascolo, Mara; Burdorf-Sick, Lisa; Panteleeva, Neko (2022). Ein kleines Glossar der komplizierten Begriffe. Hg. v. DaMigra e.V. Berlin.
Nash, Jennifer C. (2008). Re-thinking intersectionality. In: Feminist Review 89, S. 1–15.
Perocco, Fabio (Hg.) (2022). Racism in and for the Welfare State. Cham: Springer International Publishing.
Walgenbach, Katharina (2012). Intersektionalität - eine Einführung. Portal Intersektionalität. Online verfügbar unter http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/schluesseltexte/walgenbach-einfuehrung/, zuletzt geprüft am 12.07.2016.
Williams, Fiona (1995). Race/Ethnicity, Gender, and Class in Welfare States: A Framework for Comparative Analysis. In: Social Politics 2 (2), S. 127–159.
Williams, Fiona (2021). Social policy. A critical and intersectional analysis. Cambridge, UK, Medford, MA, USA: Polity.
Katrin Menke 2023, Intersektionale Sozialpolitik? Eine überfällige Perspektiverweiterung, in: sozialpolitikblog, 30.11.2023, https://difis.org/blog/?blog=88 Zurück zur Übersicht
Dr. Katrin Menke ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Soziologie – Transnationalisierung, Migration und Arbeit an der Ruhr-Universität Bochum. Zuvor war Sie Mitglied in der Forschungsgruppe "Migration und Sozialpolitik" am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, die Teil des Fördernetzwerk Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (FIS) war. Sie forscht, schreibt und lehrt schwerpunktmäßig zu Sozialstaatlichkeit im Wandel im Bereich Arbeit, Migration und Gender, intersektionalen Ungleichheiten sowie qualitativer Sozialforschung.
Bildnachweis: Oliver Wykrota